Die Euro-Schuldenkrise und die Politik hilflosen Gehampels

Seite 4: Wenn Ökonomie und Politik aneinander vorbeireden

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Man kann daran sehen, dass die Finanzen der europäischen Bürger bei diesen Politikern in den allerschlechtesten Händen sind. Und man kann auch sehen, dass der Druck zu ständig steigender Staatsverschuldung so stark ist, dass die Politiker ihm auch dann nicht widerstehen können, wenn sie es wirklich wollen und selbst Regeln geschaffen haben, die das verhindern sollen.

Sie schaffen es noch nicht einmal, ihre selbst entwickelten Regeln einzuhalten. Und da gibt es wirklich noch Leute, die glauben, die immense Verschuldung aller demokratischen Staaten sei tatsächlich zurückzuschrauben. Aber doch nicht mit diesem Politpersonal!

Man kann darüber schimpfen, wie vertrags- und wortbrüchig Politiker sind, und darüber, dass man ihren Versprechungen nicht glauben und ihnen ganz allgemein nicht über den Weg trauen darf. Das ist im Fall des Euro auch durchaus gerechtfertigt. Aber der europaweite Bruch aller gerade erst getroffenen Regelungen zeigt auch, wie stark die destruktiven Kräfte wirken, die Politiker in repräsentativen Demokratien veranlassen, die Finanzen ihres Staates immer wieder und gegen jede Vernunft zu ruinieren.

Die wirtschaftlichen Bedenken der Ökonomen gegen die überstürzte Einführung des Euro wischten die Politiker rasch beiseite. Wer sich die öffentlichen Reden von damals genauer anschaut, erkennt, dass Politiker und Ökonomen in der Sache eklatant aneinander vorbeiredeten.

Die Ökonomen kritisierten die Währungsunion ohne eine gemeinsame oder wenigstens eine koordinierte Wirtschafts-, Finanz-, Arbeits- und Sozialpolitik. Die Politiker schwärmten mit bombastischer Pathetik von einem großen Schritt in Richtung auf ein gemeinsames Europa in Frieden und Freiheit.

Das Problem war allerdings: Die Einführung des Euro ist ein Akt der Währungspolitik, also der Wirtschaftspolitik. Doch die Politiker jubilierten, dass es in Europa keine Schlagbäume mehr gibt, der 2. Weltkrieg vorbei ist und sich daran eine lange Ära des Friedens angeschlossen hat. Sie tunkten den währungspolitischen Vorgang in einen Bottich mit larmoyant-emotionaler Soße. Und damit schätzten sie völlig falsch ein, was da geschah.

Währungssysteme sind technische Einrichtungen, die helfen sollen, die wirtschaftliche Entwicklung und den gegenseitigen Austausch zu erleichtern. Nicht mehr und nicht weniger. Sie sind kein Instrument der Friedensstiftung, und an ihnen entscheidet sich weder das Schicksal der Menschheit noch das Europas. Der Frieden in Europa hängt objektiv nicht von seiner Währungsordnung ab.

Man kann das auch so sehen: Die Politiker schwelgten und schwelgen noch heute in einer ziemlich einfältigen Schwärmerei von einem friedfertig-freiheitlichen Europa ohne Waffen und ohne Schlagbäume, während sie eine Währungsunion begründeten. Sie wussten offensichtlich nicht, was sie taten. Genauer: Sie wollten es nicht wissen. Sie sahen sich selbst als historische Protagonisten eines in Frieden und Freiheit vereinten Europas, während sie sich anschickten, seine Währung und seine Finanzen zu ruinieren und große Teile seiner Jugend in die Arbeitslosigkeit zu schicken…

So betonte Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) in der Bundestagsdebatte, es handele sich "nicht nur um eine währungspolitische Entscheidung", sondern um eine, die in die "historische Dimension der europäischen Einigung" gehöre. Und Helmut Kohl wird noch heute nicht müde zu wiederholen:

Die europäische Einigung ist eine Frage von Krieg und Frieden und die Einführung des Euros ein Stück Friedensgarantie.

