Die Interessenverbände haben sich den Staat unterworfen

Seite 2: Klientelpolitik um Wählerstimmen

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Im Laufe der Jahrzehnte des praktizierten Pluralismus ist die Schieflage immer markanter geworden. In den 1950er, 1960er und vielleicht noch 1970er Jahren hatte die damals viel diskutierte "Herrschaft der Verbände"2 etwas geradezu Hausbackenes, ja Beschauliches. Das hat sich grundlegend gewandelt. In stets wachsendem Maße bedienen Gesetze heute fast nur noch partikulare Interessen, mit deren Hilfe politische Parteien sich die Gunst von Interessengruppen erkauft haben.

Für jedermann nachvollziehbar und erkennbar wurde das 2009 durch ein Gesetz, das dem Hotelgewerbe milliardenschwere Subventionen bescherte. Seit 2010 müssen Deutschlands Hoteliers nicht mehr den vollen Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent, sondern nur noch 7 Prozent zahlen. Durchgeboxt hatte das die FDP, die sich damit zu Recht den Vorwurf einhandelte, sie sehe sich weniger dem Allgemeinwohl verpflichtet als den Vorlieben einzelner Interessengruppen. Meist genau jener Gruppen, in denen die Partei einen Teil ihrer Wählerschaft verortet.

Ausgerechnet der Eigentümer der Mövenpick-Hotelgruppe hatte vor der Wahl der FDP und der CDU über sein Firmennetzwerk auch noch Spenden in Millionenhöhe überwiesen. Die Milliardensubvention ist in der Sache völlig unverständlich; denn niemand außer den Hoteliers findet die neue Subvention vernünftig.

Selbst in der FDP war das Nachwahlgeschenk höchst umstritten. Dass sich der Plan trotzdem durchsetzen konnte, ist auf die Besonderheiten der schwarz-gelben Koalitionsverhandlungen zurückzuführen: Weil sich Union und FDP in vielen Punkten uneins waren, manchmal auch quer durch die politischen Lager, kam am Ende mal ein fauler Kompromiss und oft auch nicht mehr als grober Unfug heraus.

Inzwischen ist ein wenig genauer bekannt, wie es zu diesem Skandal kam. In die Verhandlungsgruppe Wirtschaft der Koalitionsverhandlungen brachte der tourismuspolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Ernst Burgbacher, ein Papier seines guten alten Bekannten Ernst Fischer ein. Der ist Präsident des Gastro-Verbands Dehoga und Eigentümer eines Hotels in Tübingen. Verständlich, dass ihm eine kräftige Senkung der Mehrwertsteuer so recht am Herzen lag.

Von der Verhandlungsgruppe wanderte das Papier in die Arbeitsgruppe "Steuern, Haushalt, Finanzen", wo man ausrechnete, dass eine Senkung der Mehrwertsteuer von 19 auf 7 Prozent für das gesamte Hotel- und Gaststättengewerbe zu Steuerausfällen von 4,615 Milliarden Euro pro Jahr führen würde und daher erst einmal dagegen war.

So einigte man sich auf einen ermäßigten Steuersatz nur für Gaststätten und nur für den Verkauf von Speisen. Für den Außer-Haus-Verkauf von Speisen galt nämlich schon vorher der Satz von sieben Prozent. Dadurch sollte der Steuerausfall auf 2,2 Milliarden Euro begrenzt werden.

Dieser Vorschlag ging in die Spitzenrunde der Parteivorsitzenden. Und die reagierte ganz und gar unerwartet: Statt die Mehrwertsteuer auf das Essen zu ermäßigen, subventionierten sie das Schlafen in Hotelbetten.

Die Finanzpolitiker hatten das ausdrücklich abgelehnt, weil sie fürchteten, die Hoteliers könnten versuchen, üppige Pauschalpakete in die Steuerermäßigung zu schmuggeln. Wie berechtigt diese Sorge ist, haben inzwischen auch die Finanzmister von Bund und Ländern erkannt - allerdings zu spät.

Nicht ganz klar ist, wie es dazu kam, dass die Parteivorsitzenden den Steuersatz für Hotels senkten, obwohl die Finanzpolitiker das ausdrücklich abgelehnt und etwas anderes empfohlen hatten. Aber von den logischen Möglichkeiten, die sich als Erklärung anbieten (a: Sie wollten den Hotelbesitzern unter allen Umständen etwas Gutes tun; b: Sie haben nach langen Verhandlungen irgendetwas total falsch verstanden), ist jede einzelne ein politisches Armutszeugnis. Deshalb kommt es nicht wirklich darauf an. So oder so ist die Erklärung eine Schande für den Prozess der politischen Entscheidungsfindung in einer Demokratie: Ob sie sich nun in schmählicher Unterwerbung zum Handlanger der Hoteliers in ihrer Klientel machen oder aber zu blöd sind, etwas zu begreifen. Wen interessiert das noch?

