"Die Corona-Pandemie verhüllt die Faschismus-Pandemie"

Maria Galindo. Bild: Copyleft © 2020 Agência de Notícias Anarquistas

Die prominente TV-Moderatorin und LGBTIQ-Aktivistin Maria Galindo wird von Boliviens Putsch-Regime mit dem Tod bedroht. Im Exklusiv-Interview mit Telepolis klagt sie die Junta auch für die Covid-19-Toten an

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"Der Kampf, den wir haben, ist unendlich": Maria Galindo hat viele Feinde und kritisiert nicht nur die Eliten, sondern auch ihre eigene LGBTIO-Bewegung für "Spießigkeit" - und ist eine der bekanntesten TV-Moderatorinnen Südamerikas und wurde in den letzten Jahren die bekannteste Frauenrechtlerinnen des Kontinents und die bekannteste politische Oppositionelle Boliviens.

Auch mit provokanten Aktionen ihrer anarchafeministischen Gruppe "Mujeres Creando" fordert sie immer wieder das Putschregime heraus (aber auch die Stagnation des Ex-Präsidenten Evo kritisierte sie vielfach) und lebt nach mehreren Verhaftungen, Entführungen, ernstzunehmenden Mord-Drohungen von Regierungsbefürwortern und massiven Überfällen durch Paramilitärs nach ihrer Kritik an der Putsch-Präsidentin in ihrer Kolumne in der Zeitung "Pagina Siete" seit Monaten öfter an verschiedenen, geheimen Orten.

Die heutige Punk-Gothic-Lady mit dem auffälligem Schmuck und Cut-Frisuren wuchs in Cochabamba auf, studierte als Nonne im Vatikan, bevor sie Psychologin und Polit-Aktivistin von La Paz aus wurde. Mit ihrer Gruppe kreierte sie "zur Sichtbarmachung aller Ausgegrenzten" den - in Abgrenzung zum klassisch-protestantischen und eurozentristischen Feminismus - sexpositiven und pro-modischen pasarela feminista (feminist catwalk) in Santa Cruz , der heute als slut walk auf der ganzen Welt von feministischen Gruppen, transgender und Sexarbeiter*innen, aber auch von anderen Bürgerrechtsgruppen als Vorbild genommen wird, etwa für die jährliche Pride Parade von "Behinderten", psychisch "Kranken" und nicht-normativen Menschen in Berlin-Neukölln.

Neben ihrer Arbeit als Drehbuchautorin schrieb sie auch mit Sonia Sánchez das Buch "Ninguna mujer nace para puta", das heute als Standardwerk des Feminismus in Lateinamerika, Spanien und den Latino-Communities der USA gilt. 2002 wurde ihre Gruppe von faschistischen Kommandos innerhalb der Polizei überfallen und misshandelt. 2007 kritisierte sie Präsident Evo öffentlich scharf für den Besuch durch Irans Präsidenten Ahmadinejad. Ihr Bruder Jose Antonio Galindo Neder war Minister in der Regierung unter dem Präsidentin Carlos Mesa. Der Kunstexperte und Buchautor ("Pornotopia") Paul B. Preciado (Paris/Barcelona/Athen) bewertete in der renommierten "ArtReview" die "more-than-art-practice" Marias unter anderen auf der Sao Paolo Biennale/BRA als in einer Reihe stehend mit den Werken von Annie Sprinkle, Ulrike Ottinger oder Beau Dick. Medien außerhalb Süd- und Mittelamerikas gab Maria bisher keine Interviews, gegenüber Telepolis findet sie nun exklusiv drastische und alarmierende Worte für die gegenwärtige Situation in ihrem Land und den "Hunger durch Armut".

