Die Debatten über die NATO-Norderweiterung

Seite 4: Positionen der Nachbarn

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Baltikum

Am 29. März 2004 traten Estland, Lettland und Litauen in der Zweiten Runde der NATO-Osterweiterung der Allianz bei. Damit hat das Bündnis gegen seine eigenen Regeln verstoßen. Zu den Aufnahmekriterien, die die NATO zuvor definiert hatte, gehörte, dass die Länderkandidaten sich selbst verteidigen könnten. Dies ist bei keinem der drei baltischen Staaten der Fall, weil ihnen dazu die geographische Größe und strategische Tiefe fehlt. Nach der Verschärfung der Beziehungen zu Russland in Folge des Ukrainekonfliktes muss die NATO nun eingestehen, dass sie ihre baltischen Mitgliedsländer im Kriegsfall nicht verteidigen könnte. Soweit bekannt deuten die Planungen eher auf eine längerfristige Rückeroberung hin. Eine Erweiterung des NATO-Raumes um Schweden und Finnland würde das Problem der mangelnden Tiefe etwas verbessern.

Daher fordert insbesondere die estnische Regierung die neutralen Anrainerstaaten zum NATO-Beitritt auf. So erklärte Präsident Toomas Hendrik Ilves: "Die ganze Sicherheitssituation in der Ostsee verändert sich, wenn Schweden und Finnland ein Teil der Allianz werden. Aber wir werden euch nicht vorschreiben, was ihr machen sollt."

Ein russischer Angriff auf das Baltikum nach dem Muster der Krim-Annexion hätte zudem fatale Folgen für die Sicherheitslage Finnlands und Schwedens. Beide Staaten müssen für diesen Fall ihre militärpolitischen Entscheidungen vorbereiten.

Dabei ist die mangelnde Verteidigungsfähigkeit der baltischen Staaten durchaus keine Besonderheit. Nach Einschätzung skeptischer Militärexperten sind das Vereinigte Königreich und die Türkei die letzten (west-)europäischen Staaten, die heutzutage noch über ein hinreichendes Militärarsenal verfügen.

Norwegen

Nach der Ablösung aus dem schwedischen Königreich ist Norwegen seit 1905 unabhängig. Das Land ist der einzige NATO-Mitgliedsstaat nördlich der Ostsee. Das Land ist lang gestreckt und weist bei einer Gesamtbevölkerung von gerade mal 5,2 Millionen Einwohnern nur eine geringe Bevölkerungsdichte auf.

Während des Kalten Krieges sahen die Militärpläne der NATO eine Verstärkung der norwegischen Armee durch amerikanische Marineinfanterie vor, aber angesichts der amerikanischen Truppenreduzierungen und anderweitigen Truppenbindungen ist dies heute fraglich. So beklagte sich der Oberbefehlshaber General Sverre Diesen bereits 2007, im Falle eines "ernsten Konfliktes" mit Moskau um Öl, Gas oder andere Bodenschätze in der Arktis würde Norwegen alleine dastehen. Demgegenüber würde ein NATO-Beitritt Schwedens oder Finnlands die Verteidigungsfähigkeit Norwegens in jedem Fall erhöhen.

Noch 2011 und 2012 hatte die norwegische Marine zusammen mit der russischen Nordmeerflotte gemeinsame Manöver (NORTHERN EAGLE, etc.) durchgeführt. Diese Annäherung gehört nun der Vergangenheit an.

NATO

"The Allies view Schweden as an effective and pro-active partner and contributor to international security, which shares key values such as the promotion of international security, democracy and human rights", heißt es gegenwärtig auf der offiziellen NATO-Webseite. Das klingt so, als gäbe es von Seiten der NATO keine Vorbehalte gegen einen Beitritt Schwedens. Allerdings hält sich die NATO bezüglich der Frage ihrer Norderweiterung vornehm zurück. Man unterlässt nach außen hin jeden Versuch, die skandinavischen Staaten zu einem Beitritt zu ermutigen, um bloß keine Ressentiments zu wecken.

Nicht ohne Einfluss dürfte die Tatsache sein, dass der neue NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg selbst Skandinavier ist. In einer persönlichen Stellungnahme bekannte der Norweger zur Frage einer NATO-Norderweiterung:

So I welcome the cooperation with Finland and Sweden as partners of NATO. And we would like to expand… to build on that. When it comes to the question on membership I will leave that to the people of Sweden and Finland to decide. I think that if I start to intervene in that debate I will only cause problems. And that’s not my intention. I think that at least as a Norwegian you should never have any meaning about the internal politics of Sweden and Finland.

