"Die Linke hat jede Orientierung verloren"

Identitätspolitik, dogmatische Etikettierungen, Rassismus, rationales Denken und Offenheit - wie sieht der Einsatzort für eine Linke in düsteren Zeiten aus? Interview Bernhard Schindlbeck. (Teil 1)

Stets galt die Identitätspolitik als ein "linkes Projekt", das mit der Hoffnung auf Beseitigung von Diskriminierung und einer Ausweitung an Freiheit verbunden war. Gegenwärtig allerdings weht ihr ein scharfer Gegenwind entgegen.

Über alle Parteigrenzen hinweg ist eine Front der Ablehnung entstanden. Allen voran natürlich die Rechten, die in der Gleichstellung der Schwulen und Lesben oder gar der kulturellen Identität der Muslime den Untergang des Abendlandes befürchten.

Aber auch die Liberalen haben sich eingereiht. Sie sehen den demokratischen Konsens im Sinkflug begriffen, wenn durch die Zunahme partikularer Interessen "Parallelgesellschaften" entstehen.

Zuletzt sind auch noch viele Linke dazu gestoßen, die in der ausufernden Identitätspolitik immer kleinerer Gruppen den Einfluss eines neoliberalen Individualismus wittern, der die Einheit und Geschlossenheit der sozialen Bewegung befürchten.

In seiner neuesten Ausgabe hat sich der Widerspruch – Münchner Zeitschrift für Philosophie diesem Thema gewidmet. Telepolis sprach mit dem Redakteur Bernhard Schindlbeck.

Herr Schindlbeck, warum ist Identitätspolitik heutzutage so en vogue?
Bernhard Schindlbeck: Der Hintergrund ist vermutlich der desolate, hoffnungslose Zustand aller Gesellschaften und die traurige Performanz des politischen Personals in aller Welt, egal ob eher demokratisch oder autokratisch.
Die neoliberal kujonierte Demokratie kann nicht halten, was sie verspricht und zu sein vorgibt. Freiheit ist eine von Geld abhängige Variable, Menschenrechte sind ein bloßes Aushängeschild und werden so gut wie nur noch als rhetorische Waffe gegen andere, als feindlich wahrgenommene Regierungen (China, Russland, Iran etc.) missbraucht, während man selber Flüchtlinge bereitwillig im Mittelmeer ertrinken oder in Lagern in Griechenland, der Türkei oder Libyen vegetieren lässt.
Dass alle Regierungen der EU auf ihren Territorien der CIA Foltergefängnisse genehmigten, ist schon wieder vergessen. Die "freie" Marktwirtschaft, die in jedem menschlichen Bedürfnis nur eines sieht, nämlich Profitmöglichkeiten, ist längst totalitär geworden, ihr Gott ist – wie schon Georg Simmel prognostizierte – das Geld. Hauptsache die Wachstumsmaschine läuft, und wie es den Menschen dabei geht, ist den Eliten egal, solange nicht allzu viel Devianz aufkommt und die Loyalität nicht unter ein kritisches Niveau sinkt.
Es werden aber immer mehr Menschen sozioökonomisch abgehängt; in der gnadenlosen Konkurrenzgesellschaft mit ausgeprägter Statushierarchie – und im Status wird bekanntlich die Anerkennung durch den generalisierten Anderen erhofft – hat der drohende Abstieg das Aufstiegsversprechen längt abgelöst. Die "gesetzgeberische Temperierung des Gegensatzes von arm und reich" (Arnold Gehlen) gelingt nicht mehr.
Gleichzeitig hat die Linke jede Orientierung verloren; Sozialdemokratie und Grüne (die früher noch manchmal zur Linken gezählt wurden) haben sich im Neoliberalismus bequem eingerichtet; so etwas wie eine "revolutionäre" Erwartung oder auch nur Hoffnung, geschweige denn ein Potential gibt es nicht mehr.
Das Proletariat hat in Teilen zum Kleinbürgertum aufgeschlossen und mehr zu verlieren als seine Ketten, oder es ist zum Prekariat gemacht geworden. Solange es den "real existierenden Sozialismus" als bloße systemalternative Möglichkeit gab, war der Kapitalismus zu einer gewissen Sozialstaatlichkeit genötigt.
Die wurde stark reduziert, nachdem der Kommunismus kollabierte. Der "Klassenkampf" ist zum Eintreten für etwas höhere Hartz-IV-Sätze und bezahlbaren Wohnraum geschrumpft. Die Hoffnung auf eine echte Veränderung, die diesen Namen verdient und die auch Voraussetzung für eine wirksame Klimapolitik wäre, ist verdunstet.
Dass die Zukunft mehr als düster aussieht, versteht jedes Schulkind. Somit weiß die Linke auch gar nicht mehr, weshalb sie auf der richtigen Seite steht, und wo diese ist. Theoretisch hat sie sich in orthodoxen Sackgassen verlaufen.
Der ersatzreligiöse, messianische Glaube an eine Gesetzmäßigkeit der Geschichte ("auf zum letzten Gefecht") und der gesellschaftlichen Entwicklung (wie mit Hegel und Marx für Lenin, Georg Lukács und vielleicht Domenico Losurdo noch möglich) als Begründung für politisches Engagement ist verlorengegangen.