Zu ähnlich blumiger Europaromantik verstieg sich Kohl in der Bundestagsdebatte vom April 1998:

"Die Verwirklichung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion ist in ihren Konsequenzen die bedeutendste Entscheidung seit der deutschen Wiedervereinigung. Sie ist die tief greifendste [er meinte: "tiefst greifende" - so viel Grammatik muss sein] Veränderung auf unserem europäischen Kontinent seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Imperiums."

Angela Merkel erklärte gar, bei der Rettung des Euro gehe es "um etwa Großes", um die "Friedensidee Europas". Das werde leicht vergessen, "wenn nur von Krisenmechanismus, Stimmrechten, Verträgen, Stabilitätskultur, Rettungsschirmen, IWF, Währung, EZB und vielem mehr die Rede ist". Und auch EU-Kommissar Günther Oettinger betonte:

Die Währung ist auch ein Garant für Frieden. Es geht nicht nur um Haftung, es geht auch um die Friedensordnung. Die Europäische Union insgesamt und ihre Währung sind zwei Garanten für dauerhaften Frieden, für Partnerschaft und Freundschaft.

Doch die Völker Europas scheinen der Friedensrhetorik nicht auf den Leim gehen zu wollen. Denn seit der Einführung des Euro breitet sich Unfrieden in Europa aus - und zwar wegen des Euro.

In Griechenland herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Medien in Italien, in Spanien, den Niederlanden und Großbritannien verbreiten Hass gegen Deutschland und die Deutschen. Die italienische Zeitung "Il Giornale" zitierte Silvio Berlusconi, der die Bundeskanzlerin als "unfickbaren Fettarsch" (culona inchiavabile) bezeichnete. Angela Merkel wird in Zeitungen als Nazi-Schlampe bezeichnet oder mit Hitler-Schnurrbart abgebildet.

Hemmungslos schlagen sich die europäischen Völker wieder alte Zerrbilder um die Ohren, die man lange nicht gehört hat. Die Deutschen sind wieder die Nazis, während Südländer faule Säcke und Betrüger genannt werden. In der Presse der EU-Staaten fehlt kein Klischee, im Internet erst recht nicht und im Fernsehen auch nicht. Manche Sätze, die da in jüngster Zeit zu lesen waren, erinnern an die Jahre vor und zwischen den Weltkriegen.

Der raue Ton ist eine Niederlage für den europäischen Friedensprozess. Die europäische Einigung scheitert auf genau dem Feld, das immer ihr Hauptanliegen war: der Aussöhnung von Völkern, die einander in einer sehr langen gemeinsamen Geschichte mit Argwohn und Feindseligkeit begegneten.

Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit spricht man in Griechenland vom drohenden Einmarsch der Wehrmacht. Die Spitzenverbände von Ärzten, Rechtsanwälten und Bauingenieuren einigten sich Anfang 2012 in Athen auf einen gemeinsamen Boykott von Waren aus Deutschland.

Die Mehrheit der Griechen sieht die EU inzwischen als das "Vierte Deutsche Reich" an. Der Lack der Völkerfreundschaft ist hauchdünn und schon zerkratzt. Und schnell bricht der alte Hass hervor. Vor der Einführung des Euro ging es in Europa deutlich friedvoller zu.

In der europäischen Politik hat sich eine unwirkliche Form des orwellschen Newspeak als offizielle Sprachregelung etabliert. Während die politische Klasse gebetsmühlenartig davon schwärmt, Frieden und Freiheit in Europa hänge vom Wohlergehen des Euro ab, herrscht zwischen den Staaten und den Völkern so viel Unfrieden und mitunter gar Hass wie kaum je zuvor.

