Die Guten und die Bösen

Seite 2: Weswegen wir Putinversteher wurden

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Seit im Zuge der Krise um die Ukraine in den Medien das Wort "Putinversteher" aufgetaucht ist und als Diskreditierung all jener eingesetzt wird, die sich weigern, diesen Konflikt als Schwarzweißfilm mit eindeutiger Rollenverteilung in Gute (USA, EU und Nato) und Böse (Putin und Russland) zu sehen, sind wir, die Autoren, bekennende Putinversteher. Dass "Verständnis" nicht "Zustimmung" oder "Akzeptanz" bedeutet - diese semantische Klarstellung scheint wichtig zu sein: Hitler zu "verstehen" heißt keinesfalls, ihm zuzustimmen.

Und so verhält es sich auch mit dem russischen Präsidenten, der schon oft mit Hitler verglichen wurde: Hillary Clinton, ehemalige US-Außenministerin und potentielle Präsidentschaftskandidatin, sorgte für die internationale Premiere des neuen Hitler-Vergleichs, Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble legte indirekt nach, indem er den Beitritt der Krim zu Russland mit Hitlers Einnahme des Sudetenlands gleichsetzte. Der Verweis auf den Bad Boy Nummer eins der politischen Zeitgeschichte scheint im Zuge der medialen Zuspitzung kriegerischer Konflikte offenbar unvermeidlich und ist - auch wenn sich angesehene Intellektuelle dieses Jobs befleißigen und uns wie Hans Magnus Enzensberger vor dem Irakkrieg etwa Saddam Hussein als neuen Hitler präsentieren - nichts anderes als dumpfe Propaganda.

Das heißt nun nicht, dass der Nicht-Hitler Wladimir Putin ein Waisenknabe, sein Regierungsstil der eines "lupenreinen Demokraten", wie Ex-Kanzler Gerhard Schröder ihn einmal nannte, und Russland ein freiheitlicher Rechtsstaat ohne Fehl und Tadel sei. Das ist nicht der Fall, und Kritik an der Amtsführung des russischen Präsidenten ist in mancher Hinsicht berechtigt. Dass jedoch der Versuch, die Motive Russlands in der Ukraine-Krise zu verstehen und Einsicht in die Beweggründe und Ursachen von Putins Handeln zu gewinnen, diskreditiert und "Putinversteher" (oder "Russlandversteher") als Schimpfwort gebraucht wird, kommt einer Diffamierung jeder Art von Analyse gleich. Wo jedoch nicht mehr analysiert werden darf, da herrscht Ideologie, wo Verstehen verboten wird, regieren Glaubensbekenntnisse.

Deshalb bekennen die Autoren sich neuerdings und ausdrücklich als "Putinversteher". Denn je boshafter, hitlerartiger Putin in den Medien porträtiert wird, desto wichtiger wird ein nüchternes und realistisches Verstehen - nicht durch psychologisierende Spekulation über eine Person, sondern durch politische Analyse, nicht durch einseitige Ideologie, sondern durch ein möglichst objektives Erkennen der Lage.

Von einem solchen möglichst neutralen Erkenntnisgewinn haben sich die westlichen Medien während der gesamten Krise in der Ukraine weitgehend - und seit der Zuspitzung der Lage im November 2013 nahezu vollständig - verabschiedet. Und so kam es, dass die im Westen verbreitete Ideologie mit Putin als neuem Quasi-Hitler von der Bevölkerung mehrheitlich als solche erkannt wurde und sich die Journalisten wunderten, dass ihre über Monate auf allen Kanälen penetrierte Freund-Feind-Unterscheidung vom Publikum nicht angenommen wurde.

Selten klafften veröffentlichte Meinung und öffentliche Meinung weiter auseinander. Mehr als die Hälfte aller Deutschen äußerte in Umfragen im April 2014 Verständnis für die Haltung Russlands und sah im Anschluss der Halbinsel Krim kein Überschreiten einer "roten Linie", dem militärisch entgegengetreten werden sollte; mehr als drei Viertel der Bevölkerung wollen keinen neuen Kalten Krieg.1 Anfangs wurde die Tatsache, dass sich die sogenannten "meinungsbildenden" Medien ihrer entscheidenden Funktion beraubt sahen, weil die öffentliche Meinung nicht der veröffentlichten ihrer Leitartikler und Redakteure entsprach, mit dem Verdacht erklärt, der in Leserbriefen und Kommentaren im Netz geäußerte Protest sei "von Moskau organisiert ".2

Das Misstrauen gegenüber den Verlautbarungen etablierter Politik und Medien ist im Zuge der Ukraine-Krise erheblich gewachsen