"Basale Dialektik von Besonderheit und Allgemeinheit"

Und hier ist wohl der Einsatzort für die postmoderne Linke?
Bernhard Schindlbeck: Exakt. Es ist also nicht verwunderlich, dass viele Jüngere sich mit interessierter Neugier postmodernen Denkansätzen und der Dekonstruktion zuwandten, die auch linke ideologisch-dogmatische Verkrustungen in den Blick nahmen, und den Leuten die "Sorge um sich" und ihre unmittelbaren Anliegen (wozu auch personale Identität zählt) wichtig wurden.
Dass das partikularistisch, quasi nur nackter Egoismus sei, narzisstischen Kränkungen entspringe und deshalb auf Kosten von Solidarität und universellen Werten gehe, ist ein logischer Kurzschluss.
Wenn James Baldwin für seine Emanzipation als Schwarzer und Schwuler eintritt, heißt das ja nicht automatisch, dass ihm ausgebeutete weiße Arbeiterinnen egal sein müssen. Dass die früher gängige Beleidigung "Du schwule Sau" auf Schulhöfen heute nicht mehr zu hören ist, darf man als – wenn auch noch so kleinen – Fortschritt betrachten.
Und dass auch andere Gruppen ähnliche Fortschritte für sich verbuchen möchten, ist doch verständlich. Wenn man Identitätspolitik und Universalismus plump einander entgegenstellt, ist das ein allzu simplifizierender, falscher Antagonismus, der die basale Dialektik von Besonderheit und Allgemeinheit ignoriert. Schon Kinder entdecken, dass jeder Mensch etwas Besonderes ist und dass es also gar nichts Besonderes ist, etwas Besonderes zu sein. (Manche finden das später in ihrer Hegel-Lektüre wieder.)
Dass Identität nicht ohne Andersheit gedacht werden kann, hat Platon schon in seinem Sophistes erläutert. "Ich ist ein anderer", sagte Rimbaud, und Julia Kristeva: "Fremde sind wir uns selbst". Würde man sich auf diesen Gedanken endlich einlassen, wäre das Geschrei um Identitätspolitik nicht halb so laut.

"Die Linke operiert immer gerne mit Etiketten"

