Die Entdeckung der Vaterschaft
Seite 3: Skandal im Paradies
Es war die Zeit der großen Umbrüche und Erfindungen, die sich zwar über fast 10.000 Jahre hinzog, dennoch heute meist unter dem Begriff "neolithische Revolution" zusammengefasst wird. Die neue, auf Ackerbau, Viehzucht und Vorratshaltung beruhende Lebensweise erlaubte den Bau von Tempeln, Siedlungen und Städten und die Unterhaltung von Heeren. Die Sklaverei wurde erfunden, aber auch Töpferei, Münzgeld, Papier und Schrift. Die monotheistischen Religionen lösten schließlich die Vielgötterwelten ab.
Der eigentliche Epochenwechsel bestand aber in der "Erfindung" des Privateigentums, damit von Arbeit und Ausbeutung. Folgt man den Autoren Carel van Schaik und Kai Michel (sie wurden jüngst in Telepolis zu ihrem neuen Buch Die Wahrheit über Eva interviewt), ich zitiere jedoch aus dem 2017 erschienenen Buch Das Tagebuch der Menschheit), so ist es das Privateigentum, das gesichert werden musste. Denn offenbar fehlte den damaligen Menschen die Einsicht:
Mit dem Sesshaftwerden wurde eines der fundamentalen Gesetze menschlichen Zusammenlebens ausgehebelt, eines, das eine halbe Ewigkeit lang ein alltägliches Gebot gewesen war: Nahrung muss geteilt werden! Die neue Idee des Eigentums unterläuft die urmenschliche Solidarität. Plötzlich wird ein Allgemeingut - das Nahrungsangebot der Natur - monopolisiert. Das ist der Skandal! Hier wird eine alltägliche, lebensnotwendige Handlung - das Sammeln von Früchten - nicht nur untersagt; sie wird kriminalisiert.
Die Sünde der beiden naiven ("nackten") Erstmenschen, die noch der Ethik der Wildbeutergesellschaft verhaftet waren und sich dieser Naivität nicht schämten, bestand also darin, fremdes Eigentum – das Eigentum Gottes – angerührt zu haben. Die Strafe war so hart wie der Mundraub banal, doch es ging ja ums Prinzip und um die Abschreckung. Immerhin blieb ihnen der angedrohte Tod erspart. So milde war später die weltliche Justiz nicht mehr. In England stand bis ins 16. Jahrhundert, berichtet Mark Twain, auf Diebstahl im Wert von mehr als 13,5 Pence die Todesstrafe.
(Am Rande: Erinnert Sie das nicht auch an die gegenwärtigen Kämpfe um eine andere Ressource, die Allgemeingut sein sollte: Wissen? An das Gerangel um Zeichen- und Sekundenzahlen bei Zitaten und an die harten Strafen für "Raubkopierer"?)
Das einzige, was gegen die Interpretation des Sündenfalls als Eigentumsdelikt spricht, ist, dass sie nicht schon lange von Priestern und Kirchenvätern selbst vertreten wird. Schließlich stehen die ja zum größten Teil auf der Seite der jeweiligen "gottgegebenen" Eigentumsordnung, egal ob feudal oder kapitalistisch. Selbst der große Reformer Luther predigte gegen die "räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern" und forderte die Vernichtung der Aufrührer.
Die verbotenen Früchte am Stammbaum der Erkenntnis
Der "Baum der Erkenntnis von Gut und Böse" ist das wohl größte Rätsel der Genesis, und zudem ist er "im Orient gänzlich vorbildlos", wie van Schaik und Michel schreiben. Die Art der Frucht spielt für sie keine Rolle, auch in der Bibel bleibt dies unbestimmt. Plausibel erscheint die Feige, weil die Sünder gleich nach dem Genuss ihre Blöße mit Feigenblättern bedeckten. Erst im späten Mittelalter wird der Baum als Apfelbaum dargestellt. Konsens ist, dass es wohl "süße" Früchte gewesen sein müssen, mit denen die Schlange Eva und diese dann Adam verführte.
