Die Globalisierung des Ungefähren

Warum man über diffuse Begriffe genauer nachdenken sollte

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Der unselige Begriff Globalisierungsgegner wird mittlerweile ebenso inflationär wie unreflektiert benutzt. Der Tod in Genua hat zusätzlich einen starken Sog hin zu hysterischer Solidarisierung ausgelöst, der notwendige und rationalere Diskurse einzuebnen droht. Die Spaßpolitiker der Love Parade interessiert das alles sowieso nicht.

Face the Future, it's never easy

"The Survivors", Pet Shop Boys 1996

Das Faszinosum Tod, es hat dem Spektakel in der norditalienischen Hafenstadt den entscheidenden Kick verpasst. Eigentlich habe der getötete Demonstrant Carlo Giuliani ja an dem schicksalhaften Julitag baden gehen wollen, hieß es. Aber dann sahen in einem Einsatzwagen eingeschlossene und von mehreren Angreifern bedrohte junge Polizisten, wie der verhinderte Badegast Giuliani plötzlich mit einem Feuerlöscher vor ihnen stand.

Nach neuesten Erkenntnissen, die Luca Casarini, der Sprecher der "Tute Bianche" jetzt vorgelegt hat (Augenzeugen und Fotos: Schüsse auf Carlo Giuliani keine Notwehr), soll der Todesschütze Marco Placanica den Löscher erst aus dem Fenster auf die Angreifer geschleudert und sofort danach seine Pistole auf sie gerichtet haben. Ferner sollen die Carabinieri im Wagen keinesfalls isoliert gewesen sein, da eine Gruppe Beamter "nur etwa 20 Meter" abseits gestanden habe. Das spricht auf den ersten Blick eher gegen eine Notwehrsituation, auf die sich die Polizei und Regierungskreise bisher berufen haben.

Betrachtet man aber die Szenerie noch einmal genau, bleiben doch noch ein paar Fragen und Zweifel. Warum hat Giuliani den Feuerlöscher aufgehoben und den Beamten im Wagen entgegengehalten, wenn er ihm doch gerade erst in aggressiver Absicht entgegengeschleudert worden war? Warum ist Giuliani nicht zurückgewichen? Und was hat wohl den Carabiniero dazu gebracht, auf einen unbewaffneten Menschen zu schießen? So etwas ist schließlich auch für einen Polizeibeamten kein Kinderspiel. Es gibt in der Juristerei so etwas wie den Begriff der "Lebenserfahrung".

Die konkrete Situation von Placanica war demnach in etwa diese: ich kauere in einem von einer Mauer aufgehaltenen Polizeijeep, während gerade mehrere gewalttätige Personen durch die Fenster Stangen und Bretter nach mir stoßen, wie nach einem Fuchs im Bau. Nicht ganz stressfrei, da bleibt kein Mensch cool. Schon gar nicht, wenn er erst seit kurzer Zeit bei der Polizei ist. Da kann es schon mal sein, dass ein Mensch oder Polizist vor Angst und Wut durchdreht. Und da dieser Mensch als Polizist das Gewaltmonopol des Staates repräsentiert, trägt er fatalerweise eine Schusswaffe. Auch in Göteborg wurde ja vor einiger Zeit schon scharf geschossen, nur mit gottlob weniger tragischen Folgen.

Es stimmt also nicht, dass vor allem italienischen Polizisten der Colt locker sitzt und sie vermeintliche Notwehrsituationen provozieren, weil sie neuerdings alle von Berlusconi und Innenminister Scajola faschisiert werden. Vielmehr scheint es so zu sein, dass das Gewaltpotenzial auf Demonstrationen sich weltweit langsam über alle Tötungshemmungen hinwegzusetzen droht. Und mit Placanicas Schüssen wurde uns ein neuer Star geboren. Ein Märtyrer, wie er im deutschen Geschichtsbuch unter Benno Ohnesorg bzw. Klaus-Jürgen Rattay steht und in katholischen Ländern wie Italien recht beliebt ist.

So etwas zu schreiben, ist natürlich zynisch. Aber es ist beispielsweise auch zynisch, immer von AktivistInnen und DemonstrantInnen zu reden, nie von PolizistInnen und SoldatInnen. Und es scheint, dass langsam so gut wie jede noch so gewalttätige Aktion als vorbeugende Notwehr gegen die behelmten Menschen in Uniformen interpretiert wird. Gegen die verhassten Büttel der "Globalisierung", die alle wie Dirty Harry mit gezückter Waffe herumlaufen und "Make my Day, Globalisierungsgegner" raunzen. Fragt sich nur, warum sich da so viele so heftig angesprochen fühlen.

