"Die Diskussion über Atomwaffen ist von Legenden und Mythen bestimmt"

Seite 2: Alle NATO-Staaten mit Ausnahme der Niederlande haben sich dem Druck der USA gebeugt

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Bis auf die Niederlande nehmen an den Verhandlungen keine anderen NATO-Staaten teil - auch Deutschland nicht. Wie erklären Sie sich das?

Dieter Deiseroth: Zwischenzeitlich sind dazu wichtige Dokumente öffentlich bekannt geworden. Daraus ergibt sich, dass die US-Regierung noch unter Präsident Obama durch ein Schreiben ihrer Ständigen Vertretung bei der NATO in Brüssel vom 17. Oktober 2016 die Regierungen aller NATO- Staaten eindringlich davor gewarnt hat, bei der Abstimmung in der UN-Generalversammlung der Resolution, mit der die Aufnahme der Verhandlungen über einen Atomwaffen-Verbotsvertrag beschlossen werden sollte, zuzustimmen oder sich auch nur zu enthalten.

Des Weiteren hat sie gefordert, im Falle einer Annahme der UN-Resolution keinesfalls an den Verhandlungen über einen Atomwaffen-Verbotsvertrag teilzunehmen. Anderenfalls sei aus den im Einzelnen dargelegten Gründen die NATO-Nuklearpolitik in Gefahr, delegitimiert zu werden.

Alle NATO-Staaten mit Ausnahme der Niederlande haben sich diesem Druck gebeugt. Die große Mehrheit der Staatenvertreter in der UN-Generalversammlung hat dagegen am 23.12.2016 bzw. 24.12.2016 deutscher Zeit beschlossen, dass über ein solches vertragliches Atomwaffenverbot verhandelt werden soll, was jetzt seit März 2017 geschieht.

Was halten Sie davon, dass Medien bisher kaum über die Konferenz und die Verhandlungen über den Atomwaffen-Verbotsvertrag berichten?

Dieter Deiseroth: Die Diskussion über Atomwaffen in unseren westlichen Demokratien ist heute weitgehend von Legenden und Mythen bestimmt, die auch in den Medien wirksam sind. Zu der am weitesten verbreiteten Legende gehört die These, das nukleare Abschreckungssystem habe in den Zeiten des Kalten Krieges und darüber hinaus bis heute seine Wirksamkeit und Funktionsfähigkeit eindrucksvoll unter Beweis gestellt und so für uns den Frieden in der Welt gesichert.

Das scheint für viele Menschen, auch in den Medien, evident und einsichtig zu sein. Dabei ist es schon ein logischer Fehlschluss, umstandslos von einem "post quod", also von einem zeitlichen Nacheinander ("erst Atomwaffen und danach Frieden") auf ein "quod quod", also eine Kausalität ("weil Atomwaffen, deshalb Frieden") zu schließen.

Vor allem aber missachtet diese Legende das Faktum, dass es in den vergangenen mehr als 70 Jahren des Atomwaffenzeitalters zumindest 20 äußerst kritischer Situationen - im Osten wie im Westen - gab, in denen die Welt am Rande des nuklearen Infernos stand. Allein aufgrund sehr glücklicher Umstände und Zufälligkeiten, wie es der frühere US-amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara formuliert hat, entging unsere Welt einer nuklearen Katastrophe.

Und die weiteren Legenden?

Dieter Deiseroth: Eine weitere, zudem sehr weit verbreitete Legende besteht in dem Glauben, ein in der nuklearen Abschreckungspolitik der Atomwaffenstaaten und ihrer Verbündeten angedrohter Einsatz von Atomwaffen sei legal. Auch diese Legende, die viele rechtschaffende Menschen - auch in den Medien - beruhigt, ist nicht richtig, wie sich gerade aus der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs ergibt, der dazu im Juli 1996 auf Anforderung der UN-Generalversammlung ein Rechtsgutachten vorgelegt hat, das die geltende Rechtslage eingehend darlegt.

Diese beiden von mir angesprochenen Haupt-Legenden sind wirksam und tragen gerade auch in vielen Medien dazu bei, Gehirne zu vernebeln und wichtige Vorgänge wie die aktuellen Verhandlungen in New York demgegenüber zu einem peripheren Randereignis einzustufen, über das zu berichten sich nicht lohne.

Wie kann man sich die augenscheinliche Wirksamkeit dieser - wie Sie sagen - Legenden erklären?

Dieter Deiseroth: Die Ursachen dafür sind wissenschaftlich bisher nur unzureichend erforscht. Es gibt aber einige plausible Hypothesen.

Welche Erklärungsversuche meinen Sie?

Dieter Deiseroth: Fakt ist: Die weitaus meisten derjenigen, die in den Medien, vor allem in den sogenannten Leitmedien arbeiten, versagen sich bisher weitgehend einer kritischen Hinterfragung dieser beiden Legenden. Wer aus dem "Mainstream" heraustreten und nicht einfach "mitschwimmen" will, muss kritisch "nachbohren". Das kostet Zeit und Kraft. Und man muss sich persönlich exponieren - vor allem in der Redaktion, gegenüber der Kollegenschaft, in beruflichen und privaten Kontaktzirkeln, im Umgang mit einflussreichen Entscheidungsträgern in den Medien und in der Politik.

Die Sozialisations- und Ausbildungsbedingungen von Journalisten sind vielfach nicht auf ein Erlernen und Einüben solcher Interaktionsmodi ausgerichtet, die gerade auch kritische Standfestigkeit und Konfliktbereitschaft erfordern. Um wieviel leichter und kräftesparender ist demgegenüber für viele Medienleute dagegen eine Orientierung am Status quo, an der Hegemonie des vorherrschenden "Zeitgeistes" und den ihm zugrunde liegenden Einfluss- und Interessenstrukturen.

Zudem wissen wir etwa aus der Netzwerk-Studie des Leipziger Medienwissenschaftlers Uwe Krüger, dass es zum Beispiel einflussreiche transatlantische Verflechtungen von Journalisten, Publizisten, Politikern und wichtigen Entscheidungsträgern gibt, die gerade auf dem Felde der nuklearen Sicherheitspolitik zusammenwirken, sich abstimmen und sich gegenseitig unterstützen und stabilisieren. Dabei geht es auch um Reputationsgewinn, Geld, medialen Einfluss und künftige lukrative Engagements.