Die Fallstricke des interaktiven Stils
Wir leben nicht in einem Informationszeitalter, sondern in einem interaktiven Zeitalter.
An einem Nachmittag erlebte ich kürzlich während eines Basketballspiels etwas Verwirrendes. Meine New York Knicks hatten endlich, obwohl sie mit Verletzungen spielten, ihre kanadischen Gegner wieder eingeholt. es war einer dieser magischen Augenblicke im Sport, wo ein plötzlicher Ausbruch an Begeisterung bei der Heimmannschaft es ihnen ermöglichte, einen schrecklichen Rückstand zu überwinden und die Führung zu übernehmen. Die Gegner verlangten nach einer "Pause", um sich neu zu gruppieren, und die Menge wurde wild.
Als ob es von einem Computerprogramm ausgelöst worden wäre, begann ein Potpourri wohlvertrauter "Siegesgesänge", das aus den Tanz- und Rockhits der letzten Jahre bestand, aus den Lautsprechern zu dröhnen. Die wieder in Schwung geratene Masse klatschte und schrie. Dann erschien auf der gigantisch großen Anzeigetafel das Bild eines digitalen Lautstärkenmessers, was uns alle "laut" werden ließ.
Die Fans jubelten, was vorhersehbar war, als die Maßanzeige ihre wachsende Lautstärke wiedergab. Die Meßsäule ging höher und höher, bis sie über die Skala hinausreichte und in farbige Pixel zerplatzte.
Aber ich als Zyniker, der ich nun einmal bin, bemerkte, daß die Meßsäule überhaupt nichts wirklich registrierte. Sie stieg mit der Lautstärke der Masse nicht an und fiel nicht entsprechend dieser. Es war in Wirklichkeit derselbe Lautstärkenmesser, der bereits eine Woche zuvor bei einem ähnlichen Augenblick im Spiel gezeigt wurde, und er gab genau dieselbe Folge von Höhen und Tiefen vor der Explosion wieder.
Der Geräuschpegel der Masse hatte überhaupt nichts mit dieser vorweg aufgezeichneten Simulation eines interaktiven Dezibelmeters zu tun. Als vorübergehendes Mittel zur Motivationssteigerung funktionierte der vorgetäuschte Lautstärkenmesser. In der Arena wurde es laut und die Fans spornten die Mannschaft zu einem besseren Ergebnis an. Aber wenn ich auch ziemlich sicher bin, daß die meisten niemals den Unterschied bemerken werden, wurden wir davon "gepackt".
Die Wirklichkeit der technischen Erfahrung, die eigentlich ohne große Mühe hätte realisiert werden können, wurde durch eine die Menge zufriedenstellende Simulation ersetzt. Für einen Technikbegeisterten wie mich ist das eine Beleidigung.
Den Rest des Spiels fragte ich mich, wieviele unserer interaktiven Erfahrungen wirklich interaktiv sind und wieviele nur, wie der Dezibelmeter des Madison Square Garden, lediglich einen "interaktiven Stil" haben. Ich brauchte nicht lange für ein weiteres Beispiel. Auf dem Sitz neben mir spielte ein Kind mit einem "virtuellen Haustier", einem Tamogotchi.
Ich schaute zu, wie der Junge das kleine digitale Lebewesen fütterte, mit ihm spielte und es "strafte". Sicher, das ist interaktiv, zumindest im Vergleich mit dem vorprogrammierten Dezibelmeter. Aber ist es wirklich interaktiv? Mit wem oder mit was interagiert das Kind wirklich? Mit einer Reihe von vorprogrammierten Reaktionen, die auf die Erwartungen des Kindes abgestimmt sind. Wenn er das Tier füttert, lächelt es. Wenn er es schlägt, schreit es. Während das virtuelle Haustier das Abrichten und Aufziehen eines hilflosen Lebewesens aus dem Weltraum simuliert, trainiert es in Wirklichkeit den Benutzer. Wenn man das Tier nicht regelmäßig füttert, stirbt es.
