Die Grundrechte der Querdenker

Seite 2: Die Querdenker als Anhänger einer reaktionären Grundrechtsauslegung

Die Auslegung der Grundrechte im Sinne ihres "Funktionswandels im demokratischen Verfassungsstaat" war und ist aber nicht unumstritten, weder in der Rechtswissenschaft noch in der Politik. Maßgebliche Kräfte bestehen in der Bundesrepublik weiterhin auf ihrer ursprünglichen Bedeutung, wonach sie vor- bzw. überstaatliche Rechte seien.

Zu ihnen gehörte vor allem der Verfassungsrechtler Carl Schmitt, der in seinem Werk "Verfassungslehre" schrieb:15

Für einen wissenschaftlich brauchbaren Begriff muss daran festgehalten werden, dass Grundrechte im bürgerlichen Rechtsstaat nur solche Rechte sind, die als vor- und überstaatliche Rechte gelten können, die der Staat nicht nach Maßgabe seiner Gesetze verleiht, sondern als vor ihm gegeben anerkennt und schützt. (…) Diese Grundrechte sind also ihrer Substanz nach keine Rechtsgüter sondern Sphären der Freiheit, aus der sich Rechte, und zwar Abwehrrechte ergeben.

Carl Schmitt, Verfassungslehre

Dahinter steht die Vorstellung, dass diese Rechte dem Menschen qua Geburt als Naturrecht zustehen. Obwohl Carl Schmitt "der staatstheoretische Wegbereiter und Rechtfertiger des deutschen Faschismus"16 nach 1945 in der Bundesrepublik akademisch isoliert blieb, konnte er zahlreiche ihrer wichtigsten Verfassungsrechtler nachhaltig beeinflussen, etwa Josef Isensee, Theodor Maunz und Ernst-Wolfgang Böckenförde.

Die von diesen und anderen Verfassungsrechtlern, Richtern und Politikern vertretene Definition von Grund- bzw. Freiheitsrechten, zielt darauf ab, dem Parlament die Entscheidungsgewalt über Gesetzesvorhaben zu entziehen, indem man ihm abspricht, die Grundrechte eigenständig auslegen zu dürfen.

So werden demokratische Parlamentsentscheidungen, auch schon mal als "Parlamentsdiktatur" bzw. "Tyrannei der Mehrheit" diffamiert. Dahinter stehen oft Klasseninteressen, geht es doch vor allem darum, die Eigentumsgarantie nach Art. 14 GG vor missliebigen politischen Eingriffen, etwa mittels des Steuerrechts, abzuschirmen. Indem die Querdenker nun die Grundrechte wieder ganz in diesem Sinne als Abwehrrechte gegenüber dem Staat interpretieren, leisten sie dieser reaktionären Sichtweise Vorschub.

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie nach dem Infektionsschutzgesetz

Anders als die Querdenker behaupten, stellt die Anwendung des "Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz)" und die damit verbundene Einschränkung von Grundrechten nicht die Abschaffung der Demokratie dar.

Nahezu alle Staaten der Welt verfügen über solche Gesetzesinstrumentarien und wenden sie auch an. Das deutsche Infektionsschutzgesetz dient dem Schutz der Gesundheit und des Lebens der Bürger in Zeiten einer Epidemie und ist daher wie kaum ein anderes Gesetz geeignet, den Kerngehalt der tangierten Grundrechte, nämlich das Leben und die Gesundheit Aller, zu schützen.17

Besonders scharf greifen die Querdenker die gegenwärtigen Einschränkungen des Demonstrationsrechts an. Das Recht auf freie Versammlung ist in Art. 8 GG - sowie in den meisten deutschen Landesverfassungen - ausdrücklich als Grundrecht garantiert. In Absatz 2 von Art. 8 GG heißt es aber auch:

"Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden." Art. 8 GG, Absatz 2

Über die Möglichkeit einer Einschränkung der Versammlungsfreiheit unter den Bedingungen einer Epidemie heißt es bei Sieghart Ott unter der Überschrift "Spannungsverhältnis zwischen Versammlungsfreiheit und gesellschaftlicher Realität":18

Zulässig sind Maßnahmen, die nicht gegen die Versammlung als solche gerichtet sind, auch wenn sie deren Durchführung mittelbar beeinträchtigen oder sogar verhindern. Das gilt insbesondere für Anordnungen aus bau-, feuer-, gesundheits- oder veterinärpolizeilichen Gründen. In diesen Fällen liegt lediglich eine Reflexwirkung vor. So kann die zuständige Behörde nach § 43 des Bundesseuchengesetzes (heute: Paragraph 28a Infektionsschutzgesetz, A.W.) beim Auftreten einer meldepflichtigen übertragbaren Krankheit (z.B. Tollwut, Pocken) in epidemischer Form Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen, auch in Versammlungsräumen, beschränken oder verbieten, soweit und solange dies zur Verhinderung der Verbreitung der Krankheit erforderlich ist. Einen Eingriff in das Versammlungsrecht stellt das nicht dar.

Sieghart Ott, Die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit

Demonstrationen waren und sind in Deutschland aber auch während Corona-Lockdowns möglich. Allerdings müssen dabei bestimmte Auflagen zum Infektionsschutz eingehalten werden, insbesondere das Abstandsgebot und die Pflicht zum Tragen eines Mund- und Nasenschutzes. Auch wurden bestimmte Obergrenzen bei den Teilnehmerzahlen festgelegt.

Zu restriktive Auflagen von Verwaltungsbehörden, bei denen das Ermessen nicht ausgeübt wurde bzw. der Ermessensspielraum verkannt wurde, sind immer wieder durch Gerichtsentscheidungen zugunsten der Anmelder korrigiert worden.19

Da nach Art. 1, Absatz 3 GG die Grundrechte die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung "als unmittelbar geltendes Recht" binden, sind Einschränkungen der Grundrechte prinzipiell nur aufgrund von Gesetzen erlaubt. Zugleich verlangt Art. 80 Abs. 1 GG vom Gesetzgeber, Inhalt, Zweck und Ausmaß einer erteilten Ermächtigung im Gesetz zu bestimmen.

Das war der Grund für die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes im November 2020: Viele bis dahin nur in Verordnungen geregelte Sachverhalte fanden Eingang in Gesetzesnormen. Die Rolle des Deutschen Bundestages wurde dadurch gestärkt.20

Für die Sachverhalte, die auch in Zukunft nur durch kurzfristig zu erlassende Verordnungen geregelt werden können, da nur so die Verwaltung flexibel auf neue Lagen in einer Epidemie reagieren kann, wurden eine Reihe von Ermächtigungsklauseln in die novellierte Fassung aufgenommen.

Es zeugt von der Verblendung von Querdenkern und AfD-Politikern, dass sie allein aus der Verwendung des Wortes "Ermächtigung" den Schluss zogen, hierbei handele es sich um ein zweites Ermächtigungsgesetz wie jenes vom 23. März 1933, dass der Reichsregierung unter Adolf Hitler weitreichende Befugnisse zur Ausschaltung des Parlaments gab.

Andreas Wehr ist Autor von Büchern und Artikeln zu Europa, Philosophie und Geschichte sowie zur aktuellen Politik und Mitbegründer des Marx-Engels-Zentrums Berlin. Mehr über ihn auf der Webseite: www.andreas-wehr.eu