Es bleibt abzuwarten, wie sich die Sicherheitsarchitektur in Nordeuropa in den nächsten zehn Jahren entwickeln wird. Finnland und Schweden könnten an ihrer Allianzfreiheit festhalten. Stattdessen könnten sie sich (endlich) für eine NATO-Mitgliedschaft entscheiden. Alternativ dazu gäbe es die Möglichkeiten einer verstärkten EU-Integration oder die Gründung eines mehr oder weniger verbindlichen schwedisch-finnischen-Bündnisses.

Für den Beitritt zur NATO sprechen der zunehmende Kostendruck bei den Verteidigungslasten, die versprochene Beistandsgarantie sowie die andauernde aggressive Politik des russischen Nachbarn mit seinen Grenzprovokationen, seiner Aufrüstung und Expansionsgelüsten. Tobias Etzold und Christian Opitz von der halbamtlichen "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP) in Berlin kommen in einer Kurzstudie vom April 2015 zu folgendem Resümee:

Eine NATO-Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens ist in naher Zukunft wenig wahrscheinlich. Grundvoraussetzungen dafür wären in beiden Ländern ein politischer Konsens, ein Prüfbericht und ein Referendum, was langwierige Prozesse erfordern würde. Jede der alternativen Optionen - Kooperation mit der NATO oder GSVP, bilaterale oder regionale Zusammenarbeit - erscheint für sich allein unzureichend.

Aber ein Beitritt zur NATO würde die bestehenden Problem vielleicht nicht lösen sondern eher noch verstärken: Kritiker befürchten eine Eskalationsspirale, wenn zukünftig NATO-Soldaten an der finnisch-russischen Grenze üben. Russland könnte dann seine Truppen dort ebenfalls verstärken, worauf dann wieder die NATO reagieren müsste. Somit wäre eine Norderweiterung der NATO höchst kontraproduktiv für die Sicherheit in Europa.

Russland

Schon mit der NATO-Osterweiterung rückten die Streitkräfte der Allianz in Mitteleuropa 750 km nach Osten vor und stehen nun auch in diesem Gefechtsbereich direkt an der russischen Grenze. Zu den bündnispolitischen Entwicklungen in Nordeuropa gibt es von russischer Seite höchst unterschiedliche Erklärungen.

Am 4. Juni 2013 erklärte der russische Premierminister Dmitri Medwedew, zwar sei die Frage einer Bündnismitgliedschaft eine Angelegenheit der nationalen Souveränität, dennoch übte er verhaltene Kritik:

Das Vorrücken der Nato an die russischen Grenzen betrachten wir nicht als positiven Fakt für unser Land. (…) Allerdings sind wir der Auffassung, dass die Teilnahme anderer, neuer Staaten an der Allianz keine neue Situation mit der Sicherung der Stabilität schafft. Wir gehen im Gegenteil davon aus, dass jegliche neuen Teilnehmer an der Nordatlantikallianz, die sich in der Nähe unseres Staates befinden, letzten Endes immerhin das Kräftegleichgewicht verändern. Und wir müssen darauf reagieren.

Schließlich ist die NATO eine "Struktur, die ein bestimmtes Kriegspotential hat, das bei einem ungünstigen Zusammentreffen von Umständen gegen Russland angewendet werden könnte".

Zum Teil wird schon eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Neutralen Schweden und Finnland als ein Affront betrachtet. So meinte der russische Militärexperte Alexander Golts: "Jegliche militärische Zusammenarbeit zwischen europäischen Staaten, die eine Partnerschaft mit der NATO haben, wird in Russland als militärische Bedrohung verstanden."

Im Juni 2014 warnte der russische Präsidentenberater und amtierende Direktor des Institutes für Politische Forschungen, Sergej Markow, der für seine markigen Sprüche bekannt ist:

Wenn Finnland der NATO beitreten würde, so sollten Sie zuerst über sich nachdenken. Wollen Sie darin einbezogen werden, den Dritten Weltkrieg zu beginnen? (...) Mit Antisemitismus begann der Zweite Weltkrieg und die Russophobien können dazu führen, einen Dritten zu starten. (...) Russland rät Finnland nicht der NATO beizutreten. In diesem Fall wird sich die Sicherheit in Europa verschlechtern anstatt sich zu erhöhen.

Dass dies nicht nur hohle Phrasen sind, zeigte sich 2013. Damals sollen die russischen Streitkräfte Atomschläge gegen Schweden und Polen durchexerziert haben.