Man kann die Augen nicht davor verschließen, dass mehr als zehn Jahre nach Einführung des Euro zwischen den Ländern der Eurozone sich eine eher unfriedliche, friedlose, ja feindselige Atmosphäre festzusetzen droht. Längst begrabene nationale Vorurteile und Klischees werden wieder lebendig - und je primitiver sie daherkommen, desto beliebter sind sie.

Noch ist nicht sicher, ob sich diese mitunter gar hasserfüllte Atmosphäre auf Dauer festsetzen wird. Aber es ist sicher, dass sie den Turbulenzen der Staatsschulden- und Eurokrise zu verdanken ist. Mit der Eskalation der Schuldenkrise haben auch die Konflikte zwischen den Mitgliedsländern und Institutionen der Eurozone wie auch innerhalb einzelner Eurostaaten an Intensität und Irrationalität gewonnen. Diese eskalierenden politischen Auseinandersetzungen, deren Frontverläufe quer durch politische Gruppierungen wie internationale Allianzen verlaufen, resultieren gerade aus dem Unvermögen der Politik, die Systemkrise zu überwinden.

Und je feindseliger die Stimmung zwischen den Nationen und inzwischen auch den Völkern wird, desto verbockter beharren die politischen Repräsentanten auf der Behauptung, der Euro sei der Garant des Friedens und der Freiheit in Europa.

Wer das hört, fragt sich verwundert, ob die Politiker und die Völker auf ein- und demselben Kontinent leben oder ob die einen gar von einem ganz fernen Planeten entlaufen sind. Auf jeden Fall ist ihre Wahrnehmung nachhaltig gestört. Die wirkliche Wirklichkeit ähnelt in keiner Weise dem, was die Politiker als politische Wahrheit proklamieren.

Auf dem Höhepunkt der Eurokrise ist die allgemeine Stimmung der Bevölkerung in eine tiefe Europaskepsis umgeschlagen, die es vorher nicht gab. In allen EU-Staaten hat die Euroskepsis in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Tatsächlich bewerten viele Menschen den Einigungsprozess grundsätzlich neu. Die Zeiten der andauernden Europaeuphorie sind vorüber.

Vor wenigen Jahren noch verstanden sich viele Menschen zuerst als Europäer und dann als Angehörige ihrer Nation. Heute tun das nur noch wenige. Die Menschen stehen Europa im günstigsten Fall noch gleichgültig gegenüber, wenn nicht inzwischen gar feindselig. Das ist eine unmittelbare Folge des Euro und der Eurokrise. Europas Wähler entgleiten der Politik. Der Anteil der Deutschen, die dem Euro vertrauen, lag 2013 bei nur noch 38 Prozent. Für eine Währung, deren wichtigstes Kapital Vertrauen ist, ein katastrophales Ergebnis.

Die Bürger sollten endlich begreifen, dass die Politik dieses Landes in den Händen einer Bande schwülstig daher schwadronierender Politgockel liegt, die primitivste Zusammenhänge nicht begreifen und ihre Ignoranz unter einem gewaltigen Schwall leerer, aber tönender Redensarten kaschieren.

Besonders wenn es darauf ankäme, Zusammenhänge wirklich zu begreifen, reden sie meist nur dumm daher. Es ist aber auf Dauer unmöglich, ganze Länder mit blödem Gesülze zu regieren oder gar durch Krisen zu führen.

Das Urteil des französischen Historikers und Sozialwissenschaftlers Emmanuel Todd2 ist eindeutig: "Der Euro geht in die Geschichte ein als der Meister-Irrtum der herrschenden Eliten in Europa. Sie wussten nicht, was sie schufen - einen Zombie -, und können sich deshalb auch nicht davon lösen."

Und weiter:

Tatsache ist, dass die Währungsunion Spannungen und Gegensätze in Europa auf das Äußerste verschärft hat. Der Euro bringt die Europäer gegeneinander auf. Die nationalen Währungen waren ein Instrument der Regulierung im gemeinsamen Markt, um Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit auszugleichen. Um das zu erkennen, braucht man keinen Nobelpreis für Ökonomie.

