Die Musikwelt nach dem Attentat

Spenden, Statements, Schwachsinn

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Große Katastrophen werfen lange Schatten. Und sie fallen überall hin, auch in die Welt der Musik. Tourneen werden abgesagt, Album-Cover geändert, Künstler stammeln Statements und manche machen Musik zum Massaker. Der Terroranschlag auf Amerika und wie die Musikwelt reagiert.

Amerika brennt heißt er, der Song zum Attentat. Aufgenommen hat ihn die deutsche Dark-Wave-Band And One. Das fast siebenminütige Stück beginnt mit einer Klangcollage aus Fernsehkommentaren zum Anschlag - gesprochen von Nachrichtenmoderatoren, Augenzeugen und George W. Bush. Für Sekunden erklingt Frank Sinatras "New York, New York", dann stampfen zackige Beats, wabern sphärische Keyboard-Klänge und Frauengesänge. 08-15-Düstermusik mit Zeitbezug. Die Band kommentiert das Lied zum Anschlag so:

"Amerika brennt, wir sind schockiert und zutiefst betroffen. Der Song ist bitte nicht als kommerzielles Produkt zu verstehen. Vielmehr handelt es sich hier um einen kostenlosen, downloadbaren Track für all die unter Euch, die ihren Weg der Verzweiflung mit uns gehen wollen und die Tanzfläche als ein Medium der Hoffnung verstehen ..."

Weit höhere Wellen, als dieses Stück schlagen dürfte, verursachte jüngst ein Lied der irischen Esoterik-Tante Enya. Ihr im vergangenen Jahr veröffentlichtes Stück "Only Time" wurde kurz nach dem Anschlag auf das World Trade Center von der US-amerikanischen Radiostation KIIS-FM mit Stimmen aus TV-Berichten unterlegt und gesendet. Binnen kurzer Zeit entwickelte sich das elegische Werk zur Hymne zum Massaker. Zahlreiche Radiosender spielten den so genannten WTC-Remix, RTL bot das Stück auf seiner Homepage an, baute es ins Fernsehprogramm ein und unterlegte es mit aktuellen Schreckens-Bildern aus Manhattan. Mittlerweile erklärte Enyas Plattenfirma Warner Music den Mix für illegal, untersagte dessen Verbreitung und erklärte, das Stück nicht als Benefiz-Single zu veröffentlichen. Stattdessen will der Konzern fünf Millionen Dollar für diverse Hilfsorganisationen spenden.

Auch der jüngst aus der Versenkung aufgetauchte Michael Jackson will spenden und nimmt dieser Tage mit Pop-Kollegen das Lied "What More Can I Give" auf. Im Studio unter anderem dabei: Destiny's Child, Backstreet Boy Nick Carter, Britney Spears und Justin Timberlake von N'Sync. Jackson geht davon aus, dass mit dem Benefiz-Song 50 Millionen Dollar eingenommen werden, die hernach den Angehörigen der Opfer zu Gute kommen sollen.

Patriotisch plakativ gibt sich Soul-Diva Whitney Houston. Schon 1991 sang sie anlässlich des Golfkrieges vor einigen zehntausend Amerikanern "The Star-Spangled Banner", ihre Version der Nationalhymne. Nun wird das Live-Stück als Single veröffentlicht. Die Einnahmen sollen den Hinterbliebenen der am 11. September in Manhattan getöteten Feuerwehrleuten und Polizisten übergeben werden.

Veröffentlichungen gestoppt

Während die einen im Studio hocken, stoppen andere panisch die Auslieferungen neuer Alben. So sollte am 18. September das neue Werk des amerikanischen HipHop-Duos The Coup erscheinen. Jedoch: Das Cover der CD "Party Music" zeigte im Hintergrund die explodierenden Twin Towers, während im Vordergrund Rapper Boots einen Zeitzünder in den Händen hielt.

Ebenfalls verschoben wurde die Veröffentlichung des neuen Live-Albums der amerikanischen Progressive-Metaller Dream Theater - auch auf dem Cover von "Live Scenes From New York" explodierte das World Trade Center. In Deutschland und den USA bereits auf dem Markt wurde in England nun die Publikation von "Bleed American" verhindert, dem neuen Album der amerikanischen Alternative-Rocker Jimmy Eat World. Der Titel sei dieser Tage nicht tragbar, heißt es bei der Plattenfirma.

Auch Farin Urlaub, der Sänger der deutschen Band "Die Ärzte", musste schnell reagieren. Auf dem alten Booklet seines Solo-Debüts "Endlich Urlaub" war ein brennendes Gebäude zu sehen. Die CD wird mit neuem Artwork am 22. Oktober erscheinen. Zu spät ist es für die britischen Elektronik-Querdenker von Primal Scream. Deren neue Single erschien vor wenigen Wochen und heißt "Bomb The Pentagon". Unklar ist derzeit, wie die Band nun verfahren wird. Bassist Mounfield meinte, es bestehe die Gefahr, gelyncht zu werden. Auch "Crashing Aeroplanes", die neue CD der Berliner Klang-Avantgardisten Ammer und FM Einheit wird zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht. Ebenfalls zurückgezogen wurde "Der Oktoberfest Hitmix", eine Kompilation der Plattenfirma Ariola, die am 24. September in die Läden kommen sollte.

