Die Lehre aus den Krawallen in Hamburg
Die Szenen, die in den Medien präsentiert wurden, sind banal und taugen nicht für moraltheologische Abhandlungen über das schlummernde Böse im Menschen
Rechte und Linke haben sich gegenseitig verhauen und mit der Staatsmacht geprügelt. Zu erwarten ist daher ein medialer Diskurs mit den sattsam bekannten Textbausteinen über "gewaltbereite Chaoten" sowie Schuldzuweisungen an Justiz, Polizei und Politik. Das aber können nicht die Lehren des 1. Mai in Hamburg sein.
Man kann die Krawalle militärisch diskutieren. Die so genannten "Freien Nationalisten" schildern auf einer ihrer Websites die kurzfristigen Frontverläufe an Straßen und S-Bahnhöfen so, als hätte man sich im 1. Weltkrieg kurz vor Verdun befunden. Linke Websites wie Endstation Rechts und die Antifa-Sektion auf Indymedia beschreiben ähnlich detailliert, wie Busse der Rechten demoliert und Fotografen von Neonazis geschlagen wurden, wie ein Regionalzug besetzt wurde und wie die Polizei hier und dort Kreuzungen räumte und die Demonstranten hier und dort nicht daran gehindert werden konnten, Katz und Maus oder Räuber und Gendarm zu spielen.
Wer politisch links fühlt und meint, Nazi-Demos gehörten verboten und der Staat müsse härter durchgreifen, der wird die Einschätzung bestätigen, dass die "Hamburger Polizei den Naziaufmarsch mit etwa 1000 Nazis gegen den Widerstand von 10 000 Menschen in Hamburg-Barmbek durchprügelte". Neonazis und ihre Sympathisanten werden die Schilderung von widerstand.info bestätigen, dass es "einer der erlebnisreichsten, kämpferischsten Einsätze der letzten Jahre" gewesen sei, der "geprägt war von teilweise offenen Konfrontationen mit gewaltbereiten Linken, einer überforderten Polizei und einem Stadtteil, wo es an allen Ecken und Enden brannte".
Interessant waren eher Details - für Journalisten und Antifa-Rechercheure, die immer wieder fragen: "Was macht eigentlich?" Christian Worch, begehrter Interviewpartner und mittlerweile offenbar von Beruf ausschließlich Neonazi, war wie immer da, um seinen Ruf als ganz gefährlicher Rechtsextremisten-Anführer zu festigen, den ihm die Medien immer wieder streitig machen. Thomas Wulf a.k.a. "Steiner", Torben Klebe und Dieter Riefling zeigten Gesicht, ebenso der Nazi-Anwalt Jürgen Rieger. Seltsam nur, dass die Mitglieder des braunen Schwarzen Blocks, die sich um Rieger scharten, eine Fahne der Antifa schwenkten - entweder hatten sie die erbeutet oder sie marschierten zeitweise unter falscher Flagge, um sich zu tarnen.
Reinhold Oberlercher, ein politischer Weggefährte Rudi Dutschkes und wie Horst Mahler ins ultrarechte Milieu abgerutscht, demonstrierte ebenso mit wie Constant Kusters, der Chef der neonazistischen Splittergruppe Niederländische Volksunion. Kusters war trotz der Zerstörung von Rotterdam angereist, um die deutschen Nazis und ihre Träume vom Großdeutschen Reich zu unterstützen.
Als Service bietet Bild.de ein Video, auf dem zu sehen ist, wie ein Autonomer in Kampfsporthaltung versucht, den Neonazi Siegfried Borchart alias "SS-Siggi" einzuschüchtern, und wie die Neonazis die Autonomen mit dem Ruf "Haut sie!" ein wenig verscheuchen, dann sich aber dann doch wieder zurückziehen. Die Szenen, die in den Medien präsentiert wurden, sind in Wahrheit allesamt banal, bieten weniger Action als jeder Eastern und taugen nicht für moraltheologische Abhandlungen über das schlummernde Böse im Menschen und wie es in Schach zu halten sei.
Der voyeuristische Unterhaltungswert aber für Leute, die Gewalt und Straßenkampf nur aus Filmen kennen, ist hoch, weil die Authentizität mehr interessiert als die Medienberichte, deren Bilder und Filmsequenzen nur das wiederholen, was ohnehin schon oft und genau so vorgekommen ist. "Die schlimmsten Krawalle seit 30 Jahren": Wer dabei war, kann und will etwas davon erzählen. Darauf kommt es an. Britische Hooligans oder Teilnehmer der Brokdorf-Demonstrationen vor 30 Jahren (wie der Autor) werden jedoch weder die Militanz der Demonstranten noch den Polizeieinsatz für außergewöhnlich halten. Richtig ist aber das Eigenlob der Anmelder der Neonazi-Demonstration: "Der 1.Mai in Hamburg hat mehr oder weniger alles geboten, was ein Demonstrationstag in einer westdeutschen Großstadt bieten kann."
