"Die Corona-Pandemie verhüllt die Faschismus-Pandemie"
- "Die Corona-Pandemie verhüllt die Faschismus-Pandemie"
- "Es gibt viele Linke, die der von ihnen kritisierten Rechten zu ähnlich waren"
- "Wir stehen vor einem ständigen Völkermord an den Armen"
- "Die einzige Waffe, die sie gegen mich haben können, ist, mich zu töten"
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Die prominente TV-Moderatorin und LGBTIQ-Aktivistin Maria Galindo wird von Boliviens Putsch-Regime mit dem Tod bedroht. Im Exklusiv-Interview mit Telepolis klagt sie die Junta auch für die Covid-19-Toten an
"Der Kampf, den wir haben, ist unendlich": Maria Galindo hat viele Feinde und kritisiert nicht nur die Eliten, sondern auch ihre eigene LGBTIO-Bewegung für "Spießigkeit" - und ist eine der bekanntesten TV-Moderatorinnen Südamerikas und wurde in den letzten Jahren die bekannteste Frauenrechtlerinnen des Kontinents und die bekannteste politische Oppositionelle Boliviens.
Auch mit provokanten Aktionen ihrer anarchafeministischen Gruppe "Mujeres Creando" fordert sie immer wieder das Putschregime heraus (aber auch die Stagnation des Ex-Präsidenten Evo kritisierte sie vielfach) und lebt nach mehreren Verhaftungen, Entführungen, ernstzunehmenden Mord-Drohungen von Regierungsbefürwortern und massiven Überfällen durch Paramilitärs nach ihrer Kritik an der Putsch-Präsidentin in ihrer Kolumne in der Zeitung "Pagina Siete" seit Monaten öfter an verschiedenen, geheimen Orten.
Die heutige Punk-Gothic-Lady mit dem auffälligem Schmuck und Cut-Frisuren wuchs in Cochabamba auf, studierte als Nonne im Vatikan, bevor sie Psychologin und Polit-Aktivistin von La Paz aus wurde. Mit ihrer Gruppe kreierte sie "zur Sichtbarmachung aller Ausgegrenzten" den - in Abgrenzung zum klassisch-protestantischen und eurozentristischen Feminismus - sexpositiven und pro-modischen pasarela feminista (feminist catwalk) in Santa Cruz , der heute als slut walk auf der ganzen Welt von feministischen Gruppen, transgender und Sexarbeiter*innen, aber auch von anderen Bürgerrechtsgruppen als Vorbild genommen wird, etwa für die jährliche Pride Parade von "Behinderten", psychisch "Kranken" und nicht-normativen Menschen in Berlin-Neukölln.
Neben ihrer Arbeit als Drehbuchautorin schrieb sie auch mit Sonia Sánchez das Buch "Ninguna mujer nace para puta", das heute als Standardwerk des Feminismus in Lateinamerika, Spanien und den Latino-Communities der USA gilt. 2002 wurde ihre Gruppe von faschistischen Kommandos innerhalb der Polizei überfallen und misshandelt. 2007 kritisierte sie Präsident Evo öffentlich scharf für den Besuch durch Irans Präsidenten Ahmadinejad. Ihr Bruder Jose Antonio Galindo Neder war Minister in der Regierung unter dem Präsidentin Carlos Mesa. Der Kunstexperte und Buchautor ("Pornotopia") Paul B. Preciado (Paris/Barcelona/Athen) bewertete in der renommierten "ArtReview" die "more-than-art-practice" Marias unter anderen auf der Sao Paolo Biennale/BRA als in einer Reihe stehend mit den Werken von Annie Sprinkle, Ulrike Ottinger oder Beau Dick. Medien außerhalb Süd- und Mittelamerikas gab Maria bisher keine Interviews, gegenüber Telepolis findet sie nun exklusiv drastische und alarmierende Worte für die gegenwärtige Situation in ihrem Land und den "Hunger durch Armut".
Was denkst Du eigentlich über die Covid19-Situation in Bolivien und Südamerika?
Maria Galindo: Also, wir sind mit 5 Pandemien gleichzeitig konfrontiert, bei der mehrere überlappende Schichten aneinander haften. Wenn Sie zur Erklärung eine Pandemie herausstellen wollen: Es ist die äußere sichtbare Schicht des Coronavirus, die als offensichtliche Oberfläche fungiert, hinter der sich die anderen vier Pandemien verstecken und legitimieren.
Welche sind denn die vier anderen?
Maria Galindo: Die Faschismus-Pandemie, die demokratische Strukturen und Freiheiten betrifft und die Vorurteile in Bezug auf Krankheit, Ansteckung und angeblichen Schutz der Bevölkerung mobilisiert … el contagio y la "protección" de la población. Als zweites die Kolonialpandemie, die die Nord-Süd-Beziehungen betrifft, die Beziehungen zum Süden der Welt, die in allen Gesellschaften vorhanden sind, die Beziehung zum Wissen und zum Management der Krankheit und die Überschuldung der gesamten Region für die Verschlechterung eines strengeren Weltkolonialvertrags. Dann natürlich die Pandemie der Korruption und der staatlichen Apathie. Und leider nicht nur bei uns hier in Bolivien, sondern in ganz Lateinamerika die Pandemie der "violencia machista", der sexistischen Gewalt, die sich direkt auf das alltägliche Leben der Frauen hier auswirkt, und sich auch als Krise in der von Frauen getragenen Alten- und Krankenpflege darstellt. Einher mit der Krise der Frauen und Familien geht auch die schlimmste aller gesellschaftlichen Seuchen, die Pandemien aller Pandemie: der Hunger durch Armut.