Das Tamagotchi und seine vielen Klons richten die Kinder auf die Technik auf Kosten ihrer menschlichen Interaktionen aus. Wenn sie erwachsen sind, werden sie, da bin ich mir sicher, voll dazu konditioniert sein, ihre Computer beim ersten Warnzeichen ihres Betriebssystems einem Update zu unterziehen. Das arme Kind neben mir verpaßte einige der spannendsten Spielzüge, während es sich um sein Tier kümmerte.
Diese Spielzeuge wurden in den meisten staatlichen Schulen wegen der obsessiven und zwanghaften Verhaltensweisen verboten, die sie bei Schülern auslösen. Kinder, deren Lehrer das Verbot beachteten, haben Klassenkameraden dafür Geld gegeben, daß sie sich um ihre Tamagotchis kümmern, bis die Stunde mit dem Verbot vorüber ist.
Interaktivität bedeutet nicht, mit einer Maschine zu interagieren, so wirklich man das auch erleben mag. Sie bedeutet, mit anderen Menschen durch Maschinen zu interagieren. Ein wirkliches Dezibelmeter auf einer Anzeigetafel hätte es den versammelten Fans ermöglicht, an einem Massensspektakel teilzunehmen. Zusammen hätten wir ein Maß der Lautstärke erreichen können. Wir hätten nicht direkt mit dem Instrument selbst interagiert, sondern miteinander durch es. Stattdessen aber wurden wir von einer Maschine zum Jubelgeschrei abgerichtet.
Ganz ähnlich entwickelt sich das Internet allmählich von einem Kommunikationsmedium zu einem durch den Content gesteuerten interaktiven Archiv - vom Telefon zum Katalog oder, noch schlimmer, zur Werbung. Der Grund dafür ist, daß es Firmen leichter fällt, uns einen abgepackten Content als uns gegenseitig zu verkaufen, aber auch weil wir die Vorstellung akzeptiert haben, daß die Computer uns in ein "Informationszeitalter" gebracht haben und daß wir uns jetzt im Bereich der "Bits" anstatt in dem der "Atome" befinden. Aber wir befinden uns nicht in einem Informationszeitalter. Wir leben in einem interaktiven Zeitalter. Wir tauschen keine Bits aus, sondern unser eigenes Wesen in Form von Ideen, Emails, Grafiken und Chat-Dialogen.
Wenn ich online gehe, um mit Menschen zu interagieren, dann gehe ich mit neuer Energie wieder offline. Wenn ich Datenbanken durchsuche oder in Online-Malls einkaufen gehe, fühle ich mich danach erschöpft und einsam. Während ich bei ersterem mit anderen Lebewesen kommuniziere, geht es bei letzteren nur um Maschinen und ihre Information.
Obgleich die Gestalter von Web-sites versuchen, die kommerziellen Sites interaktiver zu machen, arbeiten sie in Wirklichkeit an Simulationen, die ein Bedürfnis erzeugen und dann unsere Erwartungen einlösen. Als Gegenleistung müssen wir einkaufen. Wie bei den virtuellen Haustieren klicken und brummen die Sites. Sie erkennen, wenn wir uns einloggen, und kommen unseren angeblichen Bedürfnissen genauer nach, als dies ein Mensch jemals könnte. Falls Menschen jemals von Daten, Bits und Konsum leben könnten, würde dieses Internet im interaktiven Stil wirklich eine Utopie sein.
Ich denke, daß sich die Interaktion mit Maschinen, auch wenn sie vorübergehend neuartig ist, selbst als armseliger Ersatz für den Gebrauch von Maschinen zur Interaktion mit anderen erweisen wird. Wir werden uns von einem nur aus Bits bestehenden Internet zurückziehen und instinktiv dessen unlebendigen Angebote zurückweisen, wenn wir uns nicht in seinen lebendigen Gemeinschaften betätigen.
Der simulierte Lautstärkenmesser wird kein anderes Schicksal erfahren. Nach einem kurzen Ausbruch des Jubels, beruhigte sich die Menge beim Basketballspiel schnell wieder und die Knicks verloren schließlich. Ich würde mir gerne vorstellen, daß es zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn man einen wirklichen Dezibelmeter verwendet hätte.
Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer
Copyright 1998 by Douglas Rushkoff for the original English version. Distributed by New York Times Special Features