Tourneen abgesagt

Schwere Zeiten herrschen indes für Konzertveranstalter auf der ganzen Welt. Unzählige Künstler unterbrachen ihre Tourneen oder sagten diese komplett ab. Bühnenabstinenz für die nächsten Wochen verschreiben sich unter anderem Aerosmith, Madonna, Britney Spears, Tool, Anthrax, Sting, Janet Jackson, Weezer und Pantera. Zudem wurde die für den 15. September geplante Verleihung der 53. Primetime Emmy Awards in Los Angeles abgesagt, ebenso die Gala zur Verleihung der Latin Grammy Awards. Der Südwestrundfunk (SWR) verkündete zudem am Dienstag, dass das für den 20. geplante SWR New Pop Festival nicht stattfinden werde. Zuvor hatten US-Musiker wie Wheatus, Josh Joplin Group, Uncle Kracker, Sugar Ray und Nikka Costa verlauten lassen, derzeit keine Konzerte zu geben. Auch abgesagt wurde die ZDF-Veranstaltung "Ottis Oktoberfest", die am Samstag stattfinden sollte.

Gegen einen Tour-Abbruch entschied sich hingegen Dave Navarro, der ehemalige Gitarrist der amerikanischen Alternative-Helden Janes Addiction. Er werde seine Tournee fortsetzen und einen Teil der Einnahmen dem Amerikanischen Roten Kreuz spenden. Ebenfalls nicht wanken will Karl Moik, Chef des Musikantenstadl. Er will am 20. Oktober in den Arabischen Emiraten seine Bumswallara-Show veranstalten. Offensichtlich sah sich der Volksmusik-Guru deswegen zu Rechtfertigungen genötigt und erklärte, dass immerhin auch Disneyland seine Tore wieder geöffnet habe und zudem Präsident Bush jüngst dazu aufrief, wieder zur Normalität zurückzukehren. Und: "Warum sollen wir päpstlicher sein als der Papst?", fragte Schlichtling Moik.

Stars und Statements

Ungewohnt geistreich äußerten sich hingegen zahlreiche Musiker zum Attentat und seinen Folgen. Madonna kündigte an, die Einnahmen aus den noch folgenden Konzerten ihrer aktuellen Welt-Tournee den durch die Terror-Katastrophe Geschädigten zu übermitteln. Zudem sprach sich die Pop-Ikone gegen unsinnige Vergeltungsschläge aus und wetterte gegen den Hass in den Köpfen: "Wir sind alle verantwortlich. Fangt endlich an, die ganze Welt zu sehen!"

"tele trieste" von eyeon, Juni 2001

Auch ihre Kollegin Alanis Morissette meldete sich zu Wort, wenngleich auch pathetischer: "Es ist wichtig, dass wir als Volk und menschliche Wesen nun zusammen halten und beweisen, dass wir uns nicht unterkriegen lassen", sagte sie. Zudem kündigte die Kanadierin an, ein Benefiz-Konzert zu Gunsten der Opfer des Anschlags zu geben.

Überraschend schlaue Worte kamen von Wes Borland, hauptberuflich Gitarrist bei den amerikanischen Rap-Metal-Helden Limp Bizkit, der auf die zunehmende Übergriffe gegen Muslime in den USA reagierte: "Denkt bevor ihr handelt! Seid keine Rassisten!" Der in New York lebende britische Superstar Moby wetterte kurz nach den Anschlägen recht unkontrolliert gegen FBI und CIA und warf den Behörden krasses Versagen vor. Einige Tage später entschuldigte er sich für seine Äußerungen, verkündete, nun Frieden in der Musik zu suchen und einige "sehr ruhige" Stücke zu komponieren.

Recht besonnen zeigte sich wenige Stunden nach dem Anschlag der ehemalige Popstar Cat Stevens, der vor Jahren zum Islam konvertierte und sich seitdem Yusuf Islam nennt. Zum Attentat sagte er: "Es ist eine Tat, die kein Angehöriger des Islam entschuldigen kann. Nach der Heiligen Schrift ist ein Mord an einem unschuldigen Menschen mit dem Mord an der gesamten Menschheit gleichzusetzen. Ich möchte meine ganze Abscheu über diesen Anschlag auf das Leben Unschuldiger ausdrücken."

Erst mal gar nichts mehr zu sagen haben hingegen die Fans der links-politischen amerikanischen Rap-Metal-Gruppe Rage Against The Machine. Das Gästebuch auf der Band-Homepage wurde jüngst vom Secret Service gesperrt, nachdem dort - angeblich - "aufrührerische" Einträge zu lesen waren. Bandchef Tom Morello distanzierte sich