Die Konvergenzrolle von KI: Verschmelzung von Entwicklungen

Künstliche Intelligenz und Politik. Werden Algorithmen bald zu den besseren Politikern? Überblick über ein entstehendes Feld. (Teil 2)

In Teil 1 dieses Beitrags haben wir einige politikrelevante Phänomene des zivilisatorischen Übergangs beschrieben, der sich derzeit mittels Künstlicher Intelligenz vollzieht. KI wirkt mittlerweile trans-systemisch und als inter- und trans-disziplinäre Transformatorin in alle Gesellschaftsbereiche hinein. Insofern ist KI zu einem zunehmend wichtigen "kontextuellen" Politikakteur geworden. Wie gehen institutionalisierte Politik und Regierungen damit um?

Der heutige große Sprung der KI: Vom Technologiebereich in die Gesellschaft

Am wichtigsten in der Summe der in Teil 1 aufgewiesenen Aspekte ist: Künstliche Intelligenz soll – und wird wohl auch – die Entwicklungen auf verschiedenen technologischen Gebieten miteinander verschmelzen. Ziel ist, KI mit den Anforderungen von Industrie 4.0 und einem "transhumanistischen" Menschenbild 2.0 zu verbinden. Auf diese Weise soll KI laut den zahllosen Euphorikern in Wirtschaft, Sozialwissenschaft und Politik, denen die Kulturkritik bislang wenig entgegenzusetzen hat, zur universalsten zivilisatorischen Veränderungskraft der vor uns liegenden Geschichte werden.

Oder wie es die Pro-KI-Vertreter der Universität Cambridge, die den Anspruch verfolgt, zur europäischen Führungsuniversität auf dem KI-Gesellschaft-Konvergenz-Gebiet zu werden, im November 2018 programmatisch ausführten:

KI-Systeme werden bereits in allen Bereichen eingesetzt: Vom Aktienhandel bis zur Festsetzung von Hauspreisen; von der Aufdeckung eines Betrug bis zur Übersetzung zwischen Sprachen; von der Erstellung unserer wöchentlichen Einkaufslisten bis zur Vorhersage, welche Filme uns gefallen könnten. Doch das alles ist erst der Anfang.

Schon bald wird KI eingesetzt werden, um unser Verständnis der menschlichen Gesundheit durch die Analyse großer Datensätze zu verbessern und uns bei der Entdeckung neuer Medikamente und der Personalisierung von Behandlungen zu helfen. Selbstfahrende Fahrzeuge werden das Verkehrswesen verändern und neue Paradigmen der Stadtplanung ermöglichen. Maschinen werden unsere Häuser effizienter betreiben, Unternehmen produktiver machen und uns helfen, Risiken für die Gesellschaft vorherzusagen.

University of Cambridge

Sicher scheint den Befürwortern:

Während einige KI-Systeme die menschliche Intelligenz übertreffen werden, um die menschliche Entscheidungsfindung zu unterstützen, werden andere sich wiederholende, manuelle und gefährliche Aufgaben übernehmen, um die menschliche Arbeitskraft zu ergänzen. Viele der größten Herausforderungen, vor denen wir stehen: vom Verständnis und der Eindämmung des Klimawandels bis hin zur schnellen Erkennung und Begrenzung von Krankheitsausbrüchen, werden durch Werkzeuge der KI unterstützt werden.

University of Cambridge

Zwar hat sich ein entscheidender Einfluss von KI auf die Risikovorhersage und -bekämpfung in der Covid-19-Pandemie der Jahre 2019-22 noch nicht bewahrheitet. Aber das tut dem "großen Horizont" der Befürworter keinen Abbruch. Die Forscher sind sich bewusst, dass ihre umfassenden, zuweilen geradezu messianischen Erwartungen an Künstliche Intelligenz ebenso einmalig in der Geschichte gesellschaftlicher Transformationstechnologie sind wie die Zuschreibung universaler Anwendbarkeit:

Was wir bisher von der KI gesehen haben, ist nur die Spitze der kommenden Revolution. Die Idee, Maschinen zu schaffen, die wie Menschen denken und lernen, gibt es schon seit den 1950er Jahren. Warum ist KI dann erst jetzt ein so heißes Thema? [...] Drei große Fortschritte ermöglichen erst seit kurzem enorme Fortschritte in der KI-Forschung: die Verfügbarkeit von Datenmassen, die wir alle ständig erzeugen; die Leistung und Verarbeitungsgeschwindigkeit der heutigen Supercomputer; und die Fortschritte in der Mathematik und Informatik bei der Entwicklung ausgefeilter Algorithmen, die Maschinen beim Lernen helfen.

University of Cambridge

Laut dieser Analyse der Cambridge Universität müssen sich Politik und Gesellschaft im Zug der Entwicklung auf eine nicht mehr ferne Zukunft einstellen, in der

Technologie [vor allem in Gestalt Künstlicher Intelligenz] nahezu jeden Aspekt des modernen Lebens beeinflussen wird. Darauf müssen wir uns jetzt vorbereiten.

University of Cambridge

Doch was genau heißt zum jetzigen Zeitpunkt "vorbereiten"?

Heißt "vorbereiten" nun, da laut solchen Analysen eine historische Umwälzung mittels KI ja praktisch unvermeidlich ist, hauptsächlich An- und Einpassung – nicht nur vonseiten der Wirtschaft, von der das medial praktisch täglich gefordert wird, sondern immer stärker auch vonseiten der Politik: also seitens der öffentlichen Rationalität selbst?

Der Sprung vom KI-Fokus auf Wirtschaft in die Politik liegt schon in der Logik von Vorhersagen wie jener der Cambridge Universität, wie in der Logik von KI selbst. Diese Logik lautet: Wenn KI systemisch wird, dann wird sie zwangsläufig politisch.

Wenn also der kommende Fokus von KI unweigerlich auf einer Art Makro-Kybernetik der Gesamtgesellschaft liegen wird, weil das zwingend aus ihrer eigenen Funktionsweise erwächst, würde sich das Ideal offener Gesellschaft dazu selbst befragen müssen. Denn wenn die offene Gesellschaft Politik bisher im Kern definiert hat als die permanente, unabschließbare Verwandlung von Sozialverhältnissen in Rechtsverhältnisse, dann schafft der Trend zu Künstlicher Intelligenz neue "Sozialverhältnisse", die sich in Politik und Recht abbilden müssen.

Die aktuelle Pro-KI-Propaganda zugunsten einer gesellschaftlichen Omnipräsenz Künstlicher Intelligenz kommt jedoch so umfassend daher, dass sie nicht mehr nur abbildet, sondern unweigerlich das Politische selbst in Prozessen, Inhalten, Ausrichtung und Selbstverständnis beeinflussen oder sogar verändern muß, um ihren eigenen Ansprüchen und Zuschreibungen gerecht zu werden.

Vom pragmatischen Wirtschafts- zum post- und meta-ideologischen Politikfaktor?

Das gewiß historische KI-Momentum der Gegenwart hat, stärker noch als die anwendungsorientierte, sozial relevante Wissenschaft, die in der KI mangels anderer "neutraler" Motive einen neuen legitimatorischen Kern verortet, die Wirtschaft längst vollends erfasst. Diese gibt sich gern pragmatisch, sachlich und nüchtern – ist es gegenüber Künstlicher Intelligenz und ihrer offenbar "universalpenetrativen" Option aber immer weniger.

Interessanterweise tendieren gerade die dem Selbstanspruch nach utilitaristisch-pragmatischen Wirtschaftsvisionen Künstlicher Intelligenz in der Verbindung von Sozialentwicklung und Politik dazu, den Geltungsbogen zu überziehen – und Künstliche Intelligenz zur bestimmenden ökonomisch-sozialen Kraft der kommenden Jahre zu erheben. So berichtete, um wiederum nur ein Beispiel unter vielen zu nennen, die international agierende US-Analysefirma Forrester Research im November 2017, dass

Unternehmen sich mit neuen Technologien, insbesondere Künstlicher Intelligenz, zwar bisher grundsätzlich schwer tun. [2018] setzten… die meisten Unternehmen ihre KI-Experimente fort... Die KI-Budgets der Firmen bleiben im Gegensatz zu den Transformationserwartungen an KI bislang jedoch eher niedrig. [Doch] wir prognostizieren, dass sich Unternehmen immer stärker mit der pragmatischen Seite von KI befassen werden, da sie nun ein besseres Verständnis der Herausforderungen haben und sich die Idee zu eigen machen, dass "kein KI-Schmerz keinen KI-Gewinn bedeutet".

Die KI-Realität ist nun einmal da. Die Unternehmen… erkennen die wirklichen Herausforderungen der KI... Die Unternehmen werden sich auf die Datengrundlagen konzentrieren, kreative Ansätze für den Aufbau und die Bindung von KI-Talenten verfolgen, Künstliche Intelligenz konkret in die Geschäftsprozesse einbinden und beginnen, Mechanismen zu entwickeln, um zu verstehen, warum sich die KI so verhält, wie sie es tut.

Bei alledem – und da sollten Politiker und Entscheidungsträger nun tatsächlich konkret aufhorchen, weil sie das unmittelbar betrifft – soll Künstliche Intelligenz, auch und gerade angetrieben durch wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Prozesse, das neue Feld einer erstmals tatsächlich wirklichkeitsantizipativen Voraussagetechnologie begründen.

Diese leitet sich unter anderem aus bereits existierenden Modellen wie der "realantizipativen Polizeitechnologie" (predictive policing technology) ab. Dieses angewandte soziale Erkundungsverfahren besteht darin, Daten aus vergangenen Verbrechen mit Orten, Umständen, Sozial-, Klassen- und ethnischen Daten zu integrieren. Dies, um möglichst genau vorhersagen zu können, wo, wie und wie häufig welche Verbrechen an welchen Orten einer Stadt in Zukunft geschehen werden.

Wie die daraus hervorgehende Erfahrung zum Beispiel der Stadt Santa Cruz in Kalifornien gezeigt hat, lässt sich diese aus dem Polizeidienst entwickelte KI-Technologie auf zahlreiche andere soziale Fragestellungen übertragen. Die Entwickler erwarten sogar, dass ähnliche Verfahren mittels KI bald auf die meisten gesellschaftliche Zusammenhänge angewandt werden können.

Sollte sich das als nützlich erweisen, würde KI zweifellos zum unschätzbaren Instrument für die Politik. Denn welcher Politiker wüsste nicht gern, was in der Zukunft wo und wie geschieht? Das verliehe politischen Agenden bis zu einem gewissen Grad die Möglichkeit der Antizipation – und damit politischen Strategien erhöhte Erfolgschancen. Und natürlich auch erhöhte Wahlchancen.

Die Tendenzen nehmen deshalb auch aus praktischen ordnungspolitischen Anwendungsansätzen heraus zu, Künstliche Intelligenz direkt und pro-aktiv mit sozialer Entwicklung und Politik in Verbindung zu bringen.

Die KI-Politik-Propagatoren erklären Künstliche Intelligenz sogar zur impliziten Politik der Zukunft, weil es ohne sie möglicherweise gar keine Wirtschafts- und Institutionenpolitiken mehr geben wird. Das würde bedeuten, dass sich auch die Zivilgesellschaft mit ihrer gesellschaftspolitischen Dimension der Penetration durch KI nicht substantiell und dauerhaft versagen wird können.