Nachdem dann repräsentative Umfragen die weite Verbreitung des Unglaubens belegten und man Moskau zwar reichlich Böses andichten konnte, aber nicht die Fähigkeit, mehr als vierzig Millionen Deutschen das Gehirn zu waschen, verlegten sich die Journalisten auf psychologische Deutungen, mit Erklärungen, die freilich kaum weniger krude ausfielen als die Theorie einer Propagandaverschwörung des Kremls. Da wurden dann die Sympathien für Putin mit dem unausrottbaren Hang der Deutschen zu "starken Führern" erklärt oder mit der Ignoranz von zu reichen und saturierten Wohlstandsbürgern, die einfach nur ihre Ruhe haben wollen, oder mit der Feigheit des "deutschen Michel", der alles außer Krieg will, sowie mit der schlichten intellektuellen Beschränktheit der "Putinversteher", deren Verständnis sich aus Unwissen und Halbwahrheiten speisen würde. Dass sie selbst vielleicht Desinformationen und Halbwahrheiten verbreitet haben könnten, auf diesen Gedanken kamen die Medienmacher nicht.

Und so wiesen sie den Vorwurf einseitiger Berichterstattung entrüstet weit von sich und fuhren fort in ihrer Schwarzweißmalerei, die Russland auf die Person Putin, einen machtsüchtigen Autokraten, reduzierte und als Gegenstück den anonymen "Westen" inszenierte, der nur das Gute wollend hilflos einem aggressiven Tyrannen ausgeliefert ist.

Dass die massive Einmischung des Westens in die Angelegenheiten der Ukraine dazu heruntergespielt und das Monster Putin massiv aufgeblasen werden musste, versteht sich von selbst. Weniger selbstverständlich und deshalb überraschend, für die Medien ebenso wie für die Politik, war die Tatsache, dass dieses Schattenspiel vom Publikum so schnell durchschaut wurde. Ob das nun einfach nur am undefinierbaren Bauchgefühl der Bevölkerung lag oder an den Erfahrungen mit gefälschten Kriegsanlässen wie in Jugoslawien ("Hufeisenplan") und Irak ("Massenvernichtungswaffen") in der jüngeren Vergangenheit oder an der wachsenden Dominanz von Internet und Social Media, die alternativen Nachrichten schnelle und große Verbreitung ermöglichen und so den ehemaligen Leitmedien zunehmend den Rang ablaufen?

Welche Faktoren auch immer dafür verantwortlich sind: Das Misstrauen gegenüber den Verlautbarungen etablierter Politik und Medien ist im Zuge der Ukraine-Krise erheblich gewachsen. Und dies zu Recht, wie wir im Folgenden deutlich sehen werden. Dass schon 2013 bei einer Umfrage von Transparency International 54 Prozent der Deutschen die Medien für korrupt hielten, passt da ins Bild.3

"In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt", so fasste unlängst Egon Bahr, einer der Architekten von Willy Brandts Ostverträgen, seine jahrzehntelangen Erfahrungen als Außenpolitiker vor einer Schulklasse zusammen. Ihren Bericht über den Auftritt des sozialdemokratischen Urgesteins in Heidelberg überschrieb die Rhein-Neckar-Zeitung: "Egon Bahr schockte Schüler: Es kann Krieg geben". Und wir sollten uns mit diesem alten Fahrensmann der Außenpolitik merken: Wenn es ihn in der Ukraine gibt - und der Bürgerkrieg ist ja bereits im Gange -, dann ist es definitiv kein Krieg um Demokratie und Menschenrechte, sondern um die Interessen von Staaten.

In diesem Buch werden wir deshalb versuchen, die Interessen der beteiligten Staaten so darzustellen, wie sie sich auf dem Schachbrett geopolitischer Auseinandersetzungen darbieten - jenseits der propagandistischen Verbrämungen und Verzerrungen, mit denen Kriege seit je aufgeladen werden. Um diese Interessenlage aufzuhellen, müssen wir auf die Entwicklungen der vergangenen fünfundzwanzig Jahre zurückblicken: auf das Ende des Kalten Kriegs, die Wiedervereinigung Deutschlands und den Niedergang der Sowjetunion und die Entstehung der Russischen Föderation ebenso wie auf die Entwicklungen der Europäischen Union, der Nato und der Supermacht USA. Und natürlich müssen wir uns die Geschichte der Ukraine anschauen, das große Land zwischen Europa und Asien, das jetzt von einem Krieg zerrissen zu werden droht, was weder im Interesse seiner Bürger noch in dem der Welt sein kann. Dass die beiden größten Atommächte, die USA und Russland, dabei direkt aufeinander losgehen, mag durch das Gleichgewicht des nuklearen Schreckens nach wie vor ausgeschlossen sein, doch auch ein mit Stellvertretern und verdeckten Mitteln geführter Krieg ist keine wünschenswerte Perspektive.

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