Schockierende Einzelheiten über das brutale Vorgehen der italienischen Polizei
Berichte von Misshandlungen, Grüne fordern eine unabhängige und internationale Untersuchungskommission
"Die derzeitige Situation ist ähnlich der in Chile Anfang der 70er Jahre..... Innerhalb der Polizei ist ein Wandel denkbar in Richtung auf einen Staatsstreich ohne Blutvergießen." Mit diesen dramatischen Worten charakterisierte der ligurische Sprecher der italienischen Tute bianche (Weiße Overalls) Matteo Jade in der Mittwochsausgabe der jungen Welt die innenpolitische Situation seines Landes nach dem von Protesten und militanten Widerstand begleiteten G8-Gipfel in Genua.
Der Vertreter der auch in der hiesigen Linken populären Protestbewegung ist allerdings kein Panikmacher. Seine Einschätzung deckt sich frappierend mit den Erlebnisberichten, die am Dienstagnachmittag in Berlin mehrere von Repression Betroffene auf einer von Indymedia einberufenen Pressekonferenz vorstellten und die größtenteils auch im Internet zu lesen sind.
Das alternative Mediennetzwerk war am Samstagabend selber Ziel einer Durchsuchung (Angriff auf unbequeme Journalisten in Genua). Nun haben die noch immer sichtlich unter Schock stehenden Personen, größtenteils Medienarbeiter, schockierende Einzelheiten bekannt gegeben, die auch die italienischen Behörden unter Druck setzen dürften.
So berichtete der Jungle World-Mitarbeiter Michael Zimmer, dass er sich nach seiner Festnahme entkleiden und vor den Polizisten in die Knie gehen musste. Die Beamten hatten inzwischen die Vorhänge in dem Verhörraum zugezogen und ihre Dienstmarken von der Uniform entfernt. Einer hob die an den Wänden hängenden Pornobilder. Dahinter kam ein Mussolinibild und das Foto von Wehrmachtsoffizieren im Kriegseinsatz zum Vorschein. "Die Situation wurde für mich immer beängstigender. Zum Glück kam dann ein Beamter und bestätigte, dass mein Presseausweis echt ist. Noch bei der Entlassung wurde ich misshandelt, in dem mir ein Beamten mit den Fingern in die Niere stach", so Zimmer.
Andere erwischte es noch schlimmer. Ein britischer Journalist wurde bei der Polizeirazzia so schwer verletzt, dass er noch immer auf der Intensivstation eines Krankenhaus liegt. Wie er befinden sich noch 23 weitere Festgenommene in stationärer Behandlung, hat das deutsche Generalkonsulat in Mailand mittlerweile bestätigt. Sie alle zogen sich die teilweise schweren Verletzungen zu, als die Polizei am Samstagabend eine Schule stürmte, die als Quartier für Globalisierungsgegner und Indymedia-Mitarbeiter diente und mit großer Wucht auf die Schlafenden einprügelte und -trat.
68 Deutsche sind zur Zeit noch in italienischer Haft, darunter auch die Journalistin Kirsten Wagenschein, die sich im Frauengefängnis Voghera befindet. Die Indymedia-Mitarbeiter befürchten, dass die Gefangenen noch immer gefoltert werden. Diese Schlussfolgerungen ziehen sie aus den Erlebnissen, die sie in den letzten Tagen mit der italienischen Polizei machen mussten und aus Berichten von Anwälten.
Der Berliner Politologe Bodo Zeuner, dessen Tochter zu den Inhaftierten gehört, erlaubte sich in seiner kurzen Rede auf der Pressekonferenz einen Ausflug in die Historie. Er habe erst kürzlich in einem Buch von Sebastian Haffner gelesen, wie Anfang der 30er Jahre in Deutschland die Demokratie gegen den Faschismus immer wehrloser wurde. Dazu haben auch von der Mehrheit der Bevölkerung geduldete oder sogar unterstützte Rechtsbrüche beigetragen. Ohne platte Vergleiche ziehen zu wollen, erinnern ihn die Ereignisse der letzten Tage in Italien an diese Situation, so Zeuner. Er kritisierte auch die deutschen Konsulatbeamten in Italien, die es anfangs am nötigen Engagement haben fehlen lassen oder von der Situation einfach überfordern gewesen seien.
Zunehmend scheinen sich auch Berichte zu erhärten, dass die Polizei Provokateure in den Schwarzen Blocks eingeschleust hatte, die die Stimmung anheizen und so zur Kriminalisierung der Proteste beitragen sollten. Zur dieser Einschätzung kamen unabhängig voneinander sowohl verschiedene anarchistischen Gruppen Italiens als auch die Tute Bianchis. Nach Angaben der Roten Hilfe Göttingen wurden im italienischen Fernsehen mittlerweile Beweise einer zeitweiligen Zusammenarbeit zwischen Polizei und einigen Wortführern des Schwarzen Block gezeigt.
Inzwischen fordern der innenpoltische Sprecher der Grünen, Cem Özdemir, und der Abgeordnete Hans-Christian Ströbele die Einsetzung einer unabhängigen internationalen Kommission zur Untersuchung der Polizeieinsätze in Genua: "Wie aus Fernsehdokumentationen und Presseartikeln hervorgeht, ist die Eskalation der Gewalt in Genua auch durch Polizeieinsätze gegen gewaltfrei Demonstrierende gefördert worden. Berichte, wonach Personen aus dem "Schwarzen Block" bei der Polizei aus- und eingingen, begründen den Verdacht einer Zusammenarbeit zwischen Provokateuren und Polizei und müssen überprüft werden. Völlig unverständlich und nicht zu rechtfertigen erscheint die polizeiliche Durchsuchung des Sozialforums und die Erstürmung der gegenüberliegenden Schule in den frühen Morgenstunden des Sonntags.
Das Geschehen in Genua ist keine rein inneritalienische Angelegenheit. Es geht uns alle an. Grundrechte auf Meinungskundgabe- und Versammlungsfreiheit gelten in ganz Europa. Alle EU-Bürgerinnen und EU-Bürger haben das Recht sich friedlich und ohne Waffen frei zu versammeln und Gehör zu verschaffen. "