Die Chatbot-Revolution könnte auch in Deutschland politische Folgen erzeugen

Seite 2: Deutschlands politische Zukunft im Zeitalter der KI

Das ist derzeit noch weitgehend offen. Ebenso unausgemacht ist, welche Rolle Chatbot-Technologien im Reigen der wichtigsten Veränderungs- und Zukunftstechnologien der kommenden Jahre spielen werden – und was das alles für Deutschlands aktuell delikate und auf Balance und Augenmaß angewiesene politische Landschaft der kommenden Jahre bedeutet.

Wird es bereits bei den nächsten Landtags- und Bundestagswahlen auch hierzulande KI-Chatbot-Kandidaten geben, etwa auf Basis von ChatGPT 5 oder 6 – sei es dann aus Protest gegen die politischen Parteien oder als ernsthaften "Verbesserungsversuch" von öffentlichen Prozess- und Entscheidungsqualitäten?

Werden langfristig auch in Deutschland menschliche Kandidaten allmählich durch Chatbots ergänzt oder in der hinter ihnen stehenden Intelligenz "aufgerüstet"? Und: Was würden solche Entwicklungen für die höchst sensible Autonomieregelung der Bundesländer mit ihren vielen dynamischen Teilbereichen und ständigen Verhandlungskommissionen im Spannungsfeld zwischen regionalen, staatlichen und europäischen Behörden bedeuten?

Sicher ist: Auch in Deutschland ist die Unzufriedenheit mit dem Parteiensystem in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen. Das hat zur Fragmentierung der Politiklandschaft geführt. Die Antwort lautet für viele: eine stärkere Rolle "neutraler", also indirekt "integrierender" KI und Chatbots.

Fakt ist auch: Je stärker KI mittels umfassender Datenintegration in die politische Entscheidungsvorbereitung eingebunden wird, desto größer wird – schrittweise von unten nach oben – ihr politischer Einfluss werden. Und das bedeutet: Ein Bürgermeister, Stadt- oder Bundespolitiker im Jahr 2030 wird sich sehr gut vorbereiten müssen, um bei der Entscheidung, ob eine Straße gebaut oder Bäume gefällt werden, gegen die KI-Empfehlung zu entscheiden.

Denn sie oder er kann niemals so viele Daten und Informationen in so kurzer Zeit einbeziehen, integrieren und berücksichtigen wie die KI, muss also immer hinter ihr her sein. Womit wir faktisch bereits ein gemischtes Mensch-Technik-Politik-System hätten, wenn nicht gar eines mit einer stärkeren Bedeutung von Technik.

Chancen und Risiken: KI in der deutschen Politiklandschaft

Doch gegen diese Zukunftsvision gibt es auch starke Gegenindikationen. Bislang weisen KI-Chatbots "Halluzinationen" auf: sie schließen vom Einzelnen falsch auf Ganzheiten und schlagen in der Folge absurde Entscheidungen vor. Das rechtfertigt die anhaltende Skepsis einer deutlichen Wählermehrheit in Demokratien gegen die soziale und politische Bedeutungszunahme von KI-Chatbots.

In Deutschland könnten ausgleichende Kompromisslösungen und zentrumsfreundliche Positionen mittels systematischer Fütterung der Chatbots durch radikale Positionen (etwa nach dem Vorbild des Vorgehens der Iraner in den USA) untergraben – und insgesamt also eher angreifbarer als stabiler werden.

Die Lösung der Misere könnte von überraschender Seite kommen. Nach anfänglicher Überzeugung, dass KI und insbesondere Chatbots wie ChatGPT die wichtigsten Veränderungskräfte der kommenden Jahrzehnte sein könnten, wobei einige Beobachter behaupteten, dass dies sogar in Bezug auf die Menschheitsgeschichte insgesamt der Fall sein könnte, begannen sich ab 2024 die Urteile zu differenzieren.

Allmählich findet eine Scheidung der Geister über das künftige Verhältnis zwischen künstlicher und menschlicher Intelligenz statt. Die meisten Beobachter sind sich inzwischen einig, dass es keine einfache Hierarchie zwischen den beiden geben wird, sondern dass beide in ihren eigenen Bereichen relevant bleiben.

Die Zukunft der Mensch-Maschine-Koexistenz in der Politik

Die größte Herausforderung in der Zukunft wird also ihre Koexistenz sein. Diese sollte so abgestimmt und ko-kreativ wie möglich sein, aber nicht zu einer Verschmelzung oder Fusion führen, welche bewusst und vielleicht auch durch rechtliche Maßnahmen vermieden werden muss.

Das heißt: Im Gegensatz zu anderen Bereichen gegenwärtigen Wandels scheint auf dem sich rasch entwickelnden Gebiet der "Mensch-Maschine-Koexistenz" Differenzierung und Plurilinearität besser zu sein als einfache Integration. Insbesondere der Bereich des "gesunden Menschenverstandes", d. h. das wichtigste Merkmal für die Praxis der Intelligenz und, was entscheidend ist, für ihre Selbstbeobachtung sowohl während ihres Geschehens – in actu – als auch hinterher – post factum –, könnte fest in menschlicher Hand bleiben.

Zumindest dann, wenn es nach Experten wie Una-May O'Reilly vom Massachusetts Institute of Technologe (MIT) geht, die behauptet, dass Chatbots auch in Zukunft nicht sinnvoll sind, um wichtige menschliche Angelegenheiten zu regeln.

Und das bedeutet im Ausblick?

Wenn O’Reilly ausführt, KI-Sprachmodelle seien grundsätzlich ungeeignet dafür, menschliche Intelligenz nachzuahmen, weil sie hauptsächlich eines: den "gesunden Menschenverstand" (common sense) nicht erreichen, dann sollte auch in Deutschland und Europa die Entwicklung in Richtung einer allzu umfassenden "KI-isierung" von Politik zurückhaltend und kritisch begleitet werden.

Dies nicht zuletzt, um bisher sinnvolle und erfolgreiche Verfahren der Selbstgestaltung von Gemeinschaften auch in den sicher kommenden Technik-Revolutionen – zu denen neben immer mehr und besseren Chatbots auch der Aufstieg der Dezentralisierungs-Technologie Blockchain sowie das Quantencomputing gehören – vor größeren Brüchen zu schützen.

Roland Benedikter ist Politikwissenschaftler und Soziologe bei Eurac Research in Bozen.