Die Demokratien zerlegen sich selbst

Seite 3: PR-Kunststückchen und Reklame als Heilmittel

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Es passt ins Bild, dass die amtierenden Politiker die "Politikverdrossenheit" jahrzehntelang mit albernen öffentlichen Auftritten aus der PR-Mottenkiste unter Kontrolle zu bringen versucht haben: Sie traten im Fernsehen auf, der eine in der Idiotensendung "Big Brother" ("Man muss die Leute auch ein bisschen für Demokratie, für Politik interessieren, damit sie nicht weggucken."), der andere in "Gute Zeiten, schlechte Zeiten".

Auch durch Plakatwerbung versuchte man immer wieder, das politische Interesse der Bevölkerung mit Werbeplakaten zu wecken. Politik soll als Animateursaufgabe für gute Laune sorgen und alle Verdrießlichkeit vertreiben. Dahinter stand stets die Überlegung, wenn es schon Produzenten gelingt, mit Hilfe von Reklame Produkte zu verkaufen, dann kann man bestimmt auch Politikbegeisterung mit Werbung erzeugen.

Doch weil sie die wahren Verhältnisse erst auf den Kopf stellten und dann interpretierten, glaubten die Politiker allen Ernstes, sie könnten sich mit ein bisschen Propaganda gegen Politikverdrossenheit aus der selbsterzeugten Patsche helfen, die darauf zielte, die frohe Botschaft vom fabelhaften Funktionieren der Demokratie "‘rüberzubringen" und das Problem durch Kommunikation von oben nach unten aus der Welt zu schaffen.

Das ist ein kreuzabsurder und zutiefst verlogener Ansatz: Die Herrschenden bringen das einfältige Volk mit Hilfe von Propaganda und allerlei PR-Kunststückchen wieder dazu, den Glauben an seine eigene Herrschaft zu bewahren. Deutlicher können Politiker ihr manipulatives Verständnis von Demokratie gar nicht zeigen.

Und zumindest eine stattliche Reihe von Wissenschaftlern hat sich durch die semantische Verlogenheit des Begriffs der "Politikverdrossenheit" ebenso willig instrumentalisieren lassen und das Verdrossenheitspferd von hinten aufgezäumt.

So gab es Studien, die untersuchten, ob "die Skandalberichterstattung der Medien Effekte auf die Einstellungen der Bürger zur Legitimität des politischen Systems hat" und bei denen es zu prüfen galt, ob die subjektive Wahrnehmung und Verarbeitung der Medieninhalte ein Faktor ist, der bei der Untersuchung von Medienwirkungen berücksichtigt werden muss."

Auch wenn einige dieser Studien am Ende ein relativ differenziertes Urteil fällten und feststellten, dass politische Skandale nur eine von zahlreichen Ursachen für politische Unzufriedenheit sind, ist die Ausgangsposition falsch, weil sie exogene Faktoren untersucht und den Beitrag der Politik auf die Unzufriedenheit mit der Politik als zu vernachlässigenden Faktor betrachtet. Das ist so absurd wie die Vermutung, dass die Gäste ein bestimmtes Speiselokal vermeiden, weil sie unter Depressionen leiden und nicht etwa wegen des schlechten Essens, das es dort gibt. Bloß: Gastronomen erkennen den Denkfehler sofort. Wissenschaftler sind sich da nicht so sicher.

Da eiern dann so manche Untersuchungen dermaßen lächerlich um den heißen Brei herum, dass man sich mitunter fragen könnte, ob denn in den wissenschaftlichen Instituten lauter Idioten umherlaufen.

So formulierte eine Studie, schließlich sei ja "die Entwicklung von einem wahrgenommenen Regelverstoß zu einem allgemeine Empörung hervorrufenden politischen Skandal überaus komplex und von zahlreichen Einflussfaktoren abhängig, wobei die Aufmerksamkeit, die die Massenmedien den angezeigten Missständen und Verfehlungen widmen, als eine zentrale Größe für den Karriereverlauf von Skandalen identifiziert wurde.

Darüber hinaus ist es nicht nur denkbar, dass politische Skandale Politikverdrossenheit fördern, sondern die umgekehrte Variante - das Anwachsen der Zufriedenheit mit den politischen Parteien, ihren Repräsentanten und der Demokratie - ist (sofern politische Skandale nicht überhand nehmen, wie dies etwa in Italien der Fall ist) bei erfolgreicher Skandalierung von Missständen und Verfehlungen sowie einer Sanktionierung der verantwortlichen Personen ebenso plausibel." Wie denn? Wo denn? Was denn? Und so geht das in einem fort. Besonders beliebt ist die Fragestellung, welche Eigenschaften des Medienangebots für die Entstehung von Politikverdrossenheit von Bedeutung sind. Die stellen dann voller Erstaunen fest, das liege vor allem am Negativismus - was immer das auch sein könnte - und der Skandalberichterstattung oder an noch viel abwegigeren Dingen, die sich ein weltfremder, kleinkariert vor sich hin brütender Wissenschaftler in seinem Kopf so ausdenkt.

