"Die Langzeitarbeitslosen werden in die Armut getrieben"

Anne Seeck von der Berliner Initiative "Anders Arbeiten" über die Folgen des heute vom Bundesrat verabschiedeten "Hartz IV"-Gesetzespakets

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der Bundesrat hat heute das Gesetzespaket Hartz 4, mit dem die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II geregelt wird, mit der erforderlichen Mehrheit verabschiedet. Mit dem erzielten Kompromiss können nun 69 Städte und Landkreise auch eigenständig und unabhängig von der Bundesagentur für Arbeit Langzeitarbeitslose betreuen. Etwa drei Millionen Menschen werden insgesamt davon betroffen sein, darunter eine Million eine Million erwerbsfähige Sozialhilfebezieher. Telepolis sprach mit Anne Seeck von der Berliner Initiative Anders Arbeiten, die zusammen mit anderen Organisationen eine bundesweite Herbstkampagne gegen die im Januar 2005 in Kraft tretende Reform plant.

Wie bewerten Sie das heutige Abstimmungsergebnis im Bundesrat?

Anne Seeck: Wir protestierten heute zwar mit 50 Personen vor dem Bundesrat, das Ergebnis fiel aber wie erwartet aus. Die Ost-Länder stimmten dagegen, weil auch mit Hartz IV im Osten keine Arbeitsplätze in Sicht sind. Hohe Arbeitslosigkeit gibt es allerdings auch im Westen. Ich wohne im Westberliner Stadtteil Neukölln, wo es eine Arbeitslosenquote von 22,9 % gibt.

Wie hoch wird das Arbeitslosengeld II (ALGII) sein, das im Januar 2005 eingeführt werden soll?

Anne Seeck: Einheitlich erhält jeder Arbeitssuchende, der nicht über genügend Erspartes verfügt - da werden 200 Euro pro Lebensjahr veranschlagt, monatlich 345 Euro im Westen und 331 Euro im Osten. Pauschalbeträge für Fahrten, Bewerbungen, einmalige Anschaffungen sind in diesem Betrag bereits enthalten.

Ist die Finanzierung der Wohnung weiter gesichert?

Anne Seeck: In jedem Fall werden die Zahlungen an die Bedürftigen niedriger sein als bisher. Statt des bisherigen Wohngeldes soll es einen von den Kommunen finanzierten pauschalen Mietzuschuss geben, über dessen genaue Höhe noch verhandelt wird. Des weiteren soll noch eine Energiekostenpauschale durch die Kommune bezahlt werden, über deren maximale Höhe heute nur spekuliert werden kann. Daten liegen noch nicht auf dem Tisch.

Werden die Betroffenen Arbeitsangebote noch ablehnen können?

Anne Seeck: Jeder Bezieher von ALG II muss dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und gegebenenfalls zumutbare Arbeit auch ohne Entgelt leisten. Im Verweigerungsfall tritt die Kürzungsregelung in Kraft. Zum Katalog der zumutbaren Arbeiten gehören Maßnahmen, die nicht dem Beruf oder der zuletzt ausgeübten Erwerbstätigkeit entsprechen, die in Hinblick auf den erlernten Beruf und der erworbenen Qualifikation als geringerwertiger anzusehen sind.

Was passiert, wenn die Betroffenen nicht mitspielen?

Anne Seeck: Meldet sich der Erwerbslose verspätet auf dem Amt oder nimmt er einen angeordneten Arzttermin nicht wahr, wird dies mit einer dreimonatigen Kürzung von zehn Prozent geahndet. Wer eine Arbeit, eine Fortbildung oder Maßnahme ohne wichtigen Grund nicht antritt oder abbricht, wer sich bei einem Vorstellungsgespräch in unangemessener Kleidung bewirbt, wer eine gemeinnützige Arbeit ablehnt, wer sich "unwirtschaftlich" verhält, wer sein Einkommen oder Vermögen mindert, um die Gewährung von ALG II herbeizuführen, wird für drei Monate mit einer dreißigprozentigen Kürzung bedacht. Schon bei der ersten Pflichtverletzung erhalten Jugendlichen unter 25 Jahren Lebensmittelgutscheine und Sachleistungen. Bei der zweiten Pflichtverletzung kann bei Erwachsenen auch bei Leistungen für Unterkunft, Heizung, Mehrbedarf und Darlehen gekürzt werden. Bei der dritten Pflichtverletzung können Sachleistungen erbracht werden und bei der vierten Pflichtverletzung kann das ALG II ganz gestrichen werden.

Welche Folgen haben diese Maßnahmen für die Betroffenen?

Anne Seeck: Aufgrund des niedrigen Regelsatzes des ALG II werden Langzeitarbeitslose in die Armut getrieben, die Folge wird die Bildung von Ghettos vor allem in den Großstädten sein. Der auf die Bedürftigen ausgeübte Druck kann zu einem weiteren Anstieg psychischer Erkrankungen führen, die schon jetzt in den sozialen Brennpunkten der Großstädte zunehmen.