Die sexuelle Deutung lag immer auf der Hand, wurde aber von den führenden Bibelauslegern bestritten - das Elternpaar der Menschheit sollte zumindest im Paradies noch "rein" geblieben sein. Zudem sei der Rausschmiss der Verfehlung auf dem Fuß gefolgt, für Sex gar keine Zeit gewesen. Dante bezifferte (nach Flasch) die gesamte Verweildauer des Paares im Paradies auf sieben Stunden.
Allerdings verweist die Feige recht direkt auf die sexuelle Deutung, denn sie ist wegen ihrer Form von alters her Symbol der Vulva. Ihr lateinischer Name fica steckt als Wurzel noch in heutigen Vulgärwörtern für Koitus. Das bekannteste Symbol für Liebe, das Herz, geht auf die Form einer aufgeschnittenen Feige zurück.
Pikanterweise gibt es unter den christlichen Baumdarstellungen auch welche mit botanisch völlig inkorrekten Früchten. Am eindruckvollsten ist wohl das 800 Jahre alte Fresco eines Phallusbaums in Massa Marittima in der Toskana. Mehrere Frauen pflücken die prallen Früchte in einen Korb. Eine direkte Paradiesdarstellung ist dies offenbar nicht, doch die Anklänge sind unübersehbar, zumal sogar eine Schlange am Fuß des Baumes erkennbar sein soll.
Steckt also im "Baum der Erkenntnis" - was hier behauptet sein soll - das Sinnbild der Zeugungserkenntnis? Die Erkenntnis der Vaterschaft muss wie gesagt für das Weltbild der frühen Menschen ähnlich umwälzend gewesen sein wie die Erkenntnis des Todes. Es wäre also nicht verwunderlich, sie auch in der Bibel zu finden.
Aber was hat es dann mit "Gut und Böse" auf sich? Gibt es denn eine "gute" und eine "böse" Zeugung?
Wenn man die christliche Kirche fragt, lautet die Antwort eindeutig Ja. Sie hat zumindest alles dafür getan, dass es diese Unterscheidung gibt. "Gut" ist nur die unbefleckte Empfängnis, weshalb Jesus kontaktlos vom Heiligen Geist gezeugt worden sein musste und Maria laut gültigem Dogma auch noch nach der Geburt Jungfrau blieb. Wohl keine Sünde, eher ein notwendiges Übel ist die eheliche Zeugung, die aber "ohne Begierde" zu erfolgen hätte, wie viele Kirchenväter postulierten. Jede andere Form von Sex, auch ehelicher ohne Zeugungsabsicht (deshalb das noch immer gültige Verbot von Kondom und Pille), sei Sünde.
Es bleibt aber die Frage nach dem Sinn solch rigider Sexualmoral, wo hat sie ihre Wurzeln? Sicherlich nicht in der persönlichen Philosophie oder Frustration früher Propheten. Van Schaik und Michel verweisen auf die mit der Sesshaftigkeit gewachsene Gefahr von Geschlechtskrankheiten, vor allem aber auf den neuen Besitzanspruch des Mannes.
Zum Privatbesitz des Patriarchen wird, neben Acker und Ernte, nun auch die Frau, die vor den Begehrlichkeiten Anderer verhüllt und weggeschlossen wird. Oder sie wird gezielt geschäftlich verwertet - verheiratet oder verkauft -, bis dahin muss sie natürlich möglichst "neuwertig" bleiben.
Voraussetzung für diese fatale Entwicklung ist wieder die Zeugungserkenntnis. Diese gestattet es dem Mann, sich selbst - in völliger Umkehrung der bisherigen Glaubensordnung - als Schöpfer neuen Lebens und die Frau als bloßes Werkzeug anzusehen. Und die Zeugungserkenntnis baut nun auch die Ahnenfolge völlig um. Genealogie war den Sippen immer wichtig und Stammbäume gab es sicherlich schon in prähistorischer Zeit.