Corona ist die Krankheit der Armen … aber auch die Rechte von Frauen sind in der Region bedroht? Jetzt mehr als zuvor?
Maria Galindo: Warum? Frauenrechte sind eine dekorative Rhetorik eines demokratischen Systems, das es nicht gibt. Frauen sind Parias, wir haben keine Rechte, wir erfüllen doppelte oder dreifache Arbeitszeiten, Mütter leben ein Regime der Souveränitätsenteignung und werden während der Quarantäne mit allen Arten von Verantwortlichkeiten permanent überwacht und überlastet. Frauen gehören zum ärmsten Drittel der Bevölkerung, elterliche Verantwortungslosigkeit wird belohnt, erlaubt oder versteckt. Es gibt keine Arbeit für Frauen und die Jobs, die Frauen machen, werden weniger bezahlt. Es gibt ein institutionalisiertes Regime sexistischer Gewalt zu Hause, auf der Straße, bei der Arbeit und im Bildungsumfeld. ¿De que derechos hablas? Über welche Rechte soll man da also noch reden?
"Es sind barbarische Verbrechen, barbarisch durch Covid-19 gerechtfertigt"
Wie ist Deine Meinung allgemein zur aktuellen Politik in Bolivien und anderen Ländern dort - vor Covid-19 und jetzt?
Maria Galindo: Es gibt eine sehr starke politische Polarisierung. Eine Stärkung der oligarchischen Sektoren, die das Gefühl haben, mehr als die Staatsmacht wiedererlangt zu haben, eine völlige Straflosigkeit für die Umsetzung ihrer Interessen. Bolivien wandelt sich von einem Neoliberalismus zu einer faschistischen Phase des Neoliberalismus. Rassismus und Homophobie haben zugenommen, weil beide Mechanismen entfesselt wurden, um Zusammenhalt zwischen konservativen Sektoren zu schaffen und das Fehlen eines politischen Diskurses zu vertuschen.
Kritisiert Du gerade die Politik zu Covid-19?
Maria Galindo: Es gibt eine Faschisierung und einen Einsatz der Pandemie, um Angst in der Bevölkerung und Formen politischer Verfolgung und Kontrolle zu verbreiten. Das Problem der Kinder wurde sehr schlecht gelöst, und die Mütter tragen die ganze Verantwortung. Öffentliche Bildung wurde gestrichen, da virtuelle Bildung in Ländern wie dem meinen exklusiv ist und in Ländern, in denen sie universell ist, liegt sie materiell in den Händen von Müttern. Telearbeit hat auch Raum für Formen sehr starker Ausbeutung gegeben.
Das Coronavirus scheint alles zu rechtfertigen. Es gibt eine koloniale Ordnung in der Art und Weise, wie Krankheiten behandelt und interpretiert werden. Bolivien ist ein Land, das billige Arbeitskräfte nach Argentinien, Chile, Brasilien, Spanien und in andere Länder liefert. Menschen in Massen wurden zu Ausgestoßenen ohne das Recht, in den Ländern zu bleiben, in denen sie arbeiten, oder in das Land zurückkehren. Ich könnte mit der Liste der durch die Pandemie gerechtfertigten Gräueltaten fortfahren. Es sind barbarische Verbrechen, barbarisch durch Covid-19 gerechtfertigt.
Kannst Du die Situation in Bolivien unter der Junta beschreiben?
Maria Galindo: Die derzeitige Präsidentin trat für drei Monate ein, um Neuwahlen abzuhalten, die Mitte Februar oder Mitte März hätten stattfinden sollen, bevor die Pandemie das Land erreichte. Das erste, was sie machte, war die illegale Verlängerung ihres Mandats. Zu diesem Zeitpunkt gibt es keinen bestimmten Termin mehr für die Wahlen. Obwohl sie für den 6. September festgelegt wurden, sagten sie uns dann, dass der Höhepunkt der Pandemie in dieser Zeit liegen wird, obwohl sie seit Monaten erklärt hatten, dass der Höhepunkt im Mai liege, dann sagten sie, es sei im Juni, und jetzt war es der September.
Es gibt nicht genug Tests, nicht genug Labore. Die offiziellen Infektionszahlen sind falsch. Fast jeden Tag gibt es schwerwiegende Korruptionsfälle, es gibt keinen Zugang zu Informationen. Es gibt eigentlich keinen Gesundheitsminister, weil der ernannte wegen Korruption ins Gefängnis gegangen ist und ein Interimsminister ernennen werden musste, weil niemand diese Position akzeptiert. Das Misstrauen gegenüber der Regierung ist sehr groß, die Hungerkrise ist größer als die des Coronavirus.