Die Machtergreifung der Neocons in Washington
Das politische Handeln der US-Regierung gewinnt dank der Neocons historische Dimensionen und wird zunehmend kalkulierbar
"Die Neocons haben mit wachsamer Aufmerksamkeit begonnen, die Diplomatie zu besetzen", schreibt Maureen Dowd in ihrem Editorial Neocon Coup at the Department d'État in der New York Times. Vorangegangen war ein Artikel in der Washington Post, in dem kolportiert wurde, Außenminister Colin Powell und sein Staatssekretär würden in der zweiten Amtsperiode des US-Präsidenten Georges W. Bush nicht mehr zur Verfügung stehen. Trotz des Dementi und einer Einladung der Eheleute Powell auf die Ranch des Präsidenten meint Maureen Dowd, "die Neocons wollen etwas erreichen, und sie werden es erreichen, unabhängig davon, was Georges W.Bush denkt."
Neocons, die Neokonservativen, werden auf unterschiedliche Ursprünge zurückgeführt. In der US-Regierung gehören dazu Condoleezza Rice, Paul Wolfowitz und Newt Gingrich, ebenso wie Donald Rumsfeld und Vizepräsident Dick Cheney. Ferner gibt es mächtige Think Tanks wie das "Projekt for the New American Century" (PNAC) und das Council of Foreign Relations. Und schließlich bekennen sich zahlreiche Wissenschaftler an renommierten Universitäten zu den Neocons. Sie rücken gerne in Führungspositionen auf, damit sie ihre politische Überzeugung in die wissenschaftliche Forschung und in die Jurisdiktion einbringen (Die US-Regierung und das Power Game).
Neokonservative befürworten eine machtvolle Regierung, die sich der traditionellen Moralität und der staatlichen Förderung der US-Wirtschaft verpflichtet fühlt und beides zu den Zielen der Außenpolitik macht.
Schon zuvor gab es den Versuch, Colin Powell aus dem Amt zu drängen. Der scheiterte im vergangenen August, führte allerdings zur Kehrtwende Powells und zu seiner eindrucksvollen Präsentation vor dem UN-Sicherheitsrat. Mittlerweile dürfte sich der Außenminister düpiert vorkommen, weil man ihm zu seiner Rede bekanntermaßen falsche Beweise zuschob.
Für die Ansicht von Maureen Dowd spricht, dass der im Verteidigungsministerium beheimatete Paul Wolfowitz nach seiner Irakreise statt der militärischen, seine politischen Vorstellungen über die Zukunft des Mittleren Ostens kundtat, um seinen Titel "Wolfowitz of Arabia" zu rechtfertigen. Auch Condoleezza Rice, die Sicherheitsberaterin des amerikanischen Präsidenten, entwickelte in ihrer Rede am Wochenende eine politische Perspektive zum Irak, die eher dem US-Außenminister zugestanden hätte.
Bemerkenswert ist, dass die Neocons unisono die Verhältnisse im Irak mit dem Nachkriegsdeutschland vergleichen. "Auch nach Kriegsende haben SS-Angehörige Anschläge gegen US Soldaten verübt," erklärt Frau Condoleezza Rice als Grund für die täglichen Verluste amerikanischer Soldaten. "Auch damals sind unsere Soldaten nicht mit Freude empfangen worden. Und es hat lange gedauert, bis sich die von uns installierte demokratische Ordnung stabilisierte."
Die Ikonen der Neocons
Die Ursprünge der Neocons sind leicht auszumachen. Richard S. Dunham bezeichnete im Mai in seinem Artikel in der Business Week Ronald Reagan als erste "neokonservative Ikone". Gail Russell Chaddock vom Christian Science Monitor wies zuvor auf die übereinstimmende neue und alte Terminologie hin: In den 80er Jahren nannte Ronald die UdSSR ein "evil empire" und sprach sich für die "global campaign for democracy" aus. "Damals," so Gail Russell Chaddock, "saßen die heutigen Angehörigen der US Regierung als junge Mitarbeiter im oder in der Nachbarschaft des Pentagon, und für sie waren die Worte Gold." Sie kamen weder unter Carter noch unter Bush senior und Clinton zur Macht. "Aber jetzt unter George W. Bush haben sie dazu beigetragen, die nationale Sicherheitspolitik seit den 40er Jahren neu zu überdenken - und das ist die Politik, welche die US-Truppen nach Bagdad führt und wahrscheinlich noch darüber hinaus."
Andere sehen in Irvin Kristol, dem Herausgeber von Neoconservatism), den Vater der Bewegung. Er ist Jahrgang 1920, bringt Kriegserfahrung aus Europa mit und ist seit 1940 für mehrere Zeitschriften zum Teil als Editor tätig und in mehreren Think Tanks aktiv. Der New Yorker Professor macht aus seiner Einstellung keinen Hehl: "Seitdem ich mich erinnern kann, war ich ein Neo-Etwas: ein Neo-Marxist, ein Neo-Trotzkist, ein Neo-Liberaler; religiös ein Neo-Orthodoxer - auch wenn ich zugleich Neo-Trotzkist oder Neo-Marxist war." Hinzu kommt die 35jährige Freundschaft mit Norman Podhoretz, Editor des Commentary Magazins und Mitglied des Hudson Institutes: "America's premier source of applied research on enduring policy challenges."
