"Die Krise des Journalismus ist eine Krise der Journalisten"

Seite 2: Dem gläsernen Leser steht der gläserne Journalist gegenüber

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Wie geht die Redaktion mit diesen Angaben um und finden diese Leserbewertung alle bei Ihnen im Haus gut?

Michael Marti: Nein, nicht alle. Es gibt Kollegen, die sich den Wertungen nur ungern aussetzen.

Warum?

Michael Marti: Manche Kollegen glauben, mit den Wertungen der Leser lasse sich journalistische Qualität nicht objektiv erschließen.

Was aber nicht falsch ist.

Michael Marti: Ja, aber darum geht es in ersten Linie auch nicht.

Sondern?

Michael Marti: Was wir messen, ist nicht eine objektive Qualität der Artikel, sondern die Leserzufriedenheit oder, wenn Sie so wollen, die Kundenzufriedenheit - wie dies in anderen Branchen auch geschieht. Man sollte sich gegen diese Entwicklung nicht stemmen. Im Journalismus etabliert sich nur, was in typischen Bereichen der Digitalwirtschaft bereits Norm ist: die Bewertungskultur. Bewertungen, und ich sehe das positiv, bringen auch jene auf Trab, die bisher geglaubt haben, sich um die Meinungen anderer nicht kümmern zu müssen.

Ist es verständlich, dass Journalisten sich skeptisch zeigen, wenn ihre Arbeit plötzlich auf diese Weise taxiert wird?

Michael Marti: Ja, das ist nachvollziehbar. Aber der Wandel lässt sich nicht aufhalten. Wenn Daten vorhanden sind, dann werden sie auch genutzt. Die Unternehmen wissen immer mehr über den Erfolg oder Misserfolg des einzelnen Journalisten - dem gläsernen Leser wird der gläserne Journalist gegenüberstehen. Dieser muss damit rechnen, dass seine eigene Leistung genauso mit Kennzahlen beschrieben wird wie die Performance von Artikeln.

Damit erleben Medienredaktionen derzeit eine Transformation, die in anderen Branchen (Buzzword "Industrie 4.0") schon weiter fortgeschritten ist. Wie immer man dazu steht, auch die größten Skeptiker werden zugeben: Besser, wenn journalistische Arbeit, oder Journalisten selbst, an einer differenzierten Metrik gemessen werden - und nicht bloß an den Klicks.

Schwingt in Ihren Ausführungen auch Kritik an der eigenen Branche mit?

Michael Marti: Machen wir uns nichts vor: Die sogenannte Krise des Journalismus ist in hohem Maße eine Krise der Journalisten. Zuwenig entschlossen ist in den vergangenen Jahren auf die Digitaltechnologie gesetzt worden, zu viel Widerstand wurde Neuerungen entgegengebracht.

Es gibt hierfür verschiedene Gründe: Viele Journalisten, gerade im deutschsprachigen Raum, sind geprägt von einem Misstrauen gegenüber der Technik, hinzu kommt die erwähnte Innovationsferne. Schließlich ist der Wandel, das muss gesagt sein, sehr fordernd für jeden einzelnen - im Grunde muss sich heute ein Journalist fortwährend weiterbilden.

Und wie sieht es mit den Verlegern aus?

Michael Marti: Die Verleger sind zu oft mutlos, wollen nicht investieren. Wie es anders geht, das zeigt Jeff Bezos mit der "Washington Post". Die "Post" setzt auf den Ausbau der Online-Berichterstattung, stellt Reporter ein, verstärkt den investigativen Journalismus und vermeldet steil ansteigende Abonnentenzahlen. Bei allen Vorbehalten gegen Amazon-Gründer Bezos: Dies ist ein erstaunlicher Turnaround, der seinen Anfang nahm mit einer eigentlichen Technologie-Revolution beim Traditionsbrand.

Nochmal zur Qualität im Hinblick auf die Messungen. Wir sind schon kurz darauf eingegangen, aber nochmal: Ob ein Artikel nun als "lesenswert" oder nicht bewertet wird, muss nicht zwangsläufig etwas über die Qualität bzw. die gelieferte journalistische Arbeit aussagen. Anders gesagt: Ein Artikel kann inhaltlich und thematisch gut sein, aber vielleicht gefällt Lesern einfach das Thema oder die Meinung nicht, die in dem Artikel enthalten ist.