Die Krawalle sind jedoch langfristig politisch bedeutungslos. Dennoch kann man das politisches Fazit ziehen, dass einige Tendenzen, die sich in den vergangenen Jahren schon ankündigten, sich in naher Zukunft verstärken werden: Der öffentlich und bei Demonstrationen präsente Teil der militanten Neonazi-Szene hat die Ikonografie und teilweise sogar die politischen Parolen der linken Autonomen so stark übernommen, dass der Unterschied nur noch beim genauen Hinsehen erkennbar ist. Das gilt weniger für die Anführer als für das jugendliche Fußvolk und die mitlaufenden Sympathisanten. Die NPD als aktueller Marktführer in Sachen Rassismus und Antisemitismus wird ihre Angebote überdenken müssen, um den Nachwuchs weltanschaulich halten zu können. Im Westen hat sie ohnehin nichts zu bieten.
Auf der Neonazi-Website Altermedia heißt es, bei Wahlen könne man ohnehin "keinen Blumentopf gewinnen", man müsse daher auf nichts Rücksicht nehmen. Es sei gleichgültig, ob "solche Bilder" in den Medien gezeigt würden oder nicht. Das ist zweifellos richtig: Gewalttätige Demonstrationen wirken politisch gar nicht, sondern nur auf die Gruppendynamik, sie binden ideologische Sympathisanten enger an das eigene Milieu und schweißen es enger zusammen.
Die Bild-Zeitung Hamburg behauptet, dass es "erstmals" einen "schwarzen Block" mit besonders aggressiven Demonstranten gegeben habe. Das habe es vorher nur in Ostdeutschland gegeben. Das ist schlicht falsch. Die so genannten "Autonomen Nationalisten" ((Vermummte) Nazis raus!) existieren schon seit mehreren Jahren parallel zu den neonazistischen Parteien NPD und DVU und sind eine jugendkulturelle Variante der neonazistischen "Wehrsportgruppen" in den sechziger Jahren in der alten Bundesrepublik. Die schwarz kostümierten und diszipliniert auftretenden militanten Neonazis greifen bestimmte real existierenden Diskussionen und Parolen in Jugendkulturen auf, die im Diskurs des ultrarechten Milieus oft eine nur marginale Rolle spielen, versuchen, diese im ihren Sinne zu nutzen und völkisch zu besetzen und scheuen auch nicht vor Anglizismen wie "fuck the system" zurück.
Je attraktiver und erfolgreicher eine Splitterpartei wie die NPD, um so weniger anziehend sind "freie Kameradschaften". Während und nach der öffentlichen Diskussion um das Verbot der NPD erstarkte diese und konnte die Kader mit der Aussicht auf Mandate und Posten vor allem in den neuen Bundesländern locken. Das hat sich als Trugschluss erwiesen. Bei allen Wahlen in der letzten Zeit hat die NPD ein Desaster erlebt. Das Pendel schwenkt jetzt also wieder in Richtung "autonome" Nazi-Szene.
Ein praktikables Rezept, wie Naziaufmärsche verhindert werden könnten und ob das sinnvoll ist, gibt es nicht. Das Oberverwaltungsgericht Hamburg hatte es angesichts des Engagements von Anwohnerinitiativen als unverhältnismäßig angesehen, die Demonstrationsrouten zwangsweise zu verlegen, um Auseinandersetzungen zu vermeiden: Im Vorfeld sei nicht zu erkennen gewesen, es dass "zu einem Schaden für die der Versammlungsfreiheit entgegenstehenden Interessen" kommen werde. Die Polizei habe gegenüber dem Gericht "keine konkreten Tatsachen oder Erkenntnisse dargelegt, aus denen sich ergebe, dass ein relevanter Teil der Teilnehmer den Weg blockieren könnte, den der 'rechtsextreme Aufzug' nehmen werde." Die Taktik der Antifa und Gegendemonstranten beruhte auf der Strategie, den Weg der Neonazi-Demonstration so zu blockieren, dass diese letztlich hätte darauf verzichten müssen, weiter zu marschieren. Diese Taktik ist in Hamburg gescheitert.
Die interessanteste Frage zu den Krawallen wird leider niemand beantworten können: Wer hat was getan? Da die politische Gesinnung nicht mehr an der Kleidung zu erkennen ist und auch die Neonazis Mimikry kennen und benutzen, darf man darüber spekulieren, wer wem welche Gewalttat gegen Sachen in die Schuhe schieben wollte. Und natürlich ist auch die Frage gestattet, wie viele V-Leute des Verfassungsschutzes sich durch Militanz bei ihren V-Mann-Führern und bei ihren Kameraden und Genossen beliebt machen wollten.