Die Freundinnnen des Schmerzes

Über die Verbreitung von gemeingefährlichem Unsinn durch den ehrbaren Berufsstand der Hebammen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In ihrem Buch "Trick or Treatment" (zu Deutsch "Gesund ohne Pillen - Was kann die Alternativmedizin?") kommen der Physiker Simon Singh und der Mediziner Edzard Ernst zu großenteils negativen Bewertungen. Ihre Antwort auf die Frage, warum der Unsinn dennoch boomt? Es sind teilweise die Vertreter der Gesundheitsberufe selbst, die ihn unters Volk bringen.

Wie ein jüngerer, vieldiskutierter Artikel in der Süddeutschen Zeitung nahelegt, gilt das auch für den Bereich der Geburtshilfe.

Die Hebammen erweisen sich einer Untersuchung des Robert-Koch-Instituts zufolge als besonders eifrige Marketenderinnen für wissenschaftlich nicht abgesicherte Therapien und Medikamente. Die Hälfte von 549 befragten Hebammen hielten Masern für eine Sache, die die Entwicklung der lieben Kleinen nur fördern kann - und ein Viertel lehnte die Impfung gegen Masern rundheraus ab.

Nun kann man ja der Meinung sein, dass das alles ein lästiger, aber harmloser Unfug ist, eine Art Dauer-Halloween im Gesundheitswesen, schaurige Geschichten und Kräuterhexen inklusive. Was den Placeboeffekt angeht, der von der Homöopathie ausgebeutet wird, muss die Antwort lauten: Es gibt keinen Grund, ineffektiven Zuckerpillen ohne Wirkstoff durch den Placeboeffekt einen Anschein von Heilkraft zu verleihen, anstatt die Wirksamkeit klinisch getesteter, an sich schon wirksamer Medikamente und Therapien durch den Placeboeffekt zu verstärken.

Haariger wird es, wie immer in der "Alternativmedizin", wenn ein Betroffener dem Placeboeffekt im Zusammenhang mit Zuckerpillen vertraut, während er wirkliche Medizin brauchen würde - und das kommt häufiger vor, als einem lieb sein kann, auch bei kranken Kindern, deren Eltern fanatisch an ihren Gesundheits- oder Ernährungsideologien festhalten.

Komplett hört der Spaß aber beim Impfen auf. Hebammen, die ihre Klienten vom Impfen ihrer Kinder mit den Standardimpfungen abhalten wollen, wie sie zum Beispiel vom Robert Koch Institut empfohlen werden, sind Handlangerinnen des Elends, ihre Verbohrtheit ist kriminell, und sie sollten daran gehindert werden, ihren Beruf weiterhin auszuüben. Denn immer steht dabei nicht nur die Gesundheit eines einzelnen Kindes auf dem Spiel, sondern auch das absolut erstrebenswerte Ziel, verschiedenen Krankheiten ein für allemal die Ausbreitungsmöglichkeit zu nehmen.

Die Weltgesundheitsorganisation musste bereits ihr Ziel, die Masern bis 2010 auszurotten, revidieren, und ein Grund dafür ist die tragische Tendenz zur wachsenden Impfzurückhaltung gerade in den Ländern, die über ein fähiges Gesundheitssystem verfügen. Auf diese Weise wird die schärfste Waffe der Medizin gegen Infektionskrankheiten an ihrem Erfolg stumpf: Kaum, dass die Bedrohung durch "Kinderkrankheiten" in der entwickelten Welt wegen Impfungen abstrakt geworden ist, breitet sich ein desinformierter Wohlstandsskeptizismus aus, der die dümmsten Gerüchte ernst nimmt - so zum Beispiel das Werk von Fälschern zu dem angeblichen Zusammenhang von Impfungen und Autismus.

Das erste Opfer der Angst ist immer die Vernunft

Ist der besagte Wohlstandsskeptizismus der einzige Grund dafür, dass Eltern sich so schlecht beraten lassen? Wahrscheinlich ist er nicht einmal der wichtigste. Viel bedeutsamer ist, dass kein Mensch ein Kind erwartet, ohne Angst zu haben. Angst essen gern Seele auf, aber das erste Opfer der Angst ist immer die Vernunft. Und die impfskeptischen Hebammen, die sich gern als Trägerinnen eines paramedizinischen, menschenfreundlichen Heilwissens verstehen, sind auf diese Weise objektiv nichts anderes als Quacksalber, die mit der Angst ihrer Klienten Geld machen und die Gesundheit von deren Kindern einem Gemisch aus Geschäftstüchtigkeit, Dummheit und Fanatismus opfern.

Welche Ironie - diese sehr speziellen "Hüterinnen des Lebens" stellen sich in Wahrheit als Freundinnen von Krankheit und Tod heraus. Ingeborg Stadelmann, eine der Stichwortgeberinnen der Szene, wird von der Süddeutschen mit einem denkwürdigen Ausspruch zitiert:

Auf evidenzbasierte Medizin lasse ich mich nicht ein. (...) Wir Hebammen kommen aus der Erfahrungsmedizin und was seit Jahrzehnten erfolgreich ist, kann nicht falsch sein.

Ob dieses flotte Sätzchen angesichts der Tatsachen einen höheren erkenntnistheoretischen und moralischen Stellenwert hat als das kühne Bonmot des ehemaligen Marinerichters Hans Filbinger, nach dem "heute kein Unrecht sein kann, was damals rechtens war" - es sei dem Urteil des Lesers überlassen. Aber besser als Frau Stadelmann kann man das Problem, das unser Gesundheitssystem mit ihren Weisheiten haben sollte, kaum zusammenfassen.