Die Interessenverbände haben sich den Staat unterworfen

Seite 4: Die Asymmetrie bestehender Machtverhältnisse verfestigt sich

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Der durch den Einfluss mächtiger Lobbyisten deformierte Staat ist in der politischen Wirklichkeit eine Katastrophe für die breite Bevölkerung. Er ist schon längst nicht mehr eine neutrale, am Gemeinwohl orientierte unabhängige Instanz. Der Staat ist selbst zum Spielball privatwirtschaftlicher Interessen geworden. Er hat in entscheidenden Aspekten seine Existenzberechtigung verloren, weil er nicht mehr neutral und gerecht gegen jedermann ist, sondern Partei gegen die Bürger ergreift.

Die Aufteilung der Macht nach sozialen Gruppen gibt zwar den organisierten Interessen das Recht und auch die Chance, an der politischen Willensbildung mitzuwirken, sie hat aber entscheidend dazu beigetragen, dass sich die Asymmetrie bestehender Machtverhältnisse verfestigen konnte. Es gibt deutliche Machtungleichgewichte. Demokratische Politik müsste diesen Ungleichgewichten entgegenwirken und die Schwächeren unterstützen. Sie tut aber das Gegenteil. Sie rottet sich mit den Starken gegen die Schwächeren zusammen.

Nur in den Wahlen zählen alle Stimmen noch pro forma gleich. Doch darüber hinaus zementiert sich die Pluralität der asymmetrischen Kräfteverhältnisse. Schwächere gesellschaftliche Gruppen gehen im Machtgefüge sang- und klanglos unter. Und dieser schleichende Prozess verhärtet sich im Zeitverlauf stets weiter, weil das pluralistische System nicht flexibel genug ist, um eine Veränderung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse aus sich heraus hervorzubringen. Alle Versuche, die bestehende Gesellschaftsstruktur zu verändern, sind gescheitert.

Es ist ein eklatanter Widerspruch zur Grundidee demokratischer Mitbestimmung, wenn der politische Einfluss demokratisch nicht legitimierter Gruppen seit Jahrzehnten unablässig zunimmt. Lobbyismus steht letztlich immer im Spannungsfeld zwischen legitimer Einflussnahme und einer möglichen Gefährdung demokratischer Grundprinzipien.

Die Orientierung der Volksparteien an den vorherrschenden gesellschaftlichen Interessen hat die Entideologisierung der Parteien beschleunigt, für die Politik nur noch dem Ausgleich der pluralen Machtansprüche dient. Die Regierungen tendieren dazu, das Gemeinwohl im Machtausgleich der stärksten Interessen zu suchen. Die Politik versteht sich nur noch als Vermittler von Interessen in einem erstarrenden Herrschaftssystem.

Ein Gruppenpluralismus, dem man keine regulierenden Grenzen oder Schranken zu setzen vermag, ist ein Pluralismus der sozialen Verantwortungslosigkeit. Das Versagen der Politik ist die bittere Konsequenz der Defizite und Funktionsprobleme der pluralistisch-repräsentativen Demokratie.

In Ländern der ersten Welt wurden die demokratischen Mechanismen wirksam unterwandert. Politiker, Medienzaren, Richter, mächtige Konzern-Lobbys und Regierungsbeamte pflegen untereinander diskrete, clever verzahnte wechselseitige Beziehungen und unterminieren dadurch die laterale Balance der Gewaltenteilung zwischen Verfassung, Gerichten, Parlament, Regierung und den unabhängigen Medien als struktureller Basis der parlamentarischen Demokratie. Zunehmend wird bei dieser Verzahnung auf Subtilität oder sorgfältig erdachte Verschleierung verzichtet."

Arundhati Roy: Auf dem Weg zur imperialen Demokratie, 2003

kosch.htm