Die Briten als Avantgarde einer besonderen Art

Der Inselstaat übernimmt zusehends eine Vorreiterrolle in Sachen angewandter Überwachungstechnologie

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Die britischen Behörden haben ihren Landsmann George Orwell offensichtlich ganz genau gelesen - und beim Wort genommen. Zuerst wurden hunderttausende öffentliche Überwachungskameras installiert. Dann sollten Provider zur Einrichtung einer Blackbox mit Direktleitung zum heimischen Geheimdienst verpflichtet werden. Jetzt eröffnet auch noch das britische Sozialministerium die virtuelle Jagd auf "Sozialhilfebetrüger" mittels Email-Denunziation. Bürgerrechtler und Freidenker in Netzfragen kommen mit dem Schreiben von Protestnoten kaum nach. Während am europäischen Festland die Regierungen bemüht sind, Bürgernähe mit serviceorientierten Websites zu demonstrieren, verschleiern die britischen Behörden ihre wirklichen Absichten erst gar nicht.

Der Inselstaat gerät beinahe wöchentlich mit problematischen Gesetzesvorhaben oder Internetkampagnen in die Schlagzeilen. Jüngster Streich: Targeting Fraud. Auf einer eigens eingerichteten Webpage mit Fadenkreuz als Leitsymbol werden die Bürger aufgefordert, Sozialmissbrauch zu melden. Ein Online-Formular soll das digitale Verpetzen erleichtern. Schlechtem Gewissen beugen scharfe Texte vor: "Jedes Jahr verschlingt Sozialmissbrauch über zwei Billionen Pfund - gestohlene Sozialleistungen - Geld, das man besser für Schulen, Spitäler und den Kampf gegen Kriminalität verwenden könnte", heißt es auf Targeting Fraud. "Wir brauchen Ihre Hilfe. Mehr als 4000 Anrufe treffen wöchentlich auf unserer Hotline ein. Aber es gibt einen einfacheren Weg, uns einen Hinweis auf einen potenziellen Fall von Sozialmissbrauch zu geben. Über diese Website können Sie uns direkt Verdächtige via Email melden."

Die Engländer sind weltweit führend, wenn es darum geht, High-Tech zum Ausspionieren ihrer Bürger zu nutzen, wettern Bürgerrechtsgruppen. Ihr Zorn richtet sich auch gegen ein geplantes Gesetz, das inzwischen bereits in die zweite Lesung geht und kommenden Donnerstag vom House of Lords abgesegnet werden könnte. Die "Regulation of Investigatory Powers (RIP)"- Bill zwingt Internet-Provider, black boxes in ihren Datenzentren einzurichten, die direkt mit einem MI5 Monotoring Center des Inlandgeheimdienstes in London verbunden sind. Koloportierter Kostenpunkt: 25 Millionen Pfund.

Email-Überwachung ohne Gerichtsbeschluss

Caspar Bowden von der Foundation for Information Policy Research, kritisierte gegenüber BBC, dass dieses Gesetz die Polizei mit weitgreifenden Rechten zur Beobachtung von Privatpersonen ausstatten würde. Letztlich könnten die Surfgewohnheiten jedes Einzelnen überprüft werden. Ähnlich ablehnend auf ein derartiges Polizeiermächtigungsgesetz reagierte auch die Datenschutzkommission. Die Möglichkeit, ohne Gerichtsbeschluss Personen zu überwachen, jagt kritischen Gruppen kalte Schauer über den Rücken.

Noch 1999 hatten sie die Attacken auf die Privatsphäre mit einer großen Portion Galgenhumor genommen. Im Herbst vergab Privacy International in der ehrwürdigen Londoner School of Economics den Big Brother Award (UK Big Brother Awards 1999). Den ersten Preis erhielt damals das Home Office, insbesondere für den Neuentwurf der "Interception of Communications Act" (etwa vergleichbar der Telekommunikations-Überwachungsverordnung). Preise erhielten zudem die Verantwortlichen für den Ausbau der Überwachungstechnologie. Inzwischen sind etwa eine halbe Million Kameras im öffentlichen Raum installiert. Ebenfalls in Großbritannien ging erst vor wenigen Wochen das weltweit fortschrittlichste automatische Identifikationssystem für Fingerabdrücke ans Netz. 8 Millionen Menschen sind damit anhand ihrer Körperdaten erfasst und registriert. Sobald die Biometrie, als ultima ratio der Verbrechensbekämpfung, ins wirkliche Leben vorgedrungen ist, wird man ihre Bewegungen nahezu in Echtzeit kontrollieren können, befürchten Kritiker und jubeln Befürworter.