Die Mauer nochmal, bunt
Einer der markantesten geografischen Einschnitte des Landes ist mittlerweile ebenso lange vorbei, wie er einst bestanden hat
Den Artikel über die Mauer hatten wir schon, mit Bildern in Schwarzweiß. Diesmal sind die Bilder bunt - und auch der Inhalt ist ein anderer. Deshalb steht im Titel das kleine Wörtchen "nochmal".
Zur Erinnerung: die Mauer stand (bestand, legal, real) vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989. Das sind, rechnet man jeweils die Eckdaten mit, 10.316 Tage — rund dreimal so lang, wie Natascha Kampusch in ihrem Verlies in Österreich gefangen gehalten wurde (3.096 Tage). Rechnet man 10.316 Tage vom 9. November 1989, kommt man auf den 5. Februar 2018. Morgen beziehungsweise Heute.
Was kann man mit diesem Datum nun anfangen? Ich würde denken, da die Mauer ja nicht zwischen Mexiko und den USA stand, oder vor Tausenden vor Jahren irgendwo an der Außenkante von China, sondern direkt durch Berlin Mitte verlief, und durch halb Deutschland, ist es schon mal ganz relevant, vor einem deutschen Lesepublikum die Tatsache zu referieren, dass einer der markantesten geografischen Einschnitte des Landes mittlerweile ebenso lange vorbei ist, wie er einst bestanden hat. Der Schatten der Mauer ist quasi vorübergezogen, die böse Wolke ist weiter gewandert, oder wir sind unter ihr hervorgekrochen, wir sehen wieder das Sonnenlicht.
Das, so ungefähr, war meine "künstlerische" Ambition bei der Illustration des ersten Artikels, dessen Illustrationen in Schwarzweiß gehalten waren — auch deshalb, weil ich real nur noch Kopien jener Fotos in Schwarzweiß parat hatte. Die verbliebenen drei in bunt hatte ich mir für diesen zweiten Teil aufgehoben. Die Negative aus dem Jahr 1985 sind in der Zwischenzeit längst irgendwo verschlampt worden. Das versteht sich von selbst.
Immerhin war es interessant, meine übliche Ansicht bestätigt zu finden, dass "Germans" kein Auge für die "visual arts" — für bildliche Darstellungen jedweder Art — besitzen, denn keiner der Telepolis-Leser, die auf den ersten Mauer-Artikel Zuschriften lieferten, merkte auch nur in einem Nebensatz die Existenz dieser Fotos an (vgl. Allmählicher Abschied).
Die Fotos entstanden natürlich in West-Berlin. In Berlin-Ost war nicht nur das Fotografieren der Mauer unmöglich. Ost-Berliner damals sahen die Mauer also sicherlich wesentlich seltener als West-Berliner. Und natürlich nie direkt aus der Nähe, oder künstlerisch bemalt, oder gar von einer Zuschauertribüne aus, die Mauer vor sich, hinüber nach West-Berlin.
Umso mehr hätte man meinen mögen, dass Leser aus dem Ost-Teil der Stadt nun verwundert auf solche Fotos reagiert hätten. Aber nein. Auch West-Berliner schrieben nicht: "Ich erinnere mich. Genau so sah es hier aus. Überall Graffiti-Geschmiere an der Mauer." Aber es gab viele Zuschriften, die gerade die Notwendigkeit der Mauer verteidigten, bzw. eine weichere Möglichkeit der Mauer, die ich andeutete, für sinnlos oder unmöglich hielten. Die Mauer sei ja notwendig gewesen, um den Sozialismus zu verteidigen, meinten sie.
Doppelte Blindheit
Eine doppelte Blindheit also. Einerseits eine Art doktrinäres Darauf-Bestehen, bis heute, dass diese Mauer einen real-sozialistischen Zweck erfüllte, und andererseits eben die Blindheit für die künstlerische Umwandlung der Mauer im Stadtbild West-Berlins, die schließlich doch, im historischen Gedächtnis, heute längst gesamt-berlinerisch hätte vereinnahmt werden können. Z.B., indem man in Cafés bunte Großfotos von Mauerabschnitten tourismusgerecht angebracht hätte. Oder per Coffeetable-Büchern, "Die Mauer-Kunst". Natürlich auch mit Fotos von Fluchtversuchen per Heißluftballon und anderen DDR-Beiträgen zum Thema.
