Die Verwandlung des Politischen

Künstliche Intelligenz und Politik. Werden Algorithmen bald zu den besseren Politikern? Überblick über ein entstehendes Feld. (Teil 1)

Der Hype um Künstliche Intelligenz kennt keine Grenzen. Er erreicht auch das Selbstverständnis von Politik. Eine umfassende Veränderung der Politik durch Künstliche Intelligenz wird vorausgesagt. Zu Recht? Tatsächliche Veränderungstrends mischen sich mit "Imaginationspolitiken" (imaginal politics) und Interessen. Wer das künftige Verhältnis zwischen Politik und Künstlicher Intelligenz absehen will, sollte zwischen Propaganda, Projektionen und Perspektiven unterscheiden.

Zerfall von Ordnungen

Wir leben im Zeitalter des "Zerfalls von Ordnungen" (Henning Vöpel). Wiederholte Bündelkrisen unterhöhlen Verhältnisse – nach dem Motto: steter Tropfen höhlt den Stein. Systemkrisen erfolgen immer öfters in kurzen Zeiträumen. Aushöhlung vollzieht sich unter der Schwelle kultureller Selbstwahrnehmung – lange, bevor Disruption eintritt.

An der Oberfläche erstarren Gesellschaftsstrukturen und deren Selbstbilder. Die Risse gehen tief. Gesellschaften spalten sich – politisch, sozial, in den Wertestrukturen. Das geschieht sowohl in offenen wie geschlossenen politischen Systemen.

Auf dem Radar europäisch-westlicher offener Gesellschaften werden "unterschwellige" Aushöhlungsprozesse bislang nur undeutlich sichtbar. Doch sie agieren derzeit in allen sechs Aufbau- und "Treiber"-Dimensionen von Gesellschaft: in Wirtschaft, Politik, Kultur, Religion-Spiritualität, Demographie und Technologie.

Sie manifestieren sich in der Polarisierung der Diskurse auf diesen Feldern. Und sie wirken – zum Beispiel in Gestalt der Gesellschaftspsychologie des Kontrollverlusts – auch für ihren Überschneidungspunkt, das siebte, größere Ganze: das gesellschaftliche Kontinuum oder, wie Hegel sagen würde, den "Weltprozess".

Daraus gehen Transformationslogiken hervor, die mehr oder weniger eigenständige Strukturen neben dem Politischen bilden. Die Frage für die Politik lautet in dieser Lage: Wie kann ich unter Transformationsbedingungen Relevanz erzeugen? Es geht um kohärente Vielfalt, weniger um monolithische Konsistenz. Wo liegt noch Bindekraft?

Künstliche Intelligenz (KI) spielt für die Beantwortung dieser Fragen eine zunehmend wichtige Rolle im Diskurs der Öffentlichkeit. Der euphorische Universalitätsanspruch, der im "offenen" Kontext der Gegenwart an Künstliche Intelligenz herangetragen wird, wird bislang kaum von ernstzunehmender Kritik begleitet. Lang vorbei sind die Zeiten, als Jarett Kobek schrieb: "Ich hasse dieses Internet" – um zu behaupten, es bilde sich eine neue Gegenkultur heraus. Im Gegenteil: Der Hype um KI scheint grenzenlos – und erreicht selbst grenzwertige Dimensionen.

Sozio-politische Reichweite, Fähigkeitszuschreibung und Geltungsbehauptung kennen kaum Schranken. Eine "Soziologie hybrider Systeme" bildet sich am KI-getriebenen Schnittpunkt zwischen "menschlichen und technischen Akteuren" heraus.

Daraus entwickelt sich auch eine Politik hybrider Systeme. KI wird sowohl ein bereichsübergreifendes wie systemintegrierendes Potential zugeschrieben. Das stilisiert sie zu einer Art pragmatischen Politik. Manche nennen sie eine Politik des technologischen Pragmatismus. Sie soll mittels Nützlichkeit über bisherige politische Gegensätze zwischen Links und Rechts hinausgehen.

Im Datenmeer ernten

Künstliche Intelligenz soll, um nur einige Beispiele zu nennen, Automatisierung effizienter machen, um komplexe Maschinen immer selbstständiger zu steuern. Sie soll intelligenter Technologie mittels zunächst maschinellem, dann halb-autonomem Lernen helfen, sich selbst zu versorgen und auch weiterzuentwickeln.

Sie soll intelligente Maschinen im Internet der Dinge (IoT) verbinden, damit sie zugunsten des Menschen zum Zweck der Qualitäts- und Effizienzsteigerung miteinander kommunizieren. Mit der Kombination dieser Neuerungen wird KI, so die Hoffnung, dem Menschen die meisten physischen und mentalen Arbeiten abnehmen, die sich wiederholen oder auf Routine beruhen, andere überflüssig machen.

Eine "Politik des letzten Menschen" in einem post-historischen Raum jenseits der Gegensätze von Konservativismus versus Kommunismus soll damit grundsätzlich greifbar werden.

