Die Konvergenzrolle von KI: Verschmelzung von Entwicklungen
Seite 3: Auswirkungen
Die Auswirkungen der Rückkoppelungseffekte auf bisherige Politiken und Politikverständnisse werden viele sein. Die damit befassten Akteure wissen trotz mancher Überspielungs- und Verharmlosungstaktiken darum. Sie erwarten sich vor allem auch Tiefen-Auswirkungen auf die humane Veränderung – also die Umgestaltbarkeit des Menschenseins und des Menschen selbst.
Ein Beispiel?
Nicht zufällig wurde die KI-Strategie Großbritanniens massgeblich vom "Center for the Governance of AI" am "transhumanistisch" angehauchten "Zukunft der Menschheit Institut" der Universität Oxford mitentwickelt.
Dessen Hauptaugenmerk richtet sich laut Direktor Nick Bostrom auf die "tiefe" Selbstverwandlung des Menschen mittels Technologie – und auf die kommende "Superintelligenz", das heisst auf die für die Jahrhundertmitte erwartete "harte" oder "echte" Künstliche Intelligenz, die zu einer Art existentieller (ontologischer) Selbstreferentialität erwachen soll. Mit ihr, so Bostrom und Mitarbeiter – wie der in der anglophonen Künstliche-Intelligenz-Debatte mit führende Alan Dafoe –, kommen bisherige Politik und Ethik endgültig in das Zeitalter ihres "Dunkels".
Das heisst: sie kommen des Handels im Unbekannten eines potentiell unendlich intelligenten Techno-Universums. Deshalb müssten bisherige Politik und Ethik beide durch eine Neukonzeption mittels technologischer Neuformung überwunden werden.
Was genau bedeutet: KI-Neuformung bisheriger Politik?
Dabei bleibt bei Bostrom und Dafoe allerdings weitgehend offen, was genau zeitgenössische Neuformung von Politik durch KI bedeutet. Die meisten Reports des Zukunft der Menschheit Instituts umkreisen den Schnittpunkt zwischen KI, "Strategy, Governance and Policy".
Dabei sparen sie dystopische Szenarien meist sorgsam aus. Die wenigen Stellungnahmen zu negativen bis tiefenambivalenten KI-Implikationen für die Politik beziehen sich meist auf den globalen Wettbewerb zwischen Systemen um effizientere KI sowie um militärische Dominanz mittels KI, nicht auf den politischen Apparat und seine Mechanismen. Trotzdem erwartet man zugleich in absehbarer Zeit das "Treffen von Entscheidungen" durch KI. So erklärte Dafoe bereits 2019, dass
KI die Lehre von jenen Maschinen ist, die in der Lage sind, komplexe Informationen zu verarbeiten. KI-Systeme ermöglichen uns, wichtige menschliche Fähigkeiten bei der Vorhersage und dem Treffen von Entscheidungen zu automatisieren, zu verbessern oder zu erweitern. Dies macht KI zu einer äußerst wichtigen und leistungsfähigen Technologie, die – so wie vorher die Elektrizität, der Verbrennungsmotor oder der Mikroprozessor – in unserer Zeit das Potenzial hat, die Wirtschaft, die Gesellschaft und das Militär grundlegend zu verändern.
Selbst wenn es ab heute keine weiteren technischen KI-Entwicklungen mehr geben sollte, stellen die bereits vorhandenen KI-Fähigkeiten die Politik der ganzen Welt vor große Herausforderungen. Die Art und Weise, wie wir fortgeschrittene KI entwickeln und nutzen, wird die alles bestimmende Entwicklung des 21. Jahrhunderts sein. Sie wird damit auch eine der wichtigsten Herausforderungen für politische Regulierung sein.
Bereits im Mai 2017 trat das "Institut für die Zukunft der Menschheit" der internationalen "Partnerschaft zur Künstlichen Intelligenz" bei. Dabei handelt es sich um eine Non-Profit-Organisation, der neben Amazon, Apple, Google/DeepMind, Facebook, IBM, and Microsoft auch Firmen wie Sony und Human Rights Watch, Unicef, und das interdisziplinäre Leverhulme Centre for the Future of Intelligence mit Beteiligung der Universität Cambridge angehören. Ziel der Partnerschaft ist es, die "besten Praktiken für einen sozial vorteilhaften Umgang mit der KI-Entwicklung zu formulieren."
Dabei besteht, wie in der anglophonen Welt üblich, bis heute ein eher einseitiger Fokus auf "Governance", also pragmatischer KI-Regulierung. Der Einfluss auf – und Zusammenhang mit – der bisher institutionalisierten Politik wird in Forschung und Veröffentlichungen meist auf Narrative, die Verbesserung von Partizipationsprozessen und auf Gefährdungen der Demokratie hin untersucht. Weit weniger steht der humane Veränderungsimpuls im Fokus.
Obwohl dies zum Selbstschutz der Forscher und Wissenschaftler in ihrem Kontext geschehen mag, bleibt damit eine wesentliche Dimension der KI-Entwicklung unterbelichtet – was einen blinden Fleck erzeugt.
In jüngster Zeit mehren sich aber auch Versuche, KI als "Chance für die Demokratie" zu untersuchen. So etwa im Rahmen der "Großen Debatten"-Serie der Cicero Stiftung 2022. Ein daraus hervorgegangenes Kern-Papier beschreibt, dass
Künstliche Intelligenz (KI) [bereits heute] grundlegende Aspekte der menschlichen Gesellschaft prägt. KI verursacht grundlegende Veränderungen in ethischer, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht. Das bedeutet, dass KI die internationale politische Ökonomie und folglich auch die internationale Politik transformiert. Systeme der künstlichen Intelligenz werden in der Lage sein, Probleme zu lösen, deren Umfang und Komplexität menschliche Fähigkeiten übersteigen.
Mittels fortgeschrittener Techniken der künstlichen Intelligenz (AAI) werden Maschinen wie Gehirne denken. Und Gehirne können als Maschinen denken. Menschliche Eingriffe in die Entscheidungsfindung werden in vollständig automatisierten Systemen ausgeschaltet.
Cicero Stiftung
Das klingt für manche weniger optimistisch, als vielmehr bedrohlich. In der Tat heisst es im selben Papier im Abschnitt "Politik und Demokratie in einer Welt der fortgeschrittenen Künstlichen Intelligenz" weiter:
Es ist unbedingt sicherzustellen, dass die derzeitige technische Standardisierung von KI eine sinnvolle Art der Regulierung darstellt. Sie sollte nicht politisch neutral sein, da alle Aspekte der KI-Funktionalität vom menschlichen Schöpfer der Algorithmen abhängen. Mit anderen Worten: KI entscheidet nicht über ihre eigenen Standards nach einer autonomen Entscheidung, die auf einer objektiven Lesung von Daten beruht. Mit anderen Worten: Auch die rasche Entwicklung der KI-Technologie kann die Risiken neuer Technologien nicht bewältigen.
Cicero Stiftung
Die Entstehung einer "KI-Demokratie"
Für Europa hat das laut den Autoren weitreichende Konsequenzen. Diese bringen fundamental neue Aufgabenstellungen mit sich:
Die digitale Gesellschaft ist der Inbegriff einer neuen Gesellschaft, die durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien regiert wird. Eine digitale Gesellschaft ist eine vernetzte Informationsgesellschaft mit neuen Werten und Bedürfnissen. Die fortgeschrittene Künstliche Intelligenz (Advanced Artificial Intelligence, AAI) wird die Schaffung einer global kodifizierten Regelung ermöglichen. Diese wird ein Netz von AAI-Systemen verschiedener AAI-Gerichtsbarkeiten miteinander verbinden, dabei das Gefühl nationaler Souveränität auslöschen und jedenfalls die AAI-Cyber-Gerichtsbarkeit einführen.
Cicero Stiftung
Es geht also um eine "neue Gesellschaft, die durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien regiert wird". Was das für bisherige Politiker (und ihre Karrieren) bedeutet, bleibt offen – dürfte aber indirekt deutlich sein.
Wichtig ist laut den Autoren der Cicero Stiftung auch, dass die Künstliche Intelligenz "ihre eigene Politik machen wird":
In einer AAI-Gesellschaft werden die AAI-Entitäten ihre eigene Politik betreiben: das heißt die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen. Man könnte sagen, dass AAI-Systeme eine elektronische Beteiligung der AAI-Einheiten an der AAI-Demokratie ermöglichen, was zur Politik der AAI führt.
Diese wird, verglichen mit der derzeitigen konventionellen Politik, eine andere Form und einen anderen Einfluss auf die AAI-Gesellschaft und das Leben annehmen. Es droht eine zentralisierte Vorstellung von Politik und Entscheidungsfindung aufgrund der Eigenschaften der AAI-Technologie. Welche Auswirkungen wird zum Beispiel die von humanoiden Robotern umgesetzte AAI auf die politische Funktionsweise der EU haben?
In Anbetracht der Tatsache, dass AAI nach wie vor von Menschen gesteuert wird, ist zu den Auswirkungen von AAI auf das menschliche Leben… eine Standardisierung erforderlich… Das verweist auf die Notwendigkeit einer politischen Entscheidung für eine zentrale KI-Governance – und damit der Umwandlung der EU in die Vereinigten Staaten von Europa.
Cicero Stiftung
Darauf aufbauend sehen die Cicero-Autoren in ihrer Schlußfolgerung auch Lichtblicke am Horizont:
Die KI-Technologie muss rechenschaftspflichtige und zuverlässige Systeme hervorbringen, die in der Lage sind, soziale Verantwortung [von Technologie] auszubauen. Das Fehlen einer angemessenen und rechtzeitigen Steuerung von KI-gestützten Systemen ist für alle Regierungen, welche KI-Technologie einsetzen, mit erheblichen Risiken verbunden. Darüber hinaus verstärken das Ausmaß und die Auswirkungen von KI innerhalb und über Sektoren hinweg sowie die Konzentration der großen KI-Anbieter das Vorhandensein von Netzeffekten, die ihre Präsenz begünstigen…
KI wird vor allem dann zu mehr Demokratie und besserer Politik führen, wenn sie in einen objektiven demokratischen Rahmen eingebettet ist, der sowohl den Vertretenen als auch den Repräsentanten die Möglichkeit gibt, Kontrolle über das Ergebnis der Entscheidungsfindung durch KI-Algorithmen ausüben zu können.
Cicero Stiftung