In matrilinearen Sozialordnungen fehlten ihnen jedoch die Väter. Nun lassen sich die Ahnenfolgen entsprechend ergänzen. Das ist die Erkenntnis, die den Menschen am Übergang von der Wildbeuter- zur Ackerbaugesellschaft die Augen öffnet. Sie pflücken sie, bildlich gesprochen, vom (Stamm-)Baum, an dem nun nicht nur Feigen als Symbol der Mütter hängen, sondern auch Phalli.
Vaterrecht ersetzt Mutterrecht
Wenn es dabei geblieben wäre, hätten wir heute eine gerechtere Welt. Doch dem nun mit dem Wissen um die Zeugung ausgestatteten Adam genügte es nicht, gleichberechtigt mit Eva den Stammbaum der Menschheit zu begründen. Schon die nächsten Kapitel der Genesis machen das eindeutig klar: Wo Geschlechterfolgen aufgeführt werden, sind daraus die Frauen fast vollständig getilgt.
In ermüdend langen Aufzählungen werden dagegen akribisch die Söhne, deren Söhne und wieder deren Söhne namentlich genannt. Die Botschaft ist eindeutig: Für die Genealogie und damit auch die Erbfolge gelten nur die Männer. Das ist eine radikale Umkehr der früheren matrilinearen Geschlechterfolge, mit dramatischen Folgen. Paul Lafargue schreibt 1886:
Der Übergang der Abstammung von der Mutter auf den Vater bedeutet eine soziale Revolution; er beraubte die Frau ihrer Güter, ihrer durch das Alter und die Religion geheiligten Vorrechte. Diese Umwälzung ging nicht immer auf friedlichem Weg vor sich: Ihre Geschichte ist mit blutigen Lettern in eine Sage Griechenlands geschrieben, dessen größte Dichter daraus Dramen verfaßten.
Lafargue analysiert als Beispiel die "Orestie" von Aischylos. Die Trilogie spielt in einer Zeit der Blutrache, die auch innerhalb von Familien wütet. Klytaimnestra tötet mit Hilfe ihres Geliebten Aigisthos ihren Ehemann Agamemnon, weil der ihre gemeinsame Tochter Iphigenie der Göttin Artemis geopfert hat, um den Trojanischen Krieg beginnen zu können. Iphigenies Bruder Orestes rächt seinen Vater, indem er sowohl Aigisthos als auch seine Mutter Klytaimnestra tötet.
Muttermord war in der alten, mutterrechtlichen Ordnung das schlimmste aller Verbrechen, deshalb fordern die Rachegöttinen (Erinnyen bzw. Eumeniden) Sühne. Doch in einer Art Gerichtsprozess, in den sich Apollon und Athene höchstpersönlich einmischen, wird Orestes freigesprochen. Apollon repräsentiert die neue vaterrechtliche Ordnung und Athene ist seine Kronzeugin, denn sie ist von keiner Mutter geboren, sondern dem Kopf von Gottvater Zeus entsprungen (in voller Kriegsrüstung übrigens). Vatermord wiegt nun schwerer als Muttermord und muss, auch gegen die Mutter, gesühnt werden. Aufschlussreich ist die Begründung Apollons:
Drauf sag ich also, mein gerechtes Wort vernimm:
Nicht ist die Mutter ihres Kindes Zeugerin,
Sie hegt und trägt den eingesäten Samen nur;
Es zeugt der Vater, aber sie bewahrt das Pfand,
Dem Freund die Freundin, wenn ein Gott es nicht verletzt.