Was denkst Du eigentlich über die Covid19-Situation in Bolivien und Südamerika?
Maria Galindo: Also, wir sind mit 5 Pandemien gleichzeitig konfrontiert, bei der mehrere überlappende Schichten aneinander haften. Wenn Sie zur Erklärung eine Pandemie herausstellen wollen: Es ist die äußere sichtbare Schicht des Coronavirus, die als offensichtliche Oberfläche fungiert, hinter der sich die anderen vier Pandemien verstecken und legitimieren.
Welche sind denn die vier anderen?
Maria Galindo: Die Faschismus-Pandemie, die demokratische Strukturen und Freiheiten betrifft und die Vorurteile in Bezug auf Krankheit, Ansteckung und angeblichen Schutz der Bevölkerung mobilisiert … el contagio y la "protección" de la población. Als zweites die Kolonialpandemie, die die Nord-Süd-Beziehungen betrifft, die Beziehungen zum Süden der Welt, die in allen Gesellschaften vorhanden sind, die Beziehung zum Wissen und zum Management der Krankheit und die Überschuldung der gesamten Region für die Verschlechterung eines strengeren Weltkolonialvertrags. Dann natürlich die Pandemie der Korruption und der staatlichen Apathie. Und leider nicht nur bei uns hier in Bolivien, sondern in ganz Lateinamerika die Pandemie der "violencia machista", der sexistischen Gewalt, die sich direkt auf das alltägliche Leben der Frauen hier auswirkt, und sich auch als Krise in der von Frauen getragenen Alten- und Krankenpflege darstellt. Einher mit der Krise der Frauen und Familien geht auch die schlimmste aller gesellschaftlichen Seuchen, die Pandemien aller Pandemie: der Hunger durch Armut.
Corona ist die Krankheit der Armen … aber auch die Rechte von Frauen sind in der Region bedroht? Jetzt mehr als zuvor?
Maria Galindo: Warum? Frauenrechte sind eine dekorative Rhetorik eines demokratischen Systems, das es nicht gibt. Frauen sind Parias, wir haben keine Rechte, wir erfüllen doppelte oder dreifache Arbeitszeiten, Mütter leben ein Regime der Souveränitätsenteignung und werden während der Quarantäne mit allen Arten von Verantwortlichkeiten permanent überwacht und überlastet. Frauen gehören zum ärmsten Drittel der Bevölkerung, elterliche Verantwortungslosigkeit wird belohnt, erlaubt oder versteckt. Es gibt keine Arbeit für Frauen und die Jobs, die Frauen machen, werden weniger bezahlt. Es gibt ein institutionalisiertes Regime sexistischer Gewalt zu Hause, auf der Straße, bei der Arbeit und im Bildungsumfeld. ¿De que derechos hablas? Über welche Rechte soll man da also noch reden?

"Es sind barbarische Verbrechen, barbarisch durch Covid-19 gerechtfertigt"

