Die Fortsetzung der Gewalt an den Eziden
In Afrin gehen die Angriffe auf die Minderheit weiter und Waffen der türkischen Söldnertruppen kommen aus Deutschland. Ein Kommentar
Vor vier Jahren, am 3. August 2014, überfiel die Terrororganisation IS im Nordirak das Hauptsiedlungsgebiet der Eziden (auch Jesiden, Yeziden), die Region Shengal. Die religiöse Minderheit lebt seit vielen Generationen dort. In den vergangenen Jahrhunderten wurden Eziden immer wieder Opfer von Mord, Unterdrückung und Vertreibung.
Sie sprechen selbst vom 74. Genozid in der Geschichte ihres Volkes. Für Islamisten gelten sie als "Teufelsanbeter" und werden bis heute in den muslimisch dominierten Ländern verfolgt und diskriminiert. Auch in der Türkei trifft man immer wieder auf verlassene ezidische Dörfer. Verlassen sind sie, weil das türkische Militär sie schon in den 1980er und 1990er Jahren aus dem Südosten vertrieben hat. Viele Familien wanderten nach Deutschland aus.
Der IS ermordete 2014 über 5.000 Männer und Jungen, verschleppte mehr als 7.000 Frauen und Kinder und vertrieb über 400.000 Eziden aus ihrer Heimat. Mehr als 3.000 Ezidinnen mit ihren Kindern werden heute noch vermisst. Die Geschichten der überlebenden Frauen, die sich aus den Fängen des IS befreien konnten, sind unfassbar grauenhaft.
Hunderttausende Menschen retteten sich im August 2014 ins glühend heiße Shengal-Gebirge oder in die sicherere kurdische Autonomieregion, wo sie heute noch in Flüchtlingslagern unter extremen Bedingungen leben. Damals waren die Straßen, Parks und Schulen in Dohuk und Erbil voll mit Flüchtlingen. 2,3 Millionen Flüchtlinge sind in die Autonomieregion geflohen, deren Bevölkerung normalerweise ca. 5 Millionen beträgt.
Die kurdischen Barzani-Peschmerga vermochten die Eziden nicht zu schützen. Sie flohen selbst vor dem IS und überließen die Eziden ihrem Schicksal - nicht ohne sie auch noch vorher entwaffnet zu haben. Nach Tagen in glühender Hitze im Gebirge ohne Wasser und Nahrung konnten PKK und YPG/YPJ-Einheiten einen Fluchtkorridor nach Nordsyrien ins sichere Rojava, so wird die nordsyrische Region genannt, erkämpfen.
In der nahegelegenen Region Dêrik/Nordsyrien entstand ein riesiges Flüchtlingscamp für die Geflüchteten. Internationale Hilfe erreichte sie dort kaum. Bis heute kümmert sich die Kantonsverwaltung der "demokratischen Föderation Nordsyrien" mit der Bevölkerung um die Geflüchteten. Ende 2014 gründete sich die ezidische Selbstverteidigungseinheit YBS und 2015 die Fraueneinheit YJS, die mit der Unterstützung der PKK-Einheiten HPG und YJA-Star am 13. November 2015 die Region Shengal vollständig vom IS befreite.
Heute verfügt Shengal über eine regionale Selbstverwaltung. Aber die Zerstörungen sind noch immer immens, immer noch werden neue Massengräber gefunden, der Wiederaufbau läuft mangels internationaler Unterstützung schleppend. Eine Rückkehr in die Region ist bislang für viele Geflüchtete noch keine Option. Viele haben Angst vor neuen Massakern, sie trauen weder der kurdischen Autonomieregierung noch der irakischen Regierung.
Vor dem IS-Überfall haben etwa 600.000 Eziden im Shengal gelebt. Heute sind es nur noch rund 40.000. Hunderttausende sind noch in Flüchtlingscamps. Etwa 300.000 sind ins Ausland geflohen: In Deutschland lebt mit 200.000 Mitgliedern die größte ezidische Gemeinde in der Diaspora. Allein in den letzten drei Jahren kamen 110.000 von ihnen hinzu.
Völkermord dauert an
Nach Ansicht der UNO dauert der Völkermord noch an. Nicht nur im Nordirak, sondern auch in Afrin, im nordwestlichsten Zipfel Syriens. Doch ist es nicht der IS, der dort mordet, versklavt und vergewaltigt. Es sind türkische Soldaten und türkische Söldnertruppen, die Jagd auf die Eziden machen, ihre Dörfer und Heiligtümer in Afrin zerstören. Deutschland hat die Waffen dafür an die Türkei geliefert. Das dokumentieren zahlreiche Videos und Fotos aus Afrin.
In Afrin und Umgebung leben schätzungsweise rund 10.000 Eziden - andere Schätzungen gehen von bis zu 25.000 Eziden aus. Die Dörfer der Eziden liegen zumeist in der Umgebung von Afrin und waren damit direkte Ziele der türkischen Militäroffensive.
Ende vergangener Woche, am 3. August, war weltweit für die Eziden ein Trauertag, ein Tag, wo es keine Feierlichkeiten gibt, sondern der Opfer gedacht wird. Überall in der Bundesrepublik gab es Mahnwachen und Kundgebungen. Der Zentralrat der Eziden in Deutschland (ZED) gedachte der Opfer mit einer zentralen Veranstaltung in Gießen, an dem auch die UN-Sonderbotschafterin Nadja Murad und der Chef des Bundeskanzleramtes, Bundesminister Helge Braun, teilnahmen.
Es grenzt an Scheinheiligkeit, wenn Vertreter der Bundesregierung an einer Gedenkveranstaltung teilnehmen und ihre Anteilnahme demonstrieren und andererseits aber tatenlos zuschauen, wie die Gewalt an den Eziden in Afrin weitergeht. Wenn sogar einer der Verantwortlichen für die erneute Vertreibung und Verschleppung von Eziden im September zu einem Staatsbesuch mit allen Ehren eingeladen wird.
Deutschland, genauer der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, hat mehrere hundert ezidische Frauen und Kinder, die die Flucht und das Grauen in den Shengalbergen überlebt haben, nach Deutschland geholt. Das war 2015 und 2016. Die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag versprach damals, sich für diese bedrohte Religionsgemeinschaft einzusetzen. Die UN-Sonderbotschafterin der Eziden, Nadja Murad, sprach am 1. Dezember 2016 vor dem Stuttgarter Landtag:
Baden-Württemberg ist erfreulicherweise eine Demokratie, keine Diktatur. Ich weiß: Dass das Sonderkontingent Wirklichkeit werden konnte, liegt an allen Mitgliedern der Regierung und an Ihnen, den Abgeordneten dieses Parlaments. Ich habe erfahren, dass Vertreter aller Parteien dieses Parlaments im Jahr 2014 diesem "Sonderkontingent für schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak" zugestimmt haben. Sie alle haben sich für die Menschlichkeit entschieden… Solange keine handfesten Lösungen für die Yeziden sowie für andere religiöse Minderheiten in Irak und in Kurdistan/Irak gefunden werden, werden diese Menschen ihre Heimat in Richtung Europa verlassen - so wie die Yeziden aus Syrien und aus der Türkei.
Nadja Murad
Heute scheint das Schicksal der Eziden keine Rolle mehr zu spielen. Nein, heute rüstet man gar diejenigen mit Waffen aus, die das Vernichtungswerk des IS fortsetzen.