Norman Podhoretz sieht sich ebenfalls als Neocon. Er zeichnete im vergangenen Jahr in einer Publikation des American Jewish Committee unter der Überschrift How to win World War IV den Weg für die Generalsanierung des Mittleren Ostens auf (Weltkrieg III ist nach dieser Sicht der Kalte Krieg). Norman Podhoretz sieht sich offenbar durch die Studie A Clean Break: A New Strategy for Securing the Realm von 1996 bestätigt. Die Analyse wurde vom "Institute for Advanced Strategic and Political Studies" für den damaligen israelischen Premierminister Benjamin Netanyahu erstellt und empfiehlt:
Israel kann seine strategische Umgebung in Kooperation mit der Türkei und Jordanien verbessern, indem es Syrien schwächt, einkreist oder schlägt. Diese Bemühungen sind darauf gerichtet, Saddam Hussein im Irak zu entmachten. Darin liegt für Israel ein berechtigtes und wichtiges strategisches Interesse, um weitere regionale Ambitionen Syriens zu unterbinden. Jordanien kann die Einflusssphäre Syriens durch die Errichtung eines haschemitischen Staates im Irak zusätzlich zunichte machen.
Einigkeit nur gegen einen äußeren Feind
Nun sind also die Vereinigten Staaten in die Bresche gesprungen. Auch wenn Robert J. Lieber von der Georgetown University im Frontpage Magazine unter dem Titel The neoconservative-conspiracy theory die israelisch-amerikanische Kooperation zurückweist, betitelt Jim Lobe seinen Beitrag in Asia Times mit den Worten Die Neocons tanzen Strauss-Walzer und fragt:
Wird die Außenpolitik der Vereinigten Staaten von Anhängern eines obskuren deutsch-jüdischen politischen Philosophen betrieben, dessen Sicht elitär, amoralisch und feindlich für eine demokratische Regierung ist?"
Jim Lobe findet bemerkenswert, dass Irving Kristol ebenso wie der frühere einflussreiche Berater Richard Perle, sowie Donald Rumsfeld und sein engster Mitarbeiter Stephen Cambone sich öffentlich zur Gruppe der Straussianer bekennen.
Leo Strauss, der politische Philosoph, wurde 1899 im hessischen Kirchhain geboren und ging 1934 erst nach London und vier Jahre später in die USA. Shadia B. Drury, berühmt geworden mit dem 1999 erschienenen Buch "Leo Strauss and the American Right", gibt eine Erklärung für die Einstellung des Philosophen:
Leo Strauss meint, dass in einer Gesellschaft Menschen leben, die führen können, und andere, die geführt werden müssen. Und ferner, dass diejenigen, die führen, wissen, dass es keine Moralität gibt, sondern nur das "natürliche Recht der Stärkeren über den Schwächeren zu herrschen". Die Religion verbindet nach Leo Strauss die gesellschaftlichen Kräfte, weswegen säkulare Gesellschaften das Übel schlechthin sind. Daraus nämlich erwachsen Individualismus, Liberalismus und Relativismus, jene Kräfte also, die unterschiedliche Meinungen hervorbringen und die Gesellschaft von innen schwächen, so dass sie mit den Angriffen von außen nicht mehr fertig werden. Im Sinne von Thomas Hobbes betrachtet Leo Strauss die Menschen als grundsätzlich aggressiv, weswegen sie durch eine staatliche Macht in Zaum gehalten werden müssen. "Weil die Menschheit von Natur aus böse ist, muss sie regiert werden. Die Führung kann allerdings nur wirksam werden, wenn die Menschen geeint sind, und einig sind sie nur gegen andere", so Leo Strauss. Ganz im Sinne von Machiavelli glaubt er, dass für die Staatsräson ein äußerer Anlass fabriziert werden muss, sollte keine äußere Bedrohung bestehen.
Ed Crane und William Niskanen vom kanadischen Cato Institute sehen darin eine höchst gefährliche Entwicklung für die US-Politik. In ihrem Beitrag "Upholding Liberty in America" sprechen sie zwar von einem berechtigten äußeren Feind sowie von einem inneren Feind Amerikas: "
Den Neokonservativen reicht es offenbar nicht aus, in einer freiheitlichen Gesellschaft zu leben. ... Und sie lehnen die Vorstellung ab, dass eine Regierung nicht mehr tun soll, als die Rechte des Einzelnen auf Leben, Freiheit und Glück zu sichern.
Aus deutscher Sicht lässt sich der weitere Ablauf, den Imperialismus und Hegemonie erzeugen, mit Schrecken prognostizieren. Die Nestoren der Neocons, die 1945 dabei waren, vermitteln allerdings nicht nur für Nachkriegsdeutschland eine schiefe Bewertung. Sie vergessen, dass die US-Regierung unter Theodore Roosevelt die Chance verspielte, Europa zu einigen, und in Verkennung der europäischen Verhältnisse selbst die Spirale zum Kalten Krieg legte.