Michael Marti: Dies ist ein wichtiger Punkt. Tatsächlich bedeutet ein tiefes Rating nicht zwangsläufig, dass ein Artikel handwerklich ungenügend ist. Aber, wie gesagt, es hat niemand behauptet, dass die Leserfeedbacks ein objektives Maß für journalistische Qualität sind. Vielmehr sind sie ein Gradmesser für die Userzufriedenheit. Zudem gibt es Wertungsmuster, die man interpretieren muss. 


Wie meinen Sie das?

Michael Marti: Ein Beispiel: Vergleichsweise tiefe Werte erhalten kontroverse Stücke oder Themen. Grund: Artikel dieses Clusters polarisieren mit ihren Inhalten die Gruppe der Wertenden stark, deshalb ist in solchen Fällen das Rating zwar tief, beziehungsweise ausgeglichen, die Gesamtzahl abgegebener Wertungen indessen sehr hoch. Das bedeutet nun keinesfalls, dass wir solche Texte nicht mehr wollen, im Gegenteil.

Leserforen zu schließen, ist der falsche Weg

Der Tages-Anzeiger bietet seinen Lesern auch ein Forum, das heißt, unter den Artikel kann auch diskutiert werden. Warum?

Michael Marti: Wir schalten pro Tag zwischen 5 bis 10 solcher Foren frei, in denen unsere Nutzerinnen und Nutzer jeweils zu einem Artikel diskutieren können; zudem publizieren wir jeden Tag ein halbes Dutzend Postings in unserer Blog-Sektion, auch hier kommentiert unser Publikum engagiert.

Wie sehen Sie es, dass zahlreiche große Medien die Leserforen geschlossen oder das Angebot, unter Artikeln zu kommentieren, stark eingeschränkt haben und nur noch bei bestimmten Themen ein Forum freischalten?

Michael Marti: Leserforen zu schließen, das ist der falsche Weg.

Warum? 


Michael Marti: Wenn ein Medium sein Leserforum schließt, gibt es eine entscheidende Qualität preis: die Interaktivität, die Ermöglichung von Partizipation, das Schaffen von Nähe und Loyalität. Wenn Online-Journalismus nicht mehr interaktiv ist, dann ist das so, als ob Sie mit einem Farbfernseher nur schwarz-weiss gucken.

Was ist das für eine Mentalität, die hinter diesen Entscheidungen steckt? Kommt da auch die von Ihnen bereits angeführte Ignoranz gegenüber der Leserschaft zum Ausdruck?

Michael Marti: Das kann man so sehen. Das Moderieren und Kontrollieren von User-Kommentaren auf Nachrichtenseiten ist eben ein Knochenjob. Aber ein lohnender. Ein professionelles Community-Management verlangt eine technische Infrastruktur, ein spezielles Know-how und vor allem: genügend Ressourcen. Das kostet natürlich etwas. Bei Tages-Anzeiger Online kontrollieren wir in zwei Schichten täglich mehrere tausend User-Kommentare.

Wer die Einlassungen der Redaktionen zur Schließung der Leserforen verfolgt, kann zu dem Eindruck gelangen, in manchen Redaktionen gibt es eine regelrechte Angst vor der Meinung des Lesers, oder? 


Michael Marti: Ich denke, als vor rund 10 Jahren, praktisch alle großen Newssites Kommentarforen eingeführt hatten, herrschte eine große Naivität. Die User-Post wurden in vielen Fällen nicht einmal kontrolliert. Das ist absurd: Man stelle sich vor, eine Redaktion würde unbesehen Leserbriefe abdrucken. Der verantwortliche Chefredakteur hätte ein größeres Problem.

Aber im Netz war dies der Fall.

Michael Marti: So ist es. Dies ist weiteres Beispiel, das zeigt, wie anspruchsvoll es für Journalisten war und ist, dieses Medium zu verstehen, sein Potenzial richtig einzuschätzen und den adäquaten Umgang zu finden - so auch mit den Leserkommentaren.