Insgesamt kann man wohl sagen, dass die deutsche Kunst von Dürer bis Dix (oder meinetwegen Deix) einem "hässlichen Realismus" frönt, während die Mauer-Kunst eher mit einem knalligen Expressionismus aufgeladen wirkt. Auch das Foto, das hier als Masterbild erscheint, zeigt eine Art Picasso-Karikatur der Friedenstaube im Zentrum eines Auges, dessen Blick vielleicht auf die gerade damals angesetzten Welt-Jugend-Friedens-Tage in Moskau ausgerichtet ist, während der anonyme Vorbeigeher mit der Sonnenbrille genau davon den Blick abwendet.
Immerhin ist bemerkenswert, dass die Passanten auf diesen Fotos alle ungestellt ins Bild liefen, und dass die Straßen und Wege ja durch nichts von der Mauer getrennt waren — nicht einmal durch Zentimeter. Die Mauer stand mitten in der Landschaft, mitten in der Nachbarschaft. Während auf der anderen Seite ein sehr beträchtlicher Zwischenraum eingerichtet war. Auch Fenster, aus denen man Papierflieger hätte herüber schicken können, waren verbarrikadiert.
Die Mauer im Poeme - und als Meme
Künstlerische Aspekte mal beiseite, auch die Poesie wurde stellvertretend fürs deutsche Volk eher in Amerika bemüht, so in Robert Frosts "Wall"-Gedicht von 1914, gerne zitiert nach 1961.
"Es gibt da etwas, das keine Mauer liebt", schrieb er. Frost meinte, "Im Herzen der Menschen." Und kommt doch zum Schluss zu dem Schluss: "Gute Mauern schaffen gute Nachbarn." Na sicher doch.
Da stand Kennedy vor der Mauer, oder unmittelbar in ihrer Nähe, und ließ alle Welt wissen, dass die Berliner die wahrhaft freien Weltbürger seien, so wie er. Auch er verkünde stolz, so Kennedy, er sei ein Berliner. Reagan rief Gorbatschow zu, an der Mauer, nun doch endlich Schluss damit zu machen. Mit dieser Mauer, er möge sie niederreißen. Obama ließ sich später vor der nun abgetragenen Mauer ebenfalls für sein Bio-Pic ablichten. Wie einst Kennedy, jetzt der Schwarze Präsident, in Berlin, vorm Brandenburger Tor.
"Ich bin kein Mexikaner"?
Wie wird es mit den Mauern also weiter gehen? Wird Trump vor der Mauer zwischen den USA und Mexiko stehen und verkünden: "Ich bin kein Mexikaner"? Wird er vor einer Mauer in Jerusalem stehen und verkünden: "Meine Klagemauer ist neuer, größer, schöner?"
Wird man Ex-Jugoslawien in Gesamt-Europa wieder durch steinerne Mauern unterteilen? Wird man Hadrians römische Mauer wieder im Brexit-Land aufrichten oder die Grenzen in Spanien, Irland, Griechenland, Türkei, usw. neu in Beton gießen?
Immerhin, einen Vorteil hatte die Mauer (allerdings nur für West-Berlin). Ich wanderte an einem schon schneefreudig kalten Oktobertag in Ost-Berlin umher, aus irgendeinem mittlerweile vergessenen Anlass. Ost-Berlin war umweltverseucht von den Abgasen der Trabis, die sich in der kalten Luft zu einer Mischung aus Nebel und Rauch, zu einem dichten Smog verbanden. Dem Langhaarigen, der ich damals auch schon war, nur noch mehr als heute, war der Gestank der eigenen Haarpracht zuwider, auch durch den Schal ließ es sich nur mühsam atmen.
Interessant war, dass der in die flache Berliner Landschaft hineingesetzte Ost-Berliner Fernsehturm, sonst ein Wahrzeichen der Stadt, in dieser Smog-Wüste unsichtbar wurde. Selbst aus 20 Meter Nähe oder (kaum) Distanz war er nicht zu sehen. Erst beim unmittelbaren Nähertreten offenbarte er sich urplötzlich als überdimensional riesige Realität.
Bei der Rückkehr nach West-Berlin, unglaublich, oder noch unglaublicher, aber trotzdem wahr: die Mauer hielt den Smog fern, behielt ihn "drüben". Es war aber auch ein windstiller Tag.
Fortsetzung folgt
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