Kurze Rückblende: Viele hatten nach dem Zusammenbruch der meisten sozialistischen Regime 1989 gedacht, das öffentlich politisierte Leben sei gelaufen. Man richtete sich wehmütig in seiner kleinen linken Idylle ein, hängte sich verstockt eine DDR-Fahne in die gute Stube oder wurde House-DJ. Vor allem taten das Leute, die freiwillig nie in die real existierende DDR gefahren wären. Honni soit qui mal y pense, sozusagen. Nur im virtuellen Raum taten sich im Laufe der 90er durch den Aufstieg des Microsoft-Imperiums neue Schlachtfelder auf, auf denen man versuchen konnte, dem allmächtigen Kapitalismus die höher werdende Stirn zu bieten. Aber der vor ein paar Jahren geprägte Slogan, dass die Computermaus die Waffe einer neuen Guerilla sei, war für die Medien wohl doch zu modernistisch, zu abstrakt gedacht.

Dann kam das Fin de Siecle und die Schlacht von Seattle anlässlich der WTO-Konferenz Ende 1999. Und endlich rappelte es wieder im Karton, endlich war der Feind wieder fassbar, nämlich am Uniformaufschlag. Haut die Bullen platt wie Bigmac-Stullen, revisited. Ergraute Che-Guevaras und rastabezopfte Neopunker waren begeistert von der Wiedergeburt der Opposition auf den Barrikaden von Grunge-City und wurden in den kritischen Medien groß herausgeputzt. Dass es bei dieser Konferenz ja um tatsächlich sehr wichtige geplante Schurkereien ging, die mit den Protesten verhindert werden konnten, ging in den romantischen Kriegsberichterstatter-Reportagen fast unter. Wichtig war, wie viele Scheiben wie schnell zu Bruch gegangen waren.

Von nun an setzte sich eine aus vielen Nationalitäten zusammengesetzte Menschenmenge in Bewegung und machte Wallfahrten um den Globus, den Tagungsorten der Mächtigen nach. Eigentlich doch eine globale Aktion. Eine Folge der Globalisierung? Wer ist da gegen was? Die äußerst heterogene Masse, die sich neulich in Genua versammelte und mit der Bezeichnung "Globalisierungsgegner" einfach über einen Kamm geschoren wird, reichte von Anarchosyndikalisten über Dritte-Welt-Aktivisten bis zu christlichen Wertkonservativen. Waren linksradikale Trotzkisten nicht eigentlich die ersten Propagandisten einer Globalisierung?

Es ist einigermaßen irreführend, Demonstrationen gegen die Beratungen von acht nationalen Staatenlenkern in Genua als Aktivismus gegen einen diffusen Globalisierungsprozess zu lesen. Bush, Blair, Berlusconi und Kollegen sind nicht die Herren der "Globalisierung". Sie sind (abgesehen von Berlusconi) nicht die Herren über das weltweit agierende Großkapital. Die globalen Probleme, die ungehemmter Kapitalismus schafft, und die Urheber der Probleme müssen schon präziser analysiert und benannt werden. Das Internet und die Fernreise sind auch Aspekte eines wesentlich komplexeren geschichtlichen Prozesses, den man vielleicht Globalisierung nennen kann. Ohne Differenzierungen geht es nicht!

Jede Open-Source-Veranstaltung ist daher tatsächlich nützlicher als die lebensgefährlichen Räuber-und-Gendarm-Spiele der "Schwarzen Overalls". Es gibt heute Schlachtenbummler, die Polizisten berufsmäßig mit Pflastersteinen und Eisenstangen attackieren, und solche, die den anderen dabei mit klammheimlicher Freude zusehen. Gemeinsam ist ihnen der Glaube, sie spielten einen besonders echten Multiplayer-Level eines Computerspiels wie Counter-Strike oder stünden als Heroen mitten in einem Actionfilm. Nur besteht das Blut der uniformierten Gegner nicht aus Pixeln und die Munition in den Waffen ist real und scharf. Für Carlo Giuliani gab es keinen Respawn.