Wie ist Deine Meinung allgemein zur aktuellen Politik in Bolivien und anderen Ländern dort - vor Covid-19 und jetzt?
Maria Galindo: Es gibt eine sehr starke politische Polarisierung. Eine Stärkung der oligarchischen Sektoren, die das Gefühl haben, mehr als die Staatsmacht wiedererlangt zu haben, eine völlige Straflosigkeit für die Umsetzung ihrer Interessen. Bolivien wandelt sich von einem Neoliberalismus zu einer faschistischen Phase des Neoliberalismus. Rassismus und Homophobie haben zugenommen, weil beide Mechanismen entfesselt wurden, um Zusammenhalt zwischen konservativen Sektoren zu schaffen und das Fehlen eines politischen Diskurses zu vertuschen.
Kritisiert Du gerade die Politik zu Covid-19?
Maria Galindo: Es gibt eine Faschisierung und einen Einsatz der Pandemie, um Angst in der Bevölkerung und Formen politischer Verfolgung und Kontrolle zu verbreiten. Das Problem der Kinder wurde sehr schlecht gelöst, und die Mütter tragen die ganze Verantwortung. Öffentliche Bildung wurde gestrichen, da virtuelle Bildung in Ländern wie dem meinen exklusiv ist und in Ländern, in denen sie universell ist, liegt sie materiell in den Händen von Müttern. Telearbeit hat auch Raum für Formen sehr starker Ausbeutung gegeben.
Das Coronavirus scheint alles zu rechtfertigen. Es gibt eine koloniale Ordnung in der Art und Weise, wie Krankheiten behandelt und interpretiert werden. Bolivien ist ein Land, das billige Arbeitskräfte nach Argentinien, Chile, Brasilien, Spanien und in andere Länder liefert. Menschen in Massen wurden zu Ausgestoßenen ohne das Recht, in den Ländern zu bleiben, in denen sie arbeiten, oder in das Land zurückkehren. Ich könnte mit der Liste der durch die Pandemie gerechtfertigten Gräueltaten fortfahren. Es sind barbarische Verbrechen, barbarisch durch Covid-19 gerechtfertigt.
Kannst Du die Situation in Bolivien unter der Junta beschreiben?
Maria Galindo: Die derzeitige Präsidentin trat für drei Monate ein, um Neuwahlen abzuhalten, die Mitte Februar oder Mitte März hätten stattfinden sollen, bevor die Pandemie das Land erreichte. Das erste, was sie machte, war die illegale Verlängerung ihres Mandats. Zu diesem Zeitpunkt gibt es keinen bestimmten Termin mehr für die Wahlen. Obwohl sie für den 6. September festgelegt wurden, sagten sie uns dann, dass der Höhepunkt der Pandemie in dieser Zeit liegen wird, obwohl sie seit Monaten erklärt hatten, dass der Höhepunkt im Mai liege, dann sagten sie, es sei im Juni, und jetzt war es der September.
Es gibt nicht genug Tests, nicht genug Labore. Die offiziellen Infektionszahlen sind falsch. Fast jeden Tag gibt es schwerwiegende Korruptionsfälle, es gibt keinen Zugang zu Informationen. Es gibt eigentlich keinen Gesundheitsminister, weil der ernannte wegen Korruption ins Gefängnis gegangen ist und ein Interimsminister ernennen werden musste, weil niemand diese Position akzeptiert. Das Misstrauen gegenüber der Regierung ist sehr groß, die Hungerkrise ist größer als die des Coronavirus.

"Es gibt viele Linke, die der von ihnen kritisierten Rechten zu ähnlich waren"