Die eigentlich gesellschaftlich relevante Aufgabe der Künstlichen Intelligenz reicht aber, wenn es nach ihren Visionären und Betreibern geht, deutlich weiter. KI soll vor allem in neuer Dimension Information sammeln, klassifizieren und zueinander in Beziehung setzen.

Ziel ist, Daten durch ihre vergleichende Verbindung zu "steigern", sodass aus "gewöhnlichen" Daten neue, "höhere" Daten entstehen. Mittels dieser Daten können praktisch alle gesellschaftlichen Probleme durch ein neues "immaterielles Ingenieurwesen" bewältigt werden. Dieses versteht wie kein technologisches System vor ihm Komplexität. Es geht sie wie nie vorher als Ganze an. So sehen das zum Beispiel Google oder Baidu als Zukunft der Informationskybernetik voraus.

Diese Perspektive stützt sich auf die Tatsache, dass seit den 2010er Jahren weltweit nie dagewesene Datenmengen produziert wurden: 2018 waren es 2,5 Trillionen (quintillion) Bytes pro Tag. Das bedeutet laut Analytikern, dass allein in den Jahren 2016-2018 90 Prozent der bis dahin in der Menschheitsgeschichte weltweit erzeugten Datenmengen generiert wurden.

Diese Produktionsmenge blieb seitdem aufgrund wiederholter Systemkrisen relativ stabil und stand auch 2021 und 2022 bei etwa 2,5 Trillionen Bytes pro Tag.

Ende 2022 existierten etwa 97 Zettabytes elektronisch erfassbare Date in der Welt – ein Universum, das nur mehr eine hochleistungsfähige Künstliche Intelligenz mittels Integration wirklich nutzen kann. Es versteht sich von selbst, dass die Anwendung Künstlicher Intelligenz auf solche Datenmengen ein riesiges, nicht zuletzt auch selbst-evolutorisches Potential in sich birgt.

Das Tor von KI in die Gesellschaft: "Daten vernetzen, um Menschen in Kontexten zu verstehen"

Insgesamt bedeutet die Daten- und Softwarerevolution seit den 1990er Jahren in der Verbindung mit Künstlicher Intelligenz (KI): Datenmengen sind so groß, dass sie erst durch Künstliche Intelligenz sinnvoll verarbeitet werden können. Menschen könnten das in vergleichbaren Zeiträumen nie leisten. Wenn KI in großem Stil systematisch auf Daten angewandt wird, ergeben sich neue Möglichkeiten von Erkenntnis und Handeln mittels Informationsintegration.

Nur ein Beispiel dafür sind neue Forschungs- und Behandlungsmöglichkeiten mittels Supercomputern zu einer seltenen Krankheit. Aus KI-Anwendungen auf dazu verfügbare Falldaten ergeben sich im Vergleich zu bisherigen Möglichkeiten "superhumane" Optionen des Medizinerfolgs.

Der sekundenschnelle Vergleich von zehntausenden Einzelfällen dieser Krankheit weltweit in ebenso vielen spezifischen Kontexten und die Zusammenführung der Erfahrungen und daraus folgenden Lehren ermöglicht "Präzisionsmedizin": nämlich die immer genauere Zuschneidung komplementär kombinierter Behandlungsmethoden auf den einzelnen Fall.

Der Erfolg beruht auf einer bislang so nicht zugänglichen Integration einer globalen Vielfalt von Erfahrungen und ihrer personalisierten Zuschneidung auf das betroffene Individuum. Das Allgemeinste: nämlich der Erfahrungen quasi der gesamten Menschheit mittels KI zu integrieren, dient hier dem Besondersten: nämlich dem einmaligen, individuellen Fall in einer ganz bestimmten Lebensrealität und Lebensphase des einzelnen Menschen.

Experten nennen das Verfahren in der Fachsprache "The New Big Science: Linking data to understand people in context". Es ergänzt und überwölbt die Technisierung der Arztausbildung, die ebenfalls zunehmend mithilfe von KI erfolgt – so etwa mittels Ausbildung von Ärzten an virtuellen Patienten auf der Basis KI-generierter Hologramme.

Das Ergebnis dieser Hypertechnologie-Revolution für den Einzelnen scheint erstaunlich humanistisch: die Vereinigung von "Menschheitsdaten" hilft dem Individuum. Umgekehrt hilft der Einzelne mittels der Preisgabe seiner intimen Daten der Menschheit. Mit anderen Worten: Das Allgemeinste wird zum Individuellsten, das Individuellste zum Allgemeinsten – genau wie es der humanistische Idealismus etwa eines Johann Wolfgang Goethe seit dem 18. Jahrhundert erhofft hatte.

Diese Hoffnung scheint nun mit Hilfe Künstlicher Intelligenz greifbar. Sie eröffnet für KI das Tor in die Gesellschaft – auf breitester Ebene. Die Breite und Tiefe des gesellschaftlichen Nützlichkeitsversprechens legt nahe, dass keine Politik künftig mehr ohne Berücksichtigung von KI auskommen wird können.