Natürlich war, um das nicht zu vergessen, der brutale Überfall der Polizeieinheit auf die Schlafenden in ihrem Hauptquartier völlig überzogen und offensichtlich kriminell (Schockierende Einzelheiten über das brutale Vorgehen der italienischen Polizei). Silvio Berlusconi ist tatsächlich so etwas wie der neue Duce (in Tateinheit mit einem italienischen Urenkel von Hugenberg) und damit in einer Position, die ein Jörg Haider gerne erreicht hätte. Über die finsteren vielfältigen Aktivitäten des italienischen Medienmoguls, der praktisch ohne politische Inhalte gewählt wurde, würde man gerne mehr Pointiertes lesen. Mag sein, dass Berlusconi die Razzia und berichtete Folteraktionen sogar selbst angeordnet hat, obwohl das erst einmal zu beweisen wäre. Immerhin hat ja, wie bekannt wurde, ein Ortsverband der Berlusconi-Partei "Forza Italia" den Todesschützen zu einem Gratisurlaub eingeladen. Aber gerade dann sind Demonstrationen unter einem Banner, das wolkig "Ich bin gegen Globalisierung" sagt, keine Hilfe. Besser wäre beispielsweise "gegen Berlusconisierung". Anfang der 80er brabbelten Demonstranten schon einmal genauso ungefähr, sie seien "für den Frieden". Heraus kam dabei das revolutionäre Sitzen für den Frieden, Singen für den Frieden, Stricken für den Frieden, Auto-ohne-Katalysator-Fahren für den Frieden undsoweiter.

Und es ist ziemlich fatal, gegen bildungsbürgerliche Talkshow-Ekel mit Designerkrawatten einen neuen Wischiwaschi-Spaßpolitikbegriff ins Feld zu führen ("Überlasst Chaoten nicht die Straße!"). Die Love Parade ist als politische Demonstration ein genauso falscher Mythos wie Woodstock oder das Oktoberfest. Gut, dass Berlin daher endlich gegen die gepiercten Wildschweine vorgegangen ist, die den ehedem schönen Tiergarten mit ihrer Love-Kotze, Love-Scheiße und Love-Pisse wiederholt verwüstet, die halbe Stadt zugemüllt haben und den Bürger dafür zahlen haben lassen (Wer tanzt, demonstriert nicht). Der Hauptverantwortliche Dr. Motte alias Matthias Roenigh darf dafür jetzt selbst mal zahlen, und das ist auch gut so. Für seine "politischen" Schlussansprachen an der Siegessäule, die sich seit jeher auf dem Niveau eines Gurus wie Jürgen Fliege bewegen, sollte er sich außerdem langsam in Dr. Klamotte umbenennen.

Aber ganz so harmlos ist ein Guru auch wieder nicht. In einer TV-Reportage auf ProSieben war am 25. Juli zu sehen, wie ein sogenannter Technischer Leiter und eine andere Aufseherin der Love Parade GmbH (sic!) den Zusammenbau und die Anmeldung der Umzugswagen am Tag vor dem Spektakel beaufsichtigten. Fragen des Kamerateams wurden mit Verweis auf einen von oben verhängten Maulkorb pauschal verweigert. Schließlich wurde das Reporterteam ohne Angabe von Gründen vom Gelände gejagt. Das erinnerte einen doch stark an manche Berichte, die BRD-Journalisten seinerzeit in der DDR zu machen versuchten.

So sehen die Profiteure der Spaßpolitik auf den bunten Umzugswagen in Wirklichkeit aus, zu denen die Schafherde der freien deutschen Jugend aufschaut. Wer ernsthaft glaubt, dass ein aus dem Kaffeesatz herausgelesener, irgendwie neo-lockerer Politikbegriff irgendetwas Subversives bewirkt, bloß weil die Republik jetzt vom spannenden (gähn) Berlin aus regiert wird, der ist auf dem Holzweg. Der hat auch leider den Paradigmenwechsel von Kohl/Lafontaine/Gerhardt zu Schröder/Fischer/Westerwelle immer noch nicht richtig begriffen. Wer hoch auf dem bunten Wagen rumzuckt, der findet es endschrill, dass die Angie Merkel mit dem flotten Westerwelle (war mal Gaststar im BigBrother-Haus) im Cabrio spazieren fährt, wenn ein Autoverleih ihr als Werbegag eine Windstoßfrisur angehängt hat. Und in einer Ausgabe des "jetzt"-Magazins mit Kurzporträts der an Deutschland angrenzenden Länder war neulich zu lesen, dass ein polnischer Jugendlicher im deutschen Fernsehen am liebsten die Reportagen von RTL2 sieht, wo "deutsche Jugendliche vom Balkon kotzen. Je blöder, desto besser". Sogar Polen lacht also schon über uns. Äußerst unangenehm, diese Globalisierung.