Vermutet wird aber auch, dass Politainment einen negativen Einfluss haben könnte. So wurden in einem Fall die theoretisch plausiblen Wirkungen von unterschiedlichen Unterhaltungs- und Politainmentformaten erörtert und dann empirisch untersucht. Im Fokus der Studie stand die Frage, welchen Einfluss Nutzung und Bewertung politischer Unterhaltungsformate (= Politainment, wie zum Beispiel Talkshows oder politische Satire) auf die Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger zur Politik haben.

Erste Ergebnisse zeigten dann auch, dass sich die Fans dieser Politainmentformate selbst als politisch desinteressierter einschätzen als die Fans von "klassischen" Informationsangeboten. Drum haben die Politainment-Fans generell eine negativere Einstellung zur Effektivität des politischen Systems, zur Responsivität und Integrität politischer Akteure und gehen seltener zur Wahl als Info-Fans. Ja, dass da vorher noch keiner draufgekommen ist!

Man fragt sich, was denn der Sinn solcher Untersuchungen ist, wenn nicht einfach Schrott zu produzieren, den andere Schrottproduzenten für neue Dissertationen und andere Studien verwursten können. Soll sich jetzt jemand Kommunikationsstrategien ausdenken, die Rezipienten von Talkshows davon abhalten, Talkshows anzuschauen? Oder soll man darüber nachdenken, Talkshows zu verbieten? Quatsch mit wissenschaftlicher Soße bleibt nun einmal Quatsch mit wissenschaftlicher Soße.

Den Vogel abgeschossen hat indes unzweifelhaft eine Studie über den Beitrag der ZDF-Satire "heute show" zur Politikverdrossenheit. Darin heißt es allen Ernstes: "Vorwürfe, die 'heute show' würde zu einer Politikverdrossenheit beitragen, können … infolge einer kurz- bis mittelfristigen Rezeption nicht bestätigt werden." Große Erleichterung. "Vielmehr deutet sich an, dass die Rezeption der 'heute show' bei 18- bis 26Jährigen zu einer Art Verdrossenheit gegenüber Politikern führt." Schlussfolgerung? Muss man jetzt besonders heftige PR-Maßnahmen auf 18- bis 28jährige Menschen richten, damit die wieder auf Linie kommen und von ihrer frevelhaften Verdrossenheit ablassen? Manchmal kann es einen in die Verzweiflung treiben, was so alles im Gewande der Wissenschaftlichkeit an krausem Zeuch daherstolziert kommt…

Verdrossenheit oder Verdruss?

Bloß die Frage, ob denn die praktische Politik, das über Jahrzehnte beobachtbare politische Geschehen oder gar die politischen Entscheidungsstrukturen etwas zur Politikverdrossenheit in einem Lande beitragen könnten, scheint die Wissenschaft nicht sonderlich zu interessieren. Doch genau da liegt der Hase im Pfeffer.

Wenn man nämlich die Bürger befragen würde, würden die antworten: "Wir sind politikverdrossen, weil die Politiker aller politischen Parteien uns dafür Tausende von guten Gründen liefern. Nicht die Verdrossenheit ist das Problem, sondern eine Politik, die nur Verdruss bereitet."

Die gewissermaßen urdemokratische Gesellschaft der Gleichen und vor allem Gleichberechtigten, die miteinander in einer horizontalen Sozialbeziehung standen, hat sich im Verlauf vieler Jahrzehnte zur Gesellschaft der Ungleichen und vor allem Ungleichberechtigten gewandelt, die in einer vertikalen Sozialbeziehung zueinander stehen. Historisch gesehen hat die Herrlichkeit der Illusion von demokratischer Gleichheit und Gleichberechtigung nur eine kurze Zeit gedauert. Dann sind die vordemokratischen Strukturen mit vollerer Wucht als je zuvor wieder durchgeschlagen.

Doch die in praktisch allen etablierten Demokratien herrschende und sich kontinuierlich weiter ausbreitende Politikverachtung kann nur Gründe haben, die im System der etablierten Demokratien selbst ruhen. Das System "repräsentative Demokratie" selbst hat die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit erreicht. Und wenn sich die Verantwortungsträger weiter gegen die Erkenntnis wehren, dass der Niedergang der Herrschaftsform "Demokratie" bereits in vollem Gange ist, dann wird das Ende der Demokratie unvermeidlich sein und gewissermaßen über Nacht über alle hineinbrechen. Und wenn sie sich einmal nicht mehr dagegen wehren sollten, ist es auch längst viel zu spät.

Wolfgang J. Koschnick ist Autor des Buchs "Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr. Das Ende einer Illusion. Westend Verlag 2016.