Durchbrüche in der Wissenschaft: Wie wir dem ewigen Leben näherkommen
Eigentliche Kulturrevolution womöglich am menschlichen Körper. Doch ist das überhaupt ratsam? Ein Essay zu wissenschaftlichen Durchbrüchen.
Menschen waren in ihrer gesamten Geschichte "die Sterblichen". Auf Vergänglichkeit beruhen alle Kulturen und Religionen, der Humanismus und die menschliche Realitätserfahrung in Raum und Zeit. Das "Memento mori" war über Jahrtausende der Inbegriff der Beziehung des Menschen zu sich selbst und zum Ganzen von Sinn und Sein.
Das soll sich nun allmählich ändern. Im Juli wurde von Wissenschaftlern des Imperial College London in der Zeitschrift Nature bekannt gegeben, dass bei Mäusen ein neuartiges Anti-Alterungsserum die Lebenszeit um 25 Prozent verlängert – bei größerer Gesundheit, besserer Muskelfunktion, weniger Fettleibigkeit, weniger Krebs und allgemein stärkeren Leistungen.
Ab dem Äquivalent des menschlichen Alters von 55 verabreicht, hemmt das Serum das Protein Interleukin-11. Dieses sorgt für den Alterungsprozess, den es bei Menschen ab 60 stark beschleunigt. Sowohl gentechnisch modifizierte Mäuse, die von Geburt an zur Produktion des Proteins nicht mehr befähigt waren, wie solche, denen es später verabreicht wurde, zeigten deutliche Verbesserungen. Das Serum ist nun bereits in der menschlichen Erprobung.
Eine solche Entwicklung wurde von der Biotechnologie-Wirtschaft seit Jahrzehnten angestrebt. Seit einigen Jahren haben vorzeigbare Erfolge zugenommen. Das hat eine ganze Reihe ähnlich gesinnter Ansätze hervorgebracht, darunter Gentechnologie zur Verhinderung der "Telomeren-Verkürzung", um die Selbststeuerung der Zellalterung zu stoppen, aber auch neue Diäten.
Das hat in jüngsten Jahren etwa das Altern bei Fischen verlangsamt und ist auch eine Waffe im Kampf gegen Krebs, der in seinen Grundmechanismen viel mit Zellalterung zu tun hat.
Der Fortschritt verstärkt ideologische Kämpfe um den menschlichen Körper. Längst vermischt sich Lebenszeitverlängerung mit "Transhumanismus" – also der Überzeugung, dass der Mensch bis zur Jahrhundertmitte deutlich älter werden kann.
Weil ein doppelt so langes Leben bis dahin technologisch möglich werden könnte, werde dieses nun geradezu zur Pflicht des Menschen in der Evolution. Der Mensch müsse sich jetzt mittels neuer, bewusst in den Körper eindringender Technologien selbst "neu designen".
Alles würde sich verändern
Viele von uns sind sich der vollen Folgen dieser Entwicklung bisher nicht ausreichend bewusst. Wäre eine starke Ausweitung der Möglichkeiten zur Lebenszeit-Beeinflussung der Fall, würde sich buchstäblich alles verändern. Darunter auch die Grundlage unseres Zusammenlebens: die Kultur. Kultur und Religion waren aus Sicht der "Transhumanisten" – in allen Aspekten – nur mehr oder weniger bewusste Verschleierungen von Sterblichkeit.
Alles an ihnen würde verzichtbar, wenn Lebenszeit von Menschen selbst kontrolliert werden könnte. Beziehungen zwischen Menschen und Gruppen würden sich verändern. Das käme einer kulturellen und sozialen Revolution gleich.
Der Körper als Ort der kommenden Kulturrevolution
Mit dieser Entwicklung sind tiefgreifende Fragen verbunden. Wird der menschliche Körper in den kommenden Jahren zum eigentlichen Ort einer Kulturrevolution?
Vorsicht vor übertriebenen Hoffnungen ist geboten. Einerseits ist unklar, wie gut lebensverlängernde Medikamente bei Menschen wirken. Es wäre unverantwortlich, bei heute Lebenden übertriebene Erwartungen zu wecken, die das Abschiednehmen noch schwerer machen, als es bereits ist. Andererseits stellt sich die ethische Frage: werden Menschen bessere oder schlechtere Wesen, wenn sie zunehmend von der Endlichkeit befreit sind?
Und zu guter Letzt: Für wen werden die Fortschritte sein – wer kann sie sich leisten? Nicht zufällig haben die Vereinten Nationen in ihrem Jubiläumsjahr 2021 "Gesundheit für alle" zu einem der sieben großen Schwerpunkte der Weltentwicklung bis 2050 erklärt – weil Lebenszeit zum großen Gerechtigkeitsthema wird.
Es wird vielleicht sogar zum größten Gerechtigkeitsthema der kommenden Jahrzehnte. Denn dabei geht es buchstäblich um "alles": um Dauer und Art des Lebens selbst. Deshalb trägt jedes Jahr, mit dem die Lebenszeit-Forschung voranschreitet, das Potenzial gesellschaftlicher Tiefenveränderung in sich – "naturgemäß" mehr als jedes andere Thema.
Wir sollten Hoffnung mit Augenmaß und Umsicht verbinden. Längeres gesundes Leben ist gut, Unsterblichkeit noch außer Reichweite. Die Anfänge einer spezialisierten "Lebenszeitmedizin" werden in den Augenblick der technologischen Veränderung von Begriff und Verständnis des Körpers hineingeboren, in der auch weitere Entwicklungen wie Präzisions- und Gender-Medizin zusammenfließen. Die damit verbundenen Möglichkeiten werden immer stärker ins Zentrum rücken. Es wird ein Vorteil sein, wenn in Europa dazu geforscht und Wissen angezogen wird.
Besonders wichtig wird die ethische Reflexion, die international bislang wenig geleistet wird. Sie wird nicht nur eine prinzipielle, sondern auch eine Anpassungs-, Kontextualisierungs- und Individualisierungs-Diskussion sein müssen. Die "neue Körperökonomie" könnte in den kommenden Jahrzehnten menschliche Autonomien erheblich stärken.
Sie wird aber auch tiefe Fragen nach Gerechtigkeit stellen, die noch viel unmittelbarer in "das Leben" hineinreichen als bisher. Eine gemeinsame Debatte zur Zukunft des Körpers und zu Chancen und Grenzen seiner wachsenden – technologisch ermöglichten – Selbstgestaltung wird nun auch an Orten unerlässlich, wo sie bisher nicht geführt wurde.
Dafür gilt es neue, inter- und transdisziplinäre Plattformen zu schaffen, für die die Zeit gekommen ist. Wie in vielen anderen Gesellschaftsbereichen tritt Ethik auch im Bereich der Lebenszeiterwartung ins Zentrum der Zukunftsdebatte. Der Körper, der zur Kulturrevolution wird, sollte nicht zum Gegenstand weiterer gesellschaftlicher Polarisierung werden.
Roland Benedikter ist Soziologe und Politikwissenschaftler bei Eurac Research in Bozen.