Deine Gruppe ist sehr aktiv, politisch fordert ihr im Gegensatz zu klassischen Linken auch die radikalen Rechte jedes Individuums auf Selbstbestimmung in einer befreiten Gesellschaft ein. Im Gegensatz auch zu Linksradikalen in Europa seid ihr nicht selbstverschuldet marginalisiert, sondern werdet etwa mit Radio Deseo von einem sehr großen Teil der Bevölkerung wahrgenommen ... Was macht ihr anders? Was ist Eure Motivation? Im Gegensatz zu linken Zeitgeist-Trends in Mittel- und Nordeuropa wie Vegan, Öko, Queer et cetera et cetera ist Euer Hauptpunkt die Abschaffung der Armut ...
Maria Galindo: Wir entwickeln seit mehr als 20 Jahren Organisationsformen, haben einen Radiosender und eine wichtige Reihe konkreter Maßnahmen gegen sexistische Gewalt gegen Frauen und gegen Ungerechtigkeiten, Machtmissbrauch sowie Homo- und Transphobien. Dieselben Themen, an denen wir arbeiten, repräsentieren unsere Ziele, wir befinden uns nicht in einem Machtkampf, wir interessieren uns nicht für formale Politik, wir arbeiten daran, unsere Stimme unsere transformierende Rolle in der bolivianischen Gesellschaft aufzubauen. Der Kampf, den wir führen, ist endlos, es ist eine Lebensweise, die unangenehm ist, die Kontroversen erzeugt und Räume öffnet.
Linke Bewegungen sind in Südamerika sehr stark und haben eine sehr lange Tradition. Was ist das Besondere an dieser Tradition?
Maria Galindo: Ich persönlich glaube, dass die ideologischen und konzeptuellen Grundlagen dessen, was wir die Linke nennen, in einer Phase der Erschöpfung sind und dass sie selbst für Feminismen, Animalismen, Queer (nicht heterosexuelles Universum), Umweltschutz und andere wichtige Kämpfe im Zusammenhang mit anderen Visionen der Produktion und von Zeit, Arbeit, Körper und Leben in der Gesellschaft nicht ausreichen. Die Katastrophe, in der sich der Planet mit der Kolonialordnung, dem zerstörerischen Kapitalismus und der patriarchalischen Ordnung befindet, liegt ebenfalls in der Verantwortung der Linken.
Es gibt viele Linke, die der von ihnen kritisierten Rechten zu ähnlich waren, wie der Fall Kirchner in Argentinien, Morales in Bolivien oder Lula in Brasilien, die unter neoliberaler Logik, erstickendem Dissens und unter denselben Parametern regierten. Die Arbeiterbewegungen befinden sich in einer sehr starken Krise. Für die Tradition der Kämpfe ist der indigene Aspekt sehr wichtig und auch die Tatsache, dass der gesamte Kontinent den Horizont seiner eigenen Bedeutung jenseits dessen finden muss, was der Kapitalismus ihm gebracht hat, um die Gesundheit, das Wohlbefinden etc. zu gewährleisten. Das wird nur durch ein starkes Umdenken von allem möglich sein.
Was bedeutet Anarchafeminismus für Dich? In einem Gespräch mit brasilianischen Feministinnen kritisiertest Du ja auch Queer Theory als eine reine "Eliten-Theorie" ohne jeden praktischen Nutzen und als "Teil der neoliberalen Agenda" ...
Maria Galindo: Er sollte in der Lage sein, zwei wichtige Matrizen der Analyse der Realität zu verbinden: die anarchistische Matrix um die Theorien des sozialen Wandels, der Macht und der Politik und die Matrix des Feminismus als politisches Projekt, bei dem Frauen, Körper und Sexualität im Mittelpunkt des politischen Subjekts stehen, und es muss die klassische Idee des Politischen aufgelöst werden, dass das Politische nur im öffentlichen Raum geschieht. Es ist wichtig zu sagen, dass wir keine Bewegung sind, die sich weder dem Anarchismus noch dem Feminismus mit eurozentrischen Visionen zugehörig sieht, sondern dass wir unser eigenes und kontextualisiertes Verständnis beider Aspekte herstellen.
Der Anarchismus hat in Amerika, Italien, Frankreich und Spanien eine sehr lange Tradition, aber nicht in Nordeuropa. Was sind die Unterschiede?
Maria Galindo: Ich habe nicht so umfangreiches Wissen, um mit Wissen über die gesamte Sphäre zu Dir zu sprechen. Es handelt sich in Spanien um ganz andere Phänomene als in Italien. Vor allem wird der Anarchismus nur während der Zeit des Bürgerkriegs anerkannt, aber ich glaube, dass es in Barcelona meiner Meinung nach einen sehr interessanten Anarchismus gibt, vielleicht auch in Berlin …
Anarchistinnen in Berlin-Neukölln oder Berlin-Frohnau zum Beispiel beschäftigen sich aber viel mit dem "generischen Femininum", wobei man immer noch nicht versteht, was das eigentlich ist …
Maria Galindo: … und an anderen Orten. Der Anarchismus ist eher eine Matrix von Kämpfen, eine Wurzel von Ideen in ständiger Mutation in Bolivien, er ist sehr verachtet, das Wort Anarchist wird als Beleidigung verwendet, es wird als Menschen gezeigt, deren Handlungsfähigkeit eingeschränkt ist, weil wir nicht die Illusion haben, in den Staat zu gelangen. Wir haben auch einen eigenen Anarchismus und in diesem grundlegenden Sinne, der auf der Kombination von manueller Arbeit, intellektueller Arbeit und kreativer Arbeit beruht. Wir haben eine große Distanz zu anarchistischen Männergruppen, die sich hinsetzen, um Ideen zu diskutieren. Wir entwickeln politische Praktiken.