In einer Situation, in der es entscheidend auf eine fach- und sachgerechte Analyse von Vorteilen und Nachteilen einer folgenschweren währungspolitischen Entscheidung angekommen wäre und nicht auf eine romantische Heraufbeschwörung blühender Landschaften, verstiegen sich die Politiker zu ebenso emotionaler wie banaler Europa-Euphorie, beschworen Schreckensvisionen vom 2. Weltkrieg und zelebrierten feierlich und in gestelzten Reden die allgemeine Hoffnung auf Friede, Freude und auch besonders viel Eierkuchen.

Originalton Bundeskanzler Helmut Kohl im Bundestag3:

Der Euro stärkt die Europäische Union als Garanten für Frieden und Freiheit. Von der heutigen Entscheidung - ich meine das nicht pathetisch - hängt es wesentlich ab, ob künftige Generationen in Deutschland und in Europa in Frieden und Freiheit, in sozialer Stabilität und auch in Wohlstand leben können.

Übrigens betonte Kohl in derselben Debatte auch:

Meine Damen und Herren, nach der vertraglichen Regelung gibt es keine Haftung der Gemeinschaft für Verbindlichkeiten der Mitgliedstaaten und keine zusätzlichen Finanztransfers.

Es war von Anfang an klar, dass auf derartige Versprechungen nicht viel zu geben ist. Und so hampelt die Eurozone seither von einer Krise in die nächste und von einem Rettungsschirm für den Euro zum nächsten.

Auch dies ein Charakteristikum der auf Medien- und Publikumswirkung um jeden Preis zielenden demokratischen Politik: Öffentliche Angelegenheiten und Beziehungen zwischen Staaten begreifen sie vorwiegend in privaten Kategorien. In der Euro-Staatsschuldenkrise sehen sie sich stets in der Pose des edlen "Retters", der den "in Not" geratenen europäischen "Freunden" in entschlossener "Solidarität" zur Hilfe eilt. "Freunde" lässt man nun einmal nicht "im Stich".

Viele Befürworter des Euro setzen nun einmal die Befürwortung des Euro mit der Begeisterung für die europäische Einigung gleich und verstehen ihre eigene Rolle als die einer Avantgarde. Doch sie sind keine Avantgarde einer europäischen Friedensordnung. Sie sind eher ihre Totengräber. Und die Politik, die sie betreiben, ist klar gegen die Interessen breiter Bevölkerungsschichten gerichtet.

Viele Menschen in vielen Ländern Europas müssen einschneidende Einbußen an Einkommen hinnehmen. Einige Länder leiden unter Massenarbeitslosigkeit. Parlamentarier, Abgeordnete, Parteifunktionäre, Regierungsbeamte und Regierungsmitglieder zählen allerdings nicht zu diesen Menschen.

Die Behauptung, der Euro sei eine "Friedenswährung" oder gar der "Garant für den Frieden in Europa" ist nichts weiter als hanebüchener Unsinn. Sachlich ist an der Euro-Friedens-Euphorie noch nicht einmal ein Körnchen Wahrheit. Zwischen den westlichen Staaten herrscht seit 1945 Frieden - auch ohne eine gemeinsame Währung.

Auch in den Jahrzehnten vor Einführung des Euro beherrschte die deutsch-französische Freundschaft die europäische Szene. Die Briten kämpften nicht gegen Deutsche und auch nicht gegen Franzosen, obwohl die Briten noch immer nicht den Euro haben. Die USA haben keine militärischen Konflikte mit Kanada, und Japan hat keine mit den USA, auch Südkorea nicht mit Japan. Nach 1945 zog Frieden ein in der westlichen Welt und zwar völlig unabhängig von der Währungsordnung. Der Friede in Europa und in der westlichen Welt steht auf einer sehr viel solideren Basis als der europäischen Gemeinschaftswährung.

kosch.htm