Die Minus-Methode
Wie man die unheimlichen Schläfer und ausgemachten Bösewichte im eigenen Köper enttarnt
Der menschliche Körper wimmelt vor Mikroorganismen. Tausende von Viren, Bakterien, Einzellern und Sporen treiben ihr Unwesen - oder schlummern harmlos vor sich hin. Bis der Tag kommt, an dem sie ihre tödliche Wirkung entfalten. Doch wie soll man die unheimlichen Schläfer und ausgemachten Bösewichte enttarnen? Der Pathologe Matthew Meyerson vom Dana Farber Cancer Institute in Boston hat eine verblüffend einfache Methode entdeckt, mit der sich Zellen auf nicht-menschliches Material untersuchen lassen, und die funktioniert so: Man nehme eine menschliche Blut- oder Gewebeprobe, die reichlich DNS enthält. Dann ziehe man alle bekannten menschliche DNS-Sequenzen ab. Der Rest stammt von Keimen und anderen nicht-menschlichen Organismen. Voilà.
Voraussetzung dafür ist freilich die komplette Entschlüsselung der menschlichen DNS. Zwar liefern sich das öffentlich finanzierte Human Genome Project und sein privatwirtschaftlicher Konkurrent Craig Venter einen erbitterten Wettstreit, doch noch fehlen ein paar Prozent. Trotzdem ist Meyerson zuversichtlich: "Das ist eine sehr wirksame Methode, mit deren Hilfe wir die Ursachen für viele bislang unerklärliche Krankheiten finden könnten. Dazu gehören jugendlicher Diabetes, rheumatoide Arthritis, Lupus und sogar Atherosklerose. Außerdem könnte die Methode behilflich sein bei der Benennung der Ursachen für neue Epidemien, seien sie nun auf natürliche Weise entstanden - wie AIDS - oder von Terroristen verursacht."
Mal unabhängig von der Frage, ob AIDS auf natürliche Weise entstanden ist und woher die Anthrax-Briefe wirklich stammen (Vgl. Aus US-Militärlabor verschwanden Anthrax-Bakterien), verfolgt Meyerson ein hehres Anliegen. Wenn seine Methode tatsächlich hält, was er sich davon verspricht, dann ginge damit ein uralter Traum der Medizin in Erfüllung: jeder Krankheit eine Ursache zuordnen und sie dadurch langfristig heilen zu können. Nach wie vor sind Infektionskrankheiten weltweit die Todesursache Nummer eins, und seitdem der Australier Barry Marshall 1983 im Selbstversuch bewiesen hat, dass nicht Stress und schlechte Ernährung, sondern vielmehr Bakterien vom Typ Helicobacter pylori Magengeschwüre auslösen, gehen immer mehr Mediziner davon aus, dass neben einigen Krebsarten auch Asthma, Fettsucht, Krebs, Rheuma, Gallen- und Nierensteine, Herzinfarkt und Depressionen letztlich Infektionskrankheiten sein könnten.
Die Idee zu seiner Methode verdankt Meyerson einem Zufall: Eigentlich war der Pathologe im vergangenen Jahr auf der Suche nach DNS-Sequenzen in menschlichen Zellen, die ähnlich agieren wie vergleichbare Sequenzen bei Bakterien. Er entdeckte drei solcher DNS-Abschnitte, doch als er sie mit den Datenbanken des Human Genome Project verglich, fand er keine Entsprechungen. Zunächst dachte er, er habe es mit bislang nicht entschlüsselter DNS zu tun. Doch die Wahrscheinlichkeit, auf gleich drei bislang unbekannte Sequenzen gestoßen zu sein, erschien ihm zu gering. Und Meyerson dämmerte, dass die DNS von Bakterien stammen musste, die sich in den untersuchten Zellen befanden. Zur Sicherheit subtrahierte er mit Hilfe des eigens dafür entwickelten Computerprogramms MEGABLAST die bekannte menschliche DNS von allen Zellen, mit denen er arbeitete. Der Rest, so seine Hypothese, muss nicht-menschliche DNS sein. "Die Idee ist so naheliegend, dass ich mich fragte, warum noch niemand darauf gekommen war," sagt Meyerson. "Als Erstes rief ich deshalb all jene Forscher an, die meiner Meinung nach dieselbe Idee gehabt haben könnten." Doch niemand war ihm zuvorgekommen - und das, obwohl das Schweizer Magazin FACTS bereits im Mai 1999 auf die Möglichkeit des Gen-Vergleichs verwiesen hatte. Das mit der Konkurrenz könnte sich bald ändern, denn Anfang Februar veröffentlichten Meyerson und seine Kollegen einen Bericht im Fachblatt Nature Genetics.
David Relman, renommierter Mikrobenjäger von der Universität Stanford, gibt in einem Begleitartikel zu Meyersons Studie zu bedenken, dass angesichts der schier unendlichen Vielfalt der Mikroben die größte Herausforderung darin besteht, die schädlichen Keime von den harmlosen zu unterscheiden. Außerdem bedeutet einen Keim in sich tragen noch lange nicht, dass man auch erkrankt. Trotzdem wäre Meyersons Methode für Relman ein Gewinn. Schließlich ist Relman Mitglied der Unexplained Death Working Group, einem Pilotprojekt des Center for Disease Control and Prevention (CDC), der amerikanischen Seuchenbekämpfungsbehörde also. Ziel der Initiative ist das Aufspüren bislang unbekannter Krankheitserreger sowie die Erforschung mysteriöser Todesfälle. Allein in den USA starben Ende der 90er Jahre jährlich rund 3.000 Menschen unter 49 Jahren an ungeklärten Infektionskrankheiten, wobei die meisten Fälle, die durch Relman und seine Kollegen nachuntersucht wurden, sich auf bereits bekannte Erreger zurückführen ließen. Rund einhundert Fälle jedoch konnten nicht aufgeklärt werden.
Langfristig hat die Minus-Methode nur dann Aussicht auf eine hohe Trefferquote, wenn nicht nur das menschliche Genom enträtselt ist, sondern auch die Welt der Viren und Bakterien - eine Sisyphos-Arbeit angesichts der Tatsache, dass es weit mehr Viren & Co. als menschliche Gene gibt. Ein wichtiger Schritt ist deshalb das Sammeln möglichst vieler Gewebeproben. Könnte ja sein, dass man erst in ein paar Jahren die in ihnen enthaltenen Bösewichte enttarnen kann - so konnten Erreger der so genannten Legionärskrankheit, die 1976 scheinbar erstmals bei einem Veteranen-Treffen in Philadelphia auftrat, bereits für 1947 nachgewiesen werden
Im besten Fall dient die Minus-Methode also zur Aufklärung und Heilung - im schlimmsten Fall jedoch lassen sich mit ihrer Hilfe ganze Arsenale grauenhafter Plagen heranzüchten. Freilich meint Meyerson etwas ganz anderes, wenn er auf die Gefahr von "terroris-made" Seuchen hinweist, um seine Methode anzupreisen. Was vermeintliche terroristische Anschläge angeht, so sah sein Kollege Relman darin schon 1999 ein Betätigungsgebiet für die ‚Unexplained Death Working Group'. So könnten Mikrobenjäger im Ernstfall als erste Alarm schlagen - oder aber Entwarnung geben