"Ich bezweifle den Opferkult von Evo Morales"

Was denkst du über Evo und die Ereignisse gegen ihn?
Maria Galindo: Ich bezweifle die internationale Figur der Selbstviktimisierung, die Evo Morales auf sich und seinen Sturz projiziert hat, ein Opferkult. Ich bin nicht an der binären These zweier Seiten interessiert, den Evo der guten Indigenen und die anderen der Putschisten und der imperialistischen Rechten. In Bolivien hat nicht nur ein Staatsstreich stattgefunden, sondern einerseits ein komplexes Phänomen innerhalb der Regierung von Evo Morales, ein Prozess der Deregulierung seiner Regierung, die Unfähigkeit, die Realität zu lesen, die Schließung aller Formen von Dissens.
Diejenigen, die gegen Evo gekämpft haben, waren ihre eigenen politischen Verbündeten, diejenigen des Kreuzfahrt-Landbesitzers Agribusiness, denen Evo alle von ihnen gewünschten Vorteile gegeben hat. Es ist schwer zu erklären, dass diejenigen, die innerhalb ihrer Regierung zweifellos gewonnen haben, darauf gewettet haben, es zu stürzen. Niemand hat zur Verteidigung der Evo-Moral mobilisiert. Die beiden Massaker, die gegen das Volk verübt wurden, betrafen nicht die Verteidigung von Morales, sondern es war die religiös-rassistische Welle, die das faschistische Recht entfesselt hat und jetzt Bolivien regiert. Es gibt eine dramatische Verschleierung von Informationen für die wirkliche Interpretation dessen, was passiert ist.
Zum Beispiel war ich 10 Jahre lang Kolumnistin in einer Zeitung in La Paz, und als ich es wagte, einen Teil der Informationen, auf die ich Zugriff hatte, in einer Kolumne zu veröffentlichen, tja … Der brasilianische Botschafter und andere, die zu diesem Zeitpunkt kein Mandat hatten, warfen mich aus der Zeitung.
Die bolivianische Regierung steht jetzt für was?
Maria Galindo: Es ist eine Regierung, deren einziger Zweck darin bestand, die Evo-Moral zu beseitigen, einen Propaganda- und Repressionsapparat aufzubauen, der die Bewegung zum Sozialismus kriminalisiert, die kirchliche Macht in Staatsangelegenheiten wieder einführt, die Präsenz der Streitkräfte in der Politik legitimiert und eine Kampagne der Verfolgung und Unterdrückung betreibt. In diesem Zusammenhang handelt es sich nicht gerade um eine Regierung, da sie große Lücken in ihrer Handlungsfähigkeit aufweist und praktisch - abgesehen von diesen Themen - nicht weiß, was zu tun oder zu sagen ist. Sie sind eine Gruppe sehr improvisierter Leute, die Janine Áñez als Joker gewählt haben, gerade weil sie eine Figur ohne eigene Vision ist, die sehr leicht zu manipulieren ist. Zu dieser Zeit hat sich innerhalb des Staates eine Reihe kleiner Gruppen gebildet, die der Korruption nachgehen, da dies eine einmalige Gelegenheit ist.

"Wir stehen vor einem ständigen Völkermord an den Armen"

