Die Demokratien zerlegen sich selbst
Seite 2: Treueschwüre wie einst im Nazireich
- Die Demokratien zerlegen sich selbst
- Treueschwüre wie einst im Nazireich
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Nie zuvor sei die amerikanische Demokratie "so reif für eine Tyrannei" gewesen wie heute, warnt der Publizist Andrew Sullivan und vergleicht die Situation mit der späten Weimarer Republik. Die USA zeigen nach Ansicht führender Faschismusforscher Symptome der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts in Europa. Nie war Amerika dem Faschismus so nahe wie heute.
Mehrmals forderte der Republikanische Bewerber um die Präsidentschaft seine Anhänger dazu auf, die rechte Hand zu heben und ihm die Gefolgschaft zu geloben: "Ich schwöre, dass ich - egal wie ich mich fühle, egal wie die Verhältnisse sind, ob es Hurrikane oder andere Hindernisse gibt - für Trump als Präsidenten stimmen werde", lautet der feierliche Schwur.
Zehntausende hoben ihren rechten Arm und schworen. Und das ist nicht bloß geschmacklos. Amerikanische Kommentatoren zogen den Vergleich zu Adolf Hitler. Offenbar ist Amerika - und nicht nur Amerika - auf dem Höhepunkt der demokratischen Entwicklung anfällig für einen autoritären und stramm nationalistischen Führer geworden.
Selbst in Japan breiten sich extremer Nationalismus und Militarismus unter Ministerpräsident Shinzo Abe aus. Die Leugner japanischer Kriegsverbrechen wittern Morgenluft. Die Anhänger der extremen Rechten sind erstaunlich präsent in der Öffentlichkeit und können unbehelligt von der Polizei ihr Unwesen treiben. In Japan findet eine bösartige Kampagne von extremen Nationalisten statt, die das Ziel verfolgt, jeden Widerstand gegen die Geschichtsverfälschungen der Regierung zu unterdrücken.
Die Kampagne, mit der Abe und andere rechte Nationalisten versuchen, die Kriegsverbrechen der japanischen Armee zu verharmlosen, dient eindeutigen, aktuellen politischen Zielen. Angesichts des globalen Wirtschaftszusammenbruchs und wachsender geopolitischer Spannungen betreibt die Regierung Abe eine Remilitarisierung, um die Interessen des japanischen Imperialismus wie in den 1930er und 1940er Jahren mit militärischen Mitteln durchzusetzen.
In den letzten beiden Jahren hat Abe schrittweise den Militärhaushalt erhöht und die japanische Verfassung so "uminterpretiert", dass "kollektive Selbstverteidigung", also die Teilnahme an amerikanischen Angriffskriegen, erlaubt ist. Inzwischen ist ein neues Gesetz über Staatsgeheimnisse in Kraft, das große Teile der Regierung vor der Kontrolle der Öffentlichkeit abschirmt.
Schon merkwürdig: Von den USA über Europa bis hin nach Japan finden in allen entwickelten Demokratien ähnliche Erosionsprozesse statt, die man als nachhaltigen Rechtsruck bis hin zur Faschisierung der bestehenden Gesellschaften bezeichnen kann, und keiner will’s gemerkt haben. Überall sind die Demokratien in höchster Gefahr.
In Europa und namentlich in Deutschland hat man jahrzehntelang all diese Entwicklungen in Richtung "Rechts" und "Faschismus" mit dem Totschlagargument abgebügelt, das sei Politikverdrossenheit und schon deshalb strikt abzulehnen.
Das leichtfertige Gerede von der "Politikverdrossenheit" suggeriert die absolut abwegige Implikation, es handele sich dabei um ein Problem der Bürger. Die seien geistig verwirrt, müde, schlapp, lustlos und antriebsarm. Sie befänden sich auf einem gefährlichen Irrweg und litten an einer schwer heilbaren Gemütskrankheit. Gerade darin liegt die Infamie des psychologisierenden Begriffs für ein Phänomen, das mit Psychologie nichts zu tun hat, sondern mit Politik und politisch verhärteten Strukturen.
Man müsse denen nur wieder Appetit auf die Freuden des demokratischen Lebens machen. Dann geht’s flugs wieder bergauf. Deshalb sprechen viele Wissenschaftler und erst recht die meisten Politiker, die sich mit dem "Problem der Politikverdrossenheit" beschäftigt haben, von der "Therapie", als handele sich um eine Art Depression.
Mit Penizillin gegen die Politikverdrossenheit
Besonders amtierende Politiker sind da in ihrer hochmütigen Anmaßung völlig hemmungslos. Der CDU-Politiker und große Heiler politischer Gebrechen Wolfgang Bosbach ("Nur wenn die Diagnose richtig ist, kann auch die empfohlene Therapie wirksam sein." ) kommt erst gar nicht auf die Idee, dass der Grund oder gar die Schuld für die Verdrossenheit irgendwo anders als in den verwirrten Köpfen der Bürger zu suchen sein könnte.
So betont er den Gedanken, dass ein Politiker es nun mal schwer hat. Alle wollen etwas von ihm. Alle zerren an ihm: "Es jedem recht zu machen, und jeden Wunsch zu erfüllen, ist (auch in der Politik) leider ein klassischer Fall objektiver Unmöglichkeit. Zu oft gibt es widerstreitende Interessen. Gerade deshalb sollten Politiker und Parteien ihre Entscheidungen nicht nur verkünden, sondern sorgfältig begründen, damit sie nachvollzogen werden können." Wenn die das tun, kämen die Bürger erst gar auf die Idee, in Verdrossenheit zu schwelgen, schreibt Bosbach. So einfach ist das. Man muss nur wissen, wie es geht…
Und ganz und gar fremd ist ihm der Gedanke, dass die Bürger gute Gründe haben könnten, sich von der Politik zurückzuziehen und in Millionenmassen die Mitgliedschaft in politischen Parteien aufzugeben.
Schließlich seien alle, die in die Politik gehen, ja, die besseren Menschen, auf jeden Fall aber die besseren als alle anderen: "Die Vorurteile gegenüber Politik und Politikern sind seit langem bekannt: 'Politisch Lied - ein garstig Lied', heißt es in Faust I, und 'Politik verdirbt den Charakter', ist auch so ein Satz, der gerne zitiert wird. Zugegeben: Es mag Charaktere geben, die die Politik verderben, aber wieso politisches Engagement für die Charakterbildung schädlich sein soll, konnte bis heute niemand überzeugend erklären. Wer sich nicht durch vorschnelle Urteile von der politischen Arbeit abhalten lassen will, sollte sich ein eigenes Bild von Politik und Partei machen, und auch hier gilt: Runter von der Tribüne, rauf auf das Spielfeld - und besser machen!"
In der CSU war man 2011 gar der Ansicht, Karl-Theodor zu Guttenberg sei gar wie "Penizillin gegen die Politikverdrossenheit" und könne deshalb im Wahlkampf gut helfen.
Doch der Begriff der Politikverdrossenheit führt in die Irre, suggeriert er doch, die Verdrossenheit der Leute sei die Quelle des Problems. In Wahrheit ist das Gegenteil wahr: Die Politik hat das Vertrauen der Bevölkerung erst missachtet und dann verspielt. Verdrossenheit ist keine launische Verwirrung der Menschen. Es ist die Reaktion der breiten Bevölkerung auf die Missachtung ihres allgemeinen Wohls durch die gewählten Repräsentanten und ihre Politik.