Die Hölle liegt also in der Schanze

Seite 2: Klassenkampf 2.0

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Nun sind Scharmützel zwischen Staatsmacht und Polizei im Schanzenviertel nichts Neues. Aber die Vorkommnisse in der vergangenen Nacht übertrafen alles bisher Dagewesene. Bilder von Uniformierten mit Gewehr im Anschlag, das auf Protestierende zielt, kennen wir sonst z.B. aus der Türkei, nicht aber aus Hamburg.

Es herrschte offenbar blinde Zerstörungswut: Scheiben von Geschäften wurden eingeschlagen, diese geplündert und verwüstet. Leihräder, die an einer Station im Viertel abholbar sind, wurden zerstört. Barrikaden errichtet und angezündet. Über Stunden. Und das alles in einem dicht besiedelten Stadtteil. In einem Viertel, wo selbst alteingesessene, vermutlich eher konservative Geschäftsleute im Vorfeld Verständnis für die Proteste gegen den G20 geäußert hatten.

In den Nachrichtensendungen wurden immer wieder Bilder von brennenden oder ausgebrannten Autos gezeigt. Die meisten davon ältere Kleinwagen oder Familienautos. Einigen war anzusehen, dass die Besitzerin oder der Besitzer vermutlich von der Versicherung keinen Cent Entschädigung erhält. So manche Familie wird wohl künftig erst einmal den Alltag ohne fahrbaren Untersatz gestalten müssen. Der NDR berichtet im Liveblog über die "Aufräumarbeiten".

In den sozialen Netzwerken wurden die Vorkommnisse sehr unterschiedlich bewertet. Während so manch ein Fan des harten Widerstands so nach und nach das blanke Entsetzen, in manchen Fällen auch die bloße Panik erfasste, verteidigte ein Teil die Militanz. Das sei immer noch relativ harmlos, im Gegensatz zu dem, was Menschen in Syrien jeden Tag zu erleiden hätten. Der berühmte Spruch "Wer Wind sät, wird Sturm ernten" erfreute sich in dem Zusammenhang großer Beliebtheit.

Die Ausschreitungen sind also sozusagen Klassenkampf 2.0. Die Frage ist nur: Welche Klasse gegen welche Klasse? Die Stadtteile, aus denen die Verwüstungen gemeldet wurden, sind keine "Bonzenviertel", die zerstörten Autos größtenteils keine Nobelkarossen, die Geschäfte mit Ausnahme der Ketten gehören Privatleuten, die sich damit mehr recht als schlecht durchs Leben schlagen. Manche von ihnen die berühmten MimiMis, Mitbürger mit Migrationshintergrund (der Begriff ist von dem Rapper Samy Deluxe geklaut. Der Drogeriemarkt, der komplett zerstört wurde, gehört zu einer Kette, die eine Stiftung betreibt, die das Verlegen von "Stolpersteinen" unterstützt.

Was bitte hilft es den Menschen in Syrien, wenn auch im Hamburger Schanzenviertel Existenzen vernichtet werden?