Vor wenigen Jahren, als die partikulare Interessenpolitik noch nicht so sehr im Vordergrund stand wie heute, wäre eine solche Politnarretei völlig unmöglich gewesen. Die Unterwerfung der staatlichen Politik unter eine partikulare Klientel und unter die Lobbyisten ist weiter vorangeschritten und schreitet unaufhaltsam weiter voran.

So hatte die CDU/CSU-FDP-Koalition lauter Forderungen der Arbeitgeber auf ihre Fahnen geschrieben: kein flächendeckender Mindestlohn, Erleichterung befristeter Arbeitsverhältnisse, Einfrieren des Arbeitgeberanteils in der Krankenversicherung, nachdem die drei Parteien 2007 und 2008 zusammen 2,7 Millionen Euro als Spenden von Arbeitgeberverbänden erhalten hatten. Allein der Verband der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie spendete der CSU 1,4 Millionen Euro. Die Investition hat sich gelohnt.

Im Koalitionsvertrag versprach die schwarz-gelbe Regierung, sie werde "den steuerlichen Abzug privater Steuerberatungskosten wieder einführen", nachdem der Deutsche Steuerberaterverband in seinen "Wahlprüfsteinen" zur Bundestagswahl 2009 den Wunsch nach "Wiedereinführung der privaten Steuerberatungskosten als abzugsfähige Sonderausgaben" formuliert hatte.

Im Wahlkampf noch hatten FDP und CDU noch - wie in jedem Wahlkampf - getönt, sie wollten ein einfaches und gerechtes Steuersystem aufbauen, das Steuerberater für Privatleute überflüssig machen würde. Das hat ja sowieso nie jemand erst genommen, und die Klientel der Steuerberater ist doch für die Parteien viel wichtiger als die Steuerzahler…

Generell fordert die FDP stets Wettbewerb auf allen Märkten. Sie nennt sich halt eine liberale Partei. Nur im Arzneimittelhandel nimmt sie es mit der Liberalität nicht so genau. Da findet sie ebenso wie die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA), mit der Freiheit der Märkte könne man es auch übertreiben und lehnt zum Beispiel den Versandhandel mit Medikamenten ab.

Daher plante die Regierung laut Koalitionsvertrag die Abschaffung der Pick-up-Stellen von Versandhändlern, also der Tankstellen oder kleinen Geschäfte, in denen Kunden von Versandhändlern ihre Medikamente abholen können. Die Kunden haben davon Vorteile. Die Apotheker sehen darin eine unbotmäßige Stärkung der Versandkonkurrenz. Die Koalition wollte laut Koalitionsvertrag "die Auswüchse beim Versandhandel bekämpfen, indem wir die Abgabe von Arzneimitteln in den sogenannten Pick-up-Stellen verbieten". Klientelpolitik nennt man das.

Selbst private Busunternehmer im öffentlichen Personen-Nahverkehr (ÖNPV) zählte die Koalition zu ihrer Klientel. Im Koalitionsvertrag hieß es: "Unser Leitbild ist ein unternehmerisch und wettbewerblich ausgerichteter ÖPNV. Dabei werden wir den Vorrang kommerzieller Verkehre gewährleisten." Der Staat stellt die Infrastruktur, die privaten Unternehmen befördern Personen und Güter.

Damit folgte die Koalition den Wünschen der privaten Busunternehmen. Die privaten Busunternehmen wollen unabhängig von öffentlichen Auftraggebern werden. "Das private Busgewerbe muss im öffentlichen Personenverkehr (ÖPNV) eine stärkere Rolle spielen", schrieb der Bundesverband Deutscher Omnibusunternehmer auf seiner Internetseite. Daseinsvorsorge im ÖPNV bedeute nämlich "keineswegs, dass Kommunen diese Leistungen selbst erbringen sollten".

Die rot-grüne und auch die große Koalition haben die private Krankenversicherung an den Rand der Bedeutungslosigkeit regiert. Ihre Forderung, die kapitalgedeckte Privatversicherung auszubauen, stieß bei Union und FDP auf offene Ohren. Die privaten Krankenversicherungen (PKV) seien neben der gesetzlichen als "Voll- und Zusatzversicherung ein konstitutives Element in einem freiheitlichen Gesundheitswesen", hieß es im Koalitionsvertrag. Zumindest die FDP wollte einen kompletten Systemwechsel hin zur privaten Absicherung.