Wie leiden die Menschen dort unter der Junta, der Armut und Covid19?
Maria Galindo: Es gibt keine Worte, um in einer kurzen Synthese das Leid zu beschreiben, das die bolivianische Gesellschaft durchmacht. Wir stehen durch Covid-19 vor einem ständigen Völkermord an den Armen, Schwachen, den Hungrigen … vor einem Staat, der nicht in der Lage ist, zu denken, zu handeln oder Maßnahmen zu ergreifen, aber da ich für ein europäisches Medium antworte, möchte ich klarstellen, dass diese Pandemie eine entscheidende koloniale Hülle hat und dass die nördlichen Länder die direkte Verantwortung für das haben, was im Süden passiert.
Die Idee, ihre Schengen-Grenzen zu schließen und endlich ihren faschistischen Traum zu erfüllen, dass die anderen die Gefahr sind, werde ich nicht zum Schweigen bringen. In der Provinz von Beni, in der Menschen sterben, ohne die Hoffnung zu haben, Zugang zu irgendeiner Form von Pflege zu erhalten, ist es die selbe Regierung, die billige Arbeitskräfte nachdrücklich in europäische Länder schickt, insbesondere Hausangestellte, die an den Feiertagen infiziert zurückgekehrt sind. Der Kauf von medizinischer Versorgung hat die transnationale Pharmaindustrie und die Industrie gepimpt, die medizinische Versorgung herstellt, um nur zwei Beispiele für den kolonialen Charakter dieser Pandemie zu nennen.
Was bedeutet Trump für Dich?
Maria Galindo: Er ist das Symbol für die Dekadenz einer völlig leeren repräsentativen Demokratie, er ist das Symbol für die direkte Manipulation der Abstimmung durch Marketingkampagnen, er ist das Symbol für die weiße Vormachtstellung, für die Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Planeten, für die Kriegstreiberei. Er könnte der Hitler des 21. Jahrhunderts sein, er könnte der Monarch Louis XVI des 21. Jahrhunderts sein, der die Gesellschaft nicht verstehen kann. Ein oft lächerlicher, sehr unwissender Mann.
Genderpolitik hat viele Feinde auf der ganzen Welt. Warum können so viele Menschen damit nicht leben?
Maria Galindo: Da es sich bei den Debatten um das Geschlecht nicht um periphere Debatten handelt, bilden die geschlechtsspezifischen Strukturen und Hierarchien die Grundlage für eine Reihe von Hierarchien. Wenn sie diese Debatte von der biologischen Ebene auf die politische, soziale und kulturelle Ebene verschieben, bricht die gesamte Struktur zusammen.
Wie hat sich denn eigentlich das Straßenleben hier in Ihrem Land in den letzten Monaten verändert?
Maria Galindo: Angst und Hunger spielen auf unseren Straßen ein tödliches Spiel. Ausgehen, um Essen zu kaufen, bereitet den Besuch der Hunger-Arena des Alltags vor: Menschen kommen heraus, um mit Kreativität, Würde und Originalität zu betteln, sie halten Ihren Blick fest, sie schneiden Ihren Weg zart, sie strecken ihre Hände aus oder bieten Ihnen Süßigkeiten und alle Arten von praktischen Erfindungen für das Leben an. Gestern habe ich einen Nadeleinfädler gekauft, obwohl es in meinem Haus keine Nadeln oder Fäden gibt. Der Blick des Verkäufers, seine Würde, seine Kleidung, sein Atem, seine selbstgemachte Maske, alles von ihm war ein Schrei magnetisierender Würde.
Es gibt viele Arten von mascarillas, von Masken, die ich lieber als bozales para humanos, als "menschliche Maulkörbe" für jeden Geschmack und jeden Geldbeutel bezeichne, da dies auch zum Überleben notwendig ist, aber die Universalmaske scheint aus Mandarinenhaut zu bestehen. Diese imaginären Häute sind in die Straßen eingedrungen und mit ihnen werden wir uns hier naiv gegen die Pandemie verteidigen, während wir das Kolonialvirus weitergeben … und gleichzeitig den Willen zu leben.
Wenn ich von Zeit zu Zeit durch die beliebten Viertel gehe, rieche ich Kräuter, die in abgenutzten Töpfen kochen müssen, die vor Jahrzehnten ihren Deckel verloren haben. Die Menschen haben Zuflucht in die Hausmedizin und das Wissen der Großmutter gesucht. Die Vahos kommen aus der Ferne, weil die amazonischen Völker beschlossen haben, die Pandemie mit langen Ritualen abzuschrecken.
Die gemeinsamen Töpfe - die weder mehr noch weniger sind als die kollektive und nicht die individuelle Reaktion auf Hunger - stellen nicht nur einen Akt des Ungehorsams dar, sondern sind auch gemeinsame und tägliche Nachricht der Hoffnung. Es gibt sie in allen Formen und bei allen Arten von Menschen auf dem gesamten Kontinent.

"Dann kann sogar Merkel einen feministische Anstrich haben"

Und was sollten denn die europäischen Regierungen tun, um den Menschen in Bolivien zu helfen? Das Bolivien, das ich 2011 und 2012 sehen konnte, ist nicht mehr das Bolivien, das ich heute sehe ...
Maria Galindo: Ich bin es sehr leid, dass das, was als Hilfe bezeichnet wird, wenn sie entpolitisiert wird, hierarchische und koloniale Arbeit wird und Gesellschaften disziplinieren soll. Es geht nicht um Hilfe, es ist eine historische Schuld, die europäische Gesellschaften in Mitteleuropa gegenüber diesem Teil der Welt haben. Die Bundesregierung hatte zu einem Spottpreis das Recht erworben, die Lithiumreserve zu nutzen. Wir bezahlen für die Technologie, die sie mit unserem Leben und unseren Hoffnungen erkauft haben.
Heute müssen wir die historischen Schulden bezahlen. Ich würde vorschlagen, dass ein Summe pro menschlicher Gruppe definiert und allen bolivianischen Frauen ein Kapital zur Begleichung der historischen Schulden mit unserer Gesellschaft zur Verfügung gestellt wird, wobei die Regierung außer Acht gelassen wird. 10.000 Schmerzen pro Frau, wie es mit dem Marshallplan mit den Deutschen gemacht wurde.
Du sprichst die bolivianischen Frauen an … Du sagtest einmal: "Ich bin eine Hure. Ich bin eine Lesbe. Ich bin eine stolze Bolivianerin. Ich bin entstanden aus der Folter und aus der Gewalt." ...Was ist aber das Besondere am Feminismus in Südamerika? "Libre, linda y loca", wie ihr es nennt … frei, verrückt und schön?
Maria Galindo: Dass es eine Szene wichtiger Debatten ist, dass es eine Szene sehr kreativer Kämpfe ist, dass es eine Szene ist, in der sich neue Generationen zusammengerufen fühlen, dass es eine Szene ist, die Rebellion als Ausgangspunkt hat und die Geschichte auf ihrer Seite hat … Ich denke, es sind Kämpfe, die viel Durst nach Veränderung enthalten, und das ist wunderschön.
Was bedeutet Machismo für dich?
Maria Galindo: Machismo ist der kulturelle Ausdruck von Gewohnheiten, Ideen, Verhaltensweisen, Mythen und so weiter und so weiter darüber, was eine Frau ist und was ein Mann ist, aus dem Vorurteil männlicher Überlegenheit, aus der Struktur, Männern Macht und freien Willen zu gewähren und Frauen jegliches Recht auf Entscheidung, Würde und Bewegung zu entziehen.
Machismo ist für das Patriarchat das, was Rassismus für den Kolonialismus ist. Das Patriarchat ist die tiefste kapitalistische Kolonialstruktur, die im Machismo eine Art Artikulation hat, die es selbst im kleinsten sozialen Leben funktionieren lässt. Viele Feministinnen wollen leider nur, dass der Feminismus nur den Machismus herausfordert, aber nicht das Patriarchat, das heißt, sie wollen einen Feminismus sehen, der nicht antisystemisch und nicht gegen die kapitalistische Ausbeutung aller ist, und dann kann sogar Merkel einen feministischen Anstrich haben. Es gibt viele Männer, die bereit sind zu kochen, Kinder großzuziehen oder einige für Frauen typische Aufgaben zu übernehmen, aber die die patriarchalischen Machtstrukturen intakt lassen. Das Spiel zwischen Patriarchat und Machismo kann sehr verdächtig sein.

"Die einzige Waffe, die sie gegen mich haben können, ist, mich zu töten"

Du bist auch Psychologin? Wie ist der state of the art hier in Bolivien? Drüben in Europa kannten wir einige Anti-Psychiatrie-Bewegungen? Diese aber haben sich meist durch ihre psychiatriegleiche Intransparenz selber diskreditiert und sind in autoritär strukturierten "linken" Sekten aufgegangen … Nur die in Italien ist noch von Bedeutung, da sie ihre Prinzipien aus den 1970ern weiter ernstnimmt, sich an den Bedürfnissen der Ausgeschlossenen orientiert und anti-hierarchisch arbeitet ...
Maria Galindo: Ich habe 10 Jahre lang praktiziert und die Berufspraxis als solche aufgegeben. Derzeit unterrichte ich beispielsweise Philosophie an der öffentlichen Universität, aber beschäftige ich mich nicht mit den Debatten um Psychologie.
Überall auf der Welt steigt der Faschismus. Was ist Eure Angst davor?
Maria Galindo: Ich habe keine Angst vor dem Faschismus. Die einzige Waffe, die sie gegen mich haben können, ist, mich zu töten. Sie haben nicht einmal die Macht, die Gesellschaft zu überzeugen und mich zum Feind zu machen. Sie haben es bereits versucht, aber es ist ihnen nicht gelungen.
In unserer Bewegung haben wir viele Gefährten, die aus katholischen Schulen aus Familien christlicher Sekten stammen und auch nach einem Weg gesucht haben, zu rebellieren. Was mich zutiefst schmerzt, ist ein Moment, in dem sich unsere kreative Energie wieder Formen des Widerstands zuwenden muss. Ich glaube, dass nicht nur der Faschismus stark ist und auch der Feminismus und der Anarchismus zunehmen. Der Aufstand in Chile war hauptsächlich feministisch und anarchistisch, und obwohl er in Bolivien nicht über diese Sichtbarkeit verfügt, ist er auch sehr stark. Ich bin sehr hoffnungsvoll, dass wir sie zurückdrängen können. Zum Beispiel ist diese faschistische Regierung in Bolivien mit großer Kraft angetreten und seit Monaten drängen wir sie Millimeter für Millimeter zurück.
Homophobie in Lateinamerika ist eine große Gefahr für alle freien Menschen. Was könnten wir dagegen tun?
Maria Galindo: Wir müssen alle viel freier werden. Wir müssen noch viel mehr Sexualerziehung fördern und betreiben. Wir erstellen Handbücher zur Sexualerziehung für junge Menschen, die sehr schön, sehr synthetisch und sehr billig sind, und damit sind wir sehr erfolgreich. Wir müssen viel Sichtbarkeit für Gays und Lesben erzeugen und wir haben auch viel Energie in diese Sache gesteckt. Aktivismus ist sehr heilsam.
Indigene und mayische Traditionen sind hier in Südamerika sehr stark. Warum sind diese Menschen nach all den Verbrechen gegen sie über ein halbes Jahrtausend lang dennoch bis heute so stolz und kraftvoll?
Maria Galindo: Die Andengesellschaften, sowohl Quechua als auch Aymara, waren keine binären Gesellschaften. Ich habe im ersten Wörterbuch der Aymara-Sprache, das der Jesuitenmissionar Bertonio 1600 ausgearbeitet hatte, fünfzehn(!) verschiedene geschlechtsspezifische Begriffe gefunden, die unterschiedliche sexuelle und reproduktive Verhaltensweisen charakterisierten. Das wurde vom Kolonialismus verfolgt und ausgerottet. Die Priester der Indianer, wie sie genannt wurden, predigten sogar, dass die Leiden, die durch die koloniale Herrschaft hervorgerufen wurden, die Schuld derer waren, die sündige sexuelle Praktiken aus der jüdisch-christlichen Weltsicht übernahmen.
Der obligatorische binäre Mann-Frau-Diskurs in der Andenwelt heute ist eigentlich der koloniale Diskurs, der als sein eigener angenommen wird, deshalb ist er so stark. Das Projekt gegen Homophobie in diesem Teil der Welt ist ein Projekt zur Entkolonialisierung unseres Körpers und unserer Sexualität.