"Die Krise des Journalismus ist eine Krise der Journalisten"

Seite 3: "Es ist alles enorm unübersichtlich und komplex geworden"

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Schon seit geraumer Zeit gibt es eine recht laute Kritik an Medien und an dem gelieferten Journalismus. Die Debatte über die Glaubwürdigkeit "der Medien" und die Qualität des Journalismus findet sowohl in Deutschland als auch der Schweiz statt. Was meinen Sie: Was sind die Ursachen dafür, dass eine beachtliche Zahl an Mediennutzern Journalisten so stark für ihre Arbeit kritisiert?

Michael Marti: Tatsächlich müssen die Journalisten derzeit viel ein- und wegstecken. Oft auch ungerechtfertigte oder gar unqualifizierte Kritik. Dafür gibt es viele Gründe, nur die wichtigsten: Es geht uns zusehends der Konsens verloren, was eigentlich Journalismus ist, was beispielsweise eine journalistische Analyse von einem Leserkommentar unterscheidet, worin die Differenz besteht zwischen einem Legacy-Titel und einem News-Aggregator, was Fakt ist, was Fake.

Es ist alles enorm unübersichtlich und komplex geworden, mit dem Resultat: Viele Leute fühlen sich überfordert, allenfalls schlecht informiert, sind verwirrt und prügeln in ihrem Frust auf die traditionellen Medien ein, wo sie - im Gegensatz etwa zum Globalplayer Facebook - zumindest noch einen konkreten Adressaten ausmachen und sich greifen können, an den sie ihre Kritik richten.

Und was man auch sagen muss: Bei allem Respekt vor der großen Mehrheit an interessierten, kompetenten und anständigen Lesern - in den Kommentarspalten tummeln sich natürlich auf Wirrköpfe und Randalieren, die sich unverhältnismäßig Gehör verschaffen können.

Ist dem tatsächlich so? Fühlen sich die Mediennutzer tatsächlich überfordert? Ist es nicht eher so, dass ein großer Teil der "User" eine beachtliche Medienkompetenz an den Tag legt, beispielsweise sehr gut zwischen einem Kommentar und einem nachrichtlichen Artikel unterscheiden kann und dann sauer reagiert, wenn er bemerkt, dass ihm unter dem Deckmantel eines scheinbar neutralen Berichts Meinung vorgesetzt wird?


Außerdem: Sie haben auch angeführt, was derzeit immer wieder zu hören ist, nämlich, dass "alles enorm unübersichtlich und komplex" geworden ist. 
Stimmt das denn tatsächlich? 
Große politische und gesellschaftliche Ereignisse waren schon immer komplex. Mir kommt es manchmal eher so vor, dass in den Kommentarspalten die Leser versuchen, auf die komplexe, mehrdimensionale Realität einzugehen, während oben in den Artikel eine zu einfache Wirklichkeit gezeichnet wird. 


Michael Marti: Der Einwand ist berechtigt. Aber ich beobachte, dass eben beide User-Typen, der kompetente und der überforderte, Realität sind. Man nannte das mal den digitalen Graben. Und wir haben dieses Phänomen ja auch bei den Journalisten festzustellen: Es gibt die kompetenten Kolleginnen und Kollegen, die mit der Entwicklung Schritt halten oder gar souverän die neuen Möglichkeiten nutzen. Und es gibt diejenigen, die dies nicht wollen oder können.

"Der Journalismus steht unter einem enormen wirtschaftlichen Druck"

Aber Sie wollten einige Gründe aufführen, was dem Journalismus so schwer zu schaffen macht.

Michael Marti: Genau. Die Tatsache ist doch: Der Journalismus steht unter einem enormen wirtschaftlichen Druck. Nach einer langen Phase, in der die Verlage Jahr um Jahr hohe Gewinne einfahren konnten.

Ungemütlich ist die Lage deshalb, weil sich die Werbung vom Journalismus trennt, insbesondere von den traditionellen Titeln. Heute können Sie als Werbekunde dank Audience- oder User-Targeting irgendwo im Netz ihren Zielkonsumenten erreichen. Sie müssen dafür nicht mehr vergleichsweise teuer beim Tages-Anzeiger oder Spiegel Online inserieren.

Aufgrund dieser Entwicklungen gehen auch im Online-Bereich den Traditionstiteln immer mehr Anzeigen verloren, vom Print ganz zu schweigen. Und irgendwann wird deshalb auch der Journalismus schlechter werden. Guter Journalismus muss zwar nicht teuer sein - er wird aber wie jedes andere Berufshandwerk auch immer etwas kosten.

Der Qualitätsjournalismus ist also zusammengebrochen?

Michael Marti: Nein, soweit ist es noch nicht. Ich kann aber nur für die Situation in der Schweiz sprechen.


Das heißt?

Michael Marti: Wenn ich den heutigen Tages-Anzeiger, ob Print oder Online, mit Zeitungen aus den 1970er-Jahren vergleiche, dann stelle ich fest, dass heute die Meinungsvielfalt ungleich größer ist als in der erwähnten Zeit, in der in der Schweiz noch das Prinzip der Parteienpresse vorherrschte. Damals, als ein Abonnement den Entscheid für eine ideologische Weltsicht bedeutete, hatten wir tatsächlich ein Bubble-Problem.

Wie betrachten Sie den Meinungskorridor der großen Medien? Ist er groß genug?

Michael Marti: Was heißt heute "große Medien"? Sprechen wir von Bild, FAZ, NZZ und "Tages-Anzeiger", also ausschließlich von den traditionellen journalistischen Titel? Oder gehören zu den großen Medien auch Blog-Plattformen und Twitter? Wikipedia gar? Also die ganze Vielfalt der Content-Plattformen, auf die Nutzer und Nutzerinnen zugreifen können, in der Regel kostenlos. Ich denke, man muss diese zweite Perspektive wählen, um zu einer Antwort zu gelangen, die der heutigen Medienwirkung und Mediennutzung entspricht. Und dann würde ich sagen: Ja, der Meinungskorridor ist breit - sicherlich ungleich breiter als in der Zeit vor dem Internet.

Mag sein, dass heute bei den so genannten Leitmedien ein Konformitätsdruck besteht - auch angesichts der außergewöhnlich schwierigen wirtschaftlichen Lage, die für uns alle eine wirklich anspruchsvolle Herausforderung ist. Aber gerade die erwähnten neuen Plattformen und der gestiegene Anspruch der Leser, am Informationsgeschehen selbständig teilzuhaben, funktionieren als Korrektiv und garantieren eine Meinungs-, aber auch Themenvielfalt. Es ist doch so: Vielfältigste Meinungen und Behauptungen, dies haben wir mehr genug. Wenn wir uns Sorgen machen müssen, dann darüber, ob der Journalismus auf Dauer noch die ökonomische Kraft hat, anspruchsvolle Recherchen und intelligente Analysen zu finanzieren.

Diese Perspektive halte ich für problematisch. 
Natürlich, wenn Sie die von Ihnen angesprochenen neuen Plattformen bzw. auch das Internet in seiner Gesamtheit als großes, neues Medium hinzuzählen, dann ist der Meinungskorridor gigantisch geworden. 
Aber auch wenn die traditionellen Medien bzw. Leitmedien ihr Meinungsmonopol "verloren" haben, so ist es dennoch immer so, dass in aller Regel Nachrichten, die als Aufmacher von einer Vielzahl dieser Medien gebracht werden, eine ganz andere Reichweite und Auswirkung haben, als etwa eine Meldung, die, sagen wir: ein "Bürgerjournalist" auf Twitter absetzt oder sonst auf einem Blog veröffentlicht. 


Hinzu kommt: Der Zugang zu Akteuren, die aufgrund ihrer Position in der Lage sind, Weichenstellungen in der Gesellschaft vorzunehmen sind, ist in der Regel nach wie vor diesen "traditionellen" Medien vorbehalten. Daraus ergibt sich auch nochmal eine ganz andere Stellung und Macht in dem "Gesamtgefüge" aller Medien. 


Michael Marti: Zugegeben, die Diskursposition eines Legacy-Titels ist natürlich eine mächtigere als die eines Bloggers. Aber grundsätzlich bin ich Optimist und ich sehe die neuen Medien, die neuen Plattformen, in ihrer Wirkung als komplementär, als ergänzend zu den traditionellen Titeln.

Ein Beispiel aus der Schweiz: 2016 wurde in unserem Land die sogenannte Rückweisungsinitiative der rechten Volkspartei an der Urne abgelehnt. Die Gegner der Vorlage, die eine weitere Verschärfung des Asylrechtes verlangte, organisierten und äußerten sich sehr geschickt auf Facebook. Das Nutzen der Plattform war ein zentraler Bestandteil ihrer Kampagne-Strategie und Grund für den alle überraschenden Erfolg gegen die scheinbar übermächtige SVP.

Wie könnte es den traditionellen Medien denn gelingen, diejenigen Leser, die ihnen kein Vertrauen mehr entgegenbringen, zurückzugewinnen?

Michael Marti: Indem wir uns Gedanken machen über unsere Beziehung zu den Leserinnen und Leser. Diese muss grundsätzlich geprägt sein von Interesse und Transparenz. Und hierzu ist eine offene Analyse und Verwertung von qualifizierten Leserfeedbacks und Nutzerdaten, so wie wir dies besprochen haben, ein probates Mittel.