Mit sichrem Zeugnis will ich das bestätigen:
Denn Vater kann man ohne Mutter sein - Beweis
Ist dort die eigne Tochter des Olympiers Zeus,
Die nimmer eines Mutterschoßes Dunkel barg, …
Für die neue vaterrechtliche Ordnung existiert nun noch nicht einmal mehr eine Blutsverwandtschaft zwischen Mutter und Kind. Der Schnitt ist so radikal, dass Orestes der Sage nach später sogar seine Halbschwester mütterlicherseits (Erigone) heiraten durfte. Von nun an ist die Mutter nur das Gefäß, in dem der Samen des Mannes (in dem das Kind schon komplett als Homunkulus angelegt sein soll) bis zur Geburt heranreifen kann. Diese Ansicht hielt sich bis ins 19. Jahrhundert, die menschliche Eizelle wurde erst 1827 entdeckt.
Die Geburt der Verantwortung
Aus männlicher Sicht dürfte diese Entdeckung zu den Kränkungen zu zählen sein, die (laut Sigmund Freud) neben den Entdeckungen von Kopernikus (die Erde ist nicht Mittelpunkt der Welt), Darwin (der Mensch stammt "vom Affen" ab) und Freud selbst (der Mensch ist Sklave seines Unbewussten) an seiner Einzigartigkeit als "Krone der Schöpfung" knabbern. Schließlich konnte er sich durch eine andere Bibelgeschichte sogar ein wenig Gott ebenbürtig fühlen. 41 Tage nach der Kreuzigung erhielt Jesus per Himmelfahrt den Platz an seines Vaters Seite, was heute viele als "Vatertag" feiern.
Der Preis dafür war jedoch hoch: Es war der absolute Gehorsam des (nach Adam) zweiten Gottessohns bis in den Tod am Kreuz. Damit lesen sich diese Bibelstellen als höhst effektive Unterdrückungsmuster nicht nur gegen Frauen, sondern ebenso gegen Männer. Es geht um den blinden Gehorsam, den Eva und Adam verweigerten, den Jesus nachholte und damit "Erlösung" brachte.
Es geht um die völlige Unterwerfung unter einen "Gott", der für die jeweilige Ordnung steht, in erster Linie für eine Eigentumsordnung, deren Sinn der Vernunft nicht zugänglich ist – weil er eben unvernünftig ist. Aber die Gedanken des oder der Herren sind sowieso für die "Sterblichen" unergründlich.
Das galt und gilt für Feudalherren, die ihre Macht direkt göttlich legitimieren, bis zu Unternehmern, die ihre Entscheidungen aus unabänderlichen Marktgesetzen herleiten. Hier wirkt eine Untertanenideologie, die spätestens seit der bürgerlichen Revolution anachronistisch geworden ist und so gar nicht zum Ideal der Demokratie passt. Aber überlassen wir dieses Dilemma den Gläubigen, in denen es ja auch sehr differenzierte Strömungen und viele Reformbemühungen gibt.
Halten wir uns lieber an die vorwärtsweisende, die gute Seite der Zeugungserkenntnis: Mit ihr ist die Verantwortung in die Welt gekommen. Jahrhundertausende konnten sich die Menschen hinter Dämonen und Göttern, hinter dem Schicksal, dem Freud'schen Unbewussten und schließlich sogar den Hirnforschern verstecken, die angeblich bei neurologischen Experimenten keinen freien Willen entdecken konnten. All das ist widerlegt.
Die Zeugungserkenntnis zeigte den Menschen erstmals etwas, was sie zuvor nur den Göttern zustanden: Sie können selbst Schöpfer sein! Wo Freud nur Kränkungen fand, finden wir hier die erste Ehrung, die Erhebung des Menschen über seine tierische Natur.
Die Menschen lernten damit aber auch, dass sie für etwas verantwortlich sein können, was sie nicht gewollt haben und was auch noch zeitlich und räumlich weit entfernt ist. Eine auch heute noch schwierige und nicht allgemein verbreitete Denkleistung, wenn man nur die jahrzehntelange Leugnung des menschenverursachten Klimawandels nimmt. Die Menschen vor 10.000 Jahren machten den Anfang, und wir lernen immer noch.
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