Die Menschenrechtssituation in der Kaukasusrepublik verschlechtert sich immer weiter

Nach einem Bericht der Ärzte ohne Grenzen kehren die tschetschenischen Flüchtlinge nicht freiwillig in ihre Heimat zurück

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Die Lage in Tschetschenien stabilisiert sich - so jedenfalls stellt es der russische Präsident Wladimir Putin immer wieder dar. Im Zusammenhang mit dem Ausgang des Verfassungsreferendums Ende März beschwor er erneut den Normalisierungsprozess und nannte als oberste Prioritäten der weiteren Entwicklung den Entwurf eines Kompetenzteilungsabkommens zwischen den föderalen Behörden und der Kaukasusrepublik, ein Amnestiegesetz für friedensbereite tschetschenische Rebellen sowie die Vorbereitung von Präsidentschaftswahlen. Doch wenige Wochen später zeichnet sich ab, dass keines dieser Vorhaben wirklich vorankommt, ebenso wie viele der angekündigten Projekte vorher.

Auch die Menschen, die einen guten Grund hätten, sich über eine Normalisierung der Verhältnisse in Tschetschenien zu freuen, glauben daran nicht: 98 Prozent aller Tschetschenen, die derzeit in Inguschetien in Zelten leben, wollen nicht in ihre Heimat zurückkehren, weil sie dort um ihr Leben fürchten. Dies hat die gerade veröffentlichte Studie Left without a choice der internationalen Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) ergeben. Dem Bericht liegt eine im Februar dieses Jahres durchgeführte Umfrage unter 3.209 tschetschenischen Familien zu Grunde. Darin heißt es, dass die Mehrzahl der Befragten sich weigerten in ihre Heimat zurückzukehren, obwohl ihre Lebensbedingungen in Inguschetien alles andere als erfreulich seien.

Mehr als die Hälfte der Befragten hausen laut MSF in Zelten, die entweder undicht sind, keinen Kälteschutz oder keinen Boden besitzen. Darüber hinaus wissen 90 Prozent der Familien nicht, wo sie Zuflucht suchen sollen, falls die inguschetischen Behörden -wie immer wieder angekündigt - die existierenden Zeltlager schließen. Sie haben keine alternative Wohnstätte weder in Inguschetien noch in Tschetschenien. Neue Unterkünfte dürfen die humanitären Organisationen nicht bereitstellen. Bereits Ende Januar 2003 erklärten die inguschetischen Behörden, die von Ärzte ohne Grenzen bereitgestellten Unterkünfte unvermittelt für illegal, obwohl das MSF-Programm zuvor zwei Mal durch Präsident Murat Syasikow genehmigt worden war.

Die Ergebnisse des MSF-Berichts stehen im Widerspruch zu den offiziellen Aussagen, die immer wieder glauben machen wollen, dass es die humanitäre Hilfe in Inguschetien ist, die die Menschen von einer Rückkehr nach Tschetschenien abhält. Doch 88 Prozent der Familien gaben gegenüber MSF an, nicht wegen der humanitären Hilfsleistungen in Inguschetien zu bleiben. Nach offiziellen Aussagen werden die Vertriebenen auch nicht zur Rückkehr gezwungen, doch tatsächlich wächst der Druck auf die Flüchtlingsfamilien seit dem Mai 2002, als die inguschetischen, tschetschenischen und russischen Behörden ein 20-Punkte-Programm über die Rückkehr tschetschenischer Flüchtlinge in ihre Heimat beschlossen. Noch im selben Jahr folgte die Schließung von zwei Camps, für Ende Mai ist die Schließung weiterer Lager angekündigt.

Um die Menschen zur Rückkehr zu bewegen, scheinen viele Mittel recht: Widersprüchliche Ankündigungen über die Schließung eines Lagers, Schikane wie das Abstellen der Gas-, Wasser- oder Stromversorgung, aber auch Bedrohungs- und Einschüchterungsversuche erzeugen einen kontinuierlichen Druck auf die Flüchtlinge. Freiwillig machen sich nur die Wenigsten auf den Weg in die Heimat, die meisten tun dies MSF zufolge nur, weil sie den Druck nicht mehr aushalten.

Dass die Flüchtlinge nicht zurück wollen hat gute Gründe. Nach den Medienberichten der vergangenen Monate gibt es keine Zweifel daran, dass sich die Menschenrechtssituation in der Kaukasusrepublik immer weiter verschlechtert hat. Anfang März hat schließlich auch der Europarat wieder reagiert und die Errichtung eines internationalen Strafgerichtshof zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschenwürde in Tschetschenien gefordert. Doch in Sachen Tschetschenien lässt Russland sich nicht dreinreden, es gibt kein Einlenken in der Sache, nur wütende Drohungen: Der außenpolitische Sprecher der russischen Duma, Dmitrij Rogosin, und seine Delegation verließen noch während der Ratssitzung den Saal. Es werde kein Tschetschenien-Tribunal geben und künftig auch kein Europarats-Politiker mehr in die Kriegszone am Kaukasus gelassen, zürnte Rogosin und ließ wissen, dass er das Thema Tschetschenien nicht mehr im Europarat behandelt wissen und obendrein Russlands Beitragszahlungen von 25 Millionen Dollar pro Jahr um die Hälfte kürzen möchte.

Besser als im Europarat sieht es dafür bei den Vereinten Nationen aus. Von Seiten der UN-Menschenrechtskommission bleibt der russischen Regierung erneut ein Tadel erspart. Die Kommission wies Mitte April einen Antrag europäischer Staaten zurück, in dem Moskau willkürliche Hinrichtungen und Folter in Tschetschenien vorgeworfen wurde.

Auf internationaler Ebene gibt es keine einheitliche Position in Sachen Tschetschenien, so richtig auf die Füße treten will dem Antiterror-Kämpfer Putin niemand. Die Arbeit der im Kaukasus tätigen humanitären Organisationen jedoch wirft solche Verzagtheit immer weiter zurück und liefert die Betroffenen ihrem Schicksal aus - denn sie haben keine Wahl.