Mir scheint, als könne man im identitätspolitischen Diskurs eine ad-hominem-Struktur ausmachen, nach der nicht mehr wichtig ist, was, sondern von wem etwas vertreten wird. Stimmen Sie dem bei?
Bernhard Schindlbeck: Das mag sein. Mir fehlt jedoch ein hinreichender Überblick über diesen Diskurs, der aber alles andere als eine sinnvolle und reflektierte Auseinandersetzung zu sein scheint. Die so genannte Linke hatte immer schon einen Hang zur Fraktionierung in immer noch kleinere Gruppen, die dann umso heftiger aufeinander losgingen, sich nicht selten das Links-sein absprachen.
Dies wiederum liegt u.a. daran, dass die Linke vor allem immer gerne mit Etiketten operiert, sodass etwas oder jemand "revolutionär", "revisionistisch", "reaktionär", "faschistoid", "idealistisch" oder "materialistisch", "marxistisch", "sektiererisch", "antikommunistisch", "demokratisch", "totalitär", "bürgerlich", "bildungsbürgerlich", "proletarisch", und jetzt eben "identitär" usw. ist, und das genügt vielen dann schon.
All das gibt es zwar, aber oft ersetzt die dogmatische Etikettierung zusammen mit eloquenter Polemik die Offenheit im Denken. Und innerhalb der Linken wurde ja immer von allen Seiten selber nach Kräften apodiktisch moralisiert, wobei die Verwendung moralischer (also unvermeidlich dogmatischer) Kategorien grundsätzlich zu unversöhnlicher Polemik neigt.
Hinzu kommt, dass man mit den neuen digitalen Möglichkeiten, jede Äußerung, die als Angriff aufgefasst wird, sofort im Affekt kontern kann, was wiederum zu einer schnell rausgehauenen Gegenpolemik führt, wodurch die Aufheizung noch größer wird. Auch bei Auseinandersetzungen innerhalb der Linken geht es oft recht stammtischmäßig zu. Immer schon.
Dennoch ist wohl kein Shit Storm so schlimm wie ein grölendes, schenkelklopfendes CSU-Bierzelt, das am liebsten zum Lynch-Mob mutieren würde, wenn es von einem Transmann erfährt, der in der taz über seine Schwangerschaft interviewt wird.
Hier kommt dann der Ausdruck "nicht normal" ins Spiel, und man spürt das seit je in ihm steckende Drohpotential. Die "normale Identität" mit ihrer Tradition, Frömmigkeit, Heimatverbundenheit, selbstgerechten Zufriedenheit und moralischen Nestwärme fühlt sich durch alles Abweichende, das nicht mehr ausgeschlossen sein will und Forderungen stellt, bedroht und reagiert aggressiv.
Das ist ja die andere Seite des Aufruhrs um die Identitätspolitik, die aus der der Konvention und Tradition immer schon innewohnenden Repression kommt und sich in den Fleischhauers, Poscharts usw. in mediales Getöse übersetzt, für das die identitätspolitischen Gruppen dann haftbar gemacht werden.
Identitätspolitik für eine "Spaltung der Gesellschaft" verantwortlich zu machen, ist jedenfalls naiv und irreführend. Eine Gesellschaft, in der zehn Prozent vom Staat bedingungslos beschützte Reiche zwei Drittel des vorhandenen Vermögens besitzen, ist immer schon so hoffnungslos gespalten, dass Krisen unvermeidlich und auf Dauer unlösbar sind.
Einer solchen Gesellschaft muss man entgegenhalten, dass sie niemals eine Art von Gemeinschaft sein kann. Sie nimmt zwar in Anspruch, ein Allgemeines zu sein, in das sich das Besondere einordnen muss, aber sie ist ein falsches Allgemeines, dessen Ansprüche hohl und nichtig sind.

"Okzidentales Herrschaftsmodell, das zur Ruinierung des Planeten geführt hat"

Inwiefern haben rationales Denken, Gerechtigkeit, Autonomie und Wissenschaft überhaupt etwas mit dem "männlichen Blick" zu tun?
Bernhard Schindlbeck: Dass wir in einer grundsätzlich patriarchalisch geprägten Gesellschaft leben, ist kein Geheimnis. Dass die meisten gesellschaftlichen Prozesse, also auch die Wissenschaftsorganisation, das herrschende Rationalitätsverständnis, das Recht etc. dementsprechend gefärbt sind, ist nur logisch.
Was aber rationales Denken, Gerechtigkeit und Autonomie wirklich sind, ist – obwohl sie alle generell gerne in Anspruch genommen werden – doch sehr umstritten. Wenn jemand sagt, dass der plausibelste Autonomiebegriff (wörtlich: Selbstgesetzgebung als Freiheit) von Kant stammt, wird er oder sie sofort unter "Idealismus" einsortiert.
Wenn man Rationalität als die bloße Fähigkeit, Syllogismen nachzuvollziehen, oder mit Max Weber als Adäquatheit von Mitteln für einen gesetzten Zweck begreift, steht hinter ihr auch das okzidentale Lebens- und Herrschaftsmodell, das zur Ruinierung des Planeten geführt hat, weil die gesetzten materiellen Zwecke meist an Macht und Profit orientiert, also egoistisch, blind und borniert waren.
Habermas nimmt immer die Vernunft für sein Denken in Anspruch, aber ist es wirklich so vernünftig, das demokratische Herrschaftsmodell des Lobbyismus und der Hegemonie des Geldes zu verteidigen, das in Wahrheit eine oligarchische Plutokratie ist und mit Deliberation herzlich wenig zu tun hat?
Unter Gerechtigkeit versteht vermutlich jeder Mensch also etwas anderes. Hans Kelsen sagt, sie (vor allem ihr Gegenteil: Ungerechtigkeit) sei ein subjektives individuelles Gefühl, für das es keine Möglichkeit der Objektivierung gebe. Es gibt in der Tat keine Kriterien und Prinzipen der Gerechtigkeit, die allgemein anerkannt wären. Das suum cuique ist eine Leerformel, die nach Belieben gefüllt werden kann.

"Frauen in Konzernvorständen agieren nicht anders als Männer"

Und wie kommt hier explizit der "männliche Blick" ins Spiel?
Bernhard Schindlbeck: Dieser zieht sich von Aristoteles ("Frauen verfügen über weniger Vernunft als Männer") über Paulus ("Mulier taceat in eccleasia") bis Kant ("Alles Frauenzimmer, Gesinde und Kinder können in der Republik kein Stimmrecht haben") und in das 20. Jahrhunderts. (Kommt Freuds Theorie vom Penisneid etwa nicht durch den männlichen Blick zustande?)
Klar war er von Anfang an auch in den modernen Wissenschaften am Werk, schon in der verbreiteten Auffassung, dass Frauen dort am falschen Platz seien. Das hat sich geändert, aber nur 24 Prozent der Lehrstühle in Deutschland sind von Frauen besetzt. Beim Nobelpreis für Physik gibt es bislang 214 Preisträger und 4 Preisträgerinnen. Wie sollte ein jahrhundertealter männlicher Blick in wenigen Jahrzehnten korrigiert oder ersetzt werden?
Die Frage ist, wieviel mit Quoten und der Auflösung des gender pay gap erreicht wird. In der so genannten zweiten Frauenbewegung der 1970er Jahre, hatten nicht nur Frauen die Hoffnung, dass Frauen, so sie einmal "an der Macht" wären, die Sache ganz anders und besser machen würden. Aber Thatcher, Merkel, May, Lagarde, Hilary Clinton, von der Leyen usw. haben das dann schnell widerlegt, und eigentlich schon Golda Meir und Indira Gandhi, die alle mit einem sehr männlichen Blick und Herrschaftsregime regierten.
Frauen in Konzernvorständen agieren nicht anders als Männer. Die nicht-dogmatische Antwort auf die (nicht essentialistisch gemeinte) Frage: "Wie sieht denn ein weiblicher Blick aus?" steht bisher aus. Oder nicht?
Aber vielleicht ist auch die Rede vom "männlichen Blick" schon eine unzulässige Essentialisierung. Wenn das Wort erst einmal pauschal negativ konnotiert ist, wird es zu einer Art selbstklebendem Etikett.

"Problematisch wird es, wenn man das Ergebnis zu einer Naturalisierung macht"

Findet in diesen Politikformen eine Essentialisierung von Kategorien wie Ethnie, sexuelle Ausrichtung, Geschlecht etc. statt?
Bernhard Schindlbeck: Im Interview mit Günter Gaus sagte Hannah Arendt 1964: "Es sieht nicht gut aus, wenn eine Frau Befehle erteilt. Sie soll versuchen, nicht in solche Positionen zu kommen, wenn ihr daran liegt, weibliche Qualitäten zu behalten." Man kann sich vorstellen, wie wegen dieses Satzes heute von vielen Seiten über sie hergefallen würde. Dennoch: Gibt es "weibliche Qualitäten" und, falls ja, wie wichtig sind sie?
"Essentialisierung" geht ja zurück auf die Frage nach dem Wesen von etwas oder jemandem. Was immer man betrachtet, es stellt sich die Frage: "Was ist es, dies zu sein?" schreibt Aristoteles in seiner Metaphysik. Und diese Frage ist ja nicht falsch oder blöd.
Problematisch wird es, wenn man das Ergebnis – so wie Aristoteles etwa in Bezug auf Frauen oder Sklaven – zu einer Naturalisierung macht. Frauen und Sklaven haben "von Natur aus" weniger Vernunft, behauptet er. Solche auf bloßen Behauptungen beruhenden Naturalisierungen haben den Zweck, ein Merkmal als unveränderlich, weil "natürlich" und von der Natur gegeben, festzuschreiben.
Es geht dabei in der Regel um die Aufrechterhaltung einer sozialen Ordnung, die eben immer eine Herrschaftsordnung ist. Im christlichen Abendland wird die natürliche durch die ebenfalls unveränderliche "gottgegebene Ordnung" ersetzt. Und Kant macht dann eine "a priori vernünftige" Ordnung daraus. Es geht immer um Bewahrung der Herrschaft.

"Auch in der Demokratie muss das Ressentiment als Kitt der permanent scheiternden Klassengesellschaft bedient werden"

Was passiert nun, wenn sich identitätspolitische Akteure auf dieses Spiel einlassen?
Bernhard Schindlbeck: Nach meiner Auffassung wird dann die Sache desaströs. Was heißt schon "Ethnie" und welche Bedeutung will man ihr geben? Mit der Frage "Was ist deutsch?" ist man schon ausweglos im intellektuellen Tiefparterre gelandet. Sexuelle Orientierung ist nicht unveränderlich. Ist die Pigmentierung der Haut von Bedeutung?
Definitiv ja, wenn etwa Eldrige Cleaver in Soul on Ice sagt: "Wir werden Menschen sein. Wir werden es sein, oder die Welt wird dem Erdboden gleichgemacht bei unserem Versuch, es zu werden." Definitiv nein, wenn Kinder im Kindergarten gemeinsam spielen.
Sie lernen dann gar nicht erst, dass die Hautfarbe von Bedeutung ist. Aber sie wird dann doch wieder von Bedeutung, wenn People of Color sich selber (Stichwort Postkolonialismus) in Beziehung setzen zu den von fast allen europäischen Nationen begangenen Menschheitsverbrechen des Kolonialismus, der Genozide und der Sklaverei.
Der Hautfarbenrassismus wurde ja erfunden, um die Sklaven als Menschen abzuwerten und wie Gegenstände behandeln zu können, nur um billige Arbeitskräfte zu bekommen. Das ist der Ursprungszusammenhang von Ökonomie und Rassismus.
Man hat zwar aufklärerisch von universellen Menschenrechten gesprochen, trotzdem waren viele der Aufklärung verpflichtete große Männer, z.B. Thomas Jefferson, George Washington, Benjamin Franklin und viele weitere Unterzeichner der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, Sklavenhalter.
Das ist alles noch nicht "aufgearbeitet", und der Rassismus ist (obwohl man das N-Wort im öffentlichen Diskurs nicht mehr hört) keineswegs – so wenig wie der Antisemitismus – verschwunden. Auch in der Demokratie muss das Ressentiment als Kitt der permanent scheiternden Klassengesellschaft bedient werden; dass der Rassismus immer mehr diskreditiert wird, das geschieht noch nicht sehr lange.
Aber nach den Juden und Schwarzen nimmt das brave Bürgertum jetzt die Fremden und Flüchtlinge ins Visier. Aus der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft kommt ja ursprünglich die Essentialisierung im Sinne einer ideologischen, naturalisierenden Fremdzuschreibung. Die wird dann von betroffenen Gruppen manchmal übernommen und positiv umgemünzt (black is beautiful) um sich zu wehren.
Das funktioniert aber nicht immer so ohne weiteres, und dann kommt der Angriff anderer "linker" Gruppen mit dem Vorwurf, eine solche vermeintlich "kämpferische" Selbst-Essentialisierung sei grundfalsch. Dann ist der Schlamassel wieder fertig und das Durcheinander (wer mit wem gegen wen?) wieder da.

"Grundsätzlich sollte man mit der Wendung von Natur aus sehr vorsichtig sein"

Das erinnert mich an die Entwicklung des Feminismus…
Bernhard Schindlbeck: An diesem Beispiel sieht man es mustergültig. Irgendwann haben manche unter den damals progressivsten Vertreterinnen der Frauenbewegung das "natürliche Frausein" entdeckt und ideologisch festgeschrieben, dann die nächsten die "Mütterlichkeit" – und fanden sich schnell im konservativ-reaktionären Familienbild der politischen Rechten wieder.
Dass (mit Schiller) die züchtige Hausfrau, die Mutter der Kinder im Heim und am Herd waltet, ist natürlich eine essentialistische Dummheit; das aber bedeutet nicht, dass jede Frau, die sagt "Ich bleibe lieber zu Hause und kümmere mich um die Kinder, statt bei Penny an der Kasse etwas hinzuzuverdienen" vom Patriarchat resp. ihrem Mann gehirngewaschen ist.
Dass man Selbstverwirklichung ausgerechnet in der Tretmühle täglicher Maloche findet, stimmt nämlich auch nicht so ganz. Die Welt und das Leben sind also oft dialektischer, als wir es uns zu denken trauen.
Der schwule katholische Kommunist Pasolini, by the way, war einer der wenigen, die das überrissen haben. Grundsätzlich sollte man mit der Wendung "von Natur aus" sehr vorsichtig sein. Das Wenigste ist "von Natur aus" so, wie es ist; Natur wird immer kulturell und gesellschaftlich überformt. Und genau so vorsichtig sollte man sein, wenn etwas – egal ob von den Eltern oder den Lehrern oder Jürgen Habermas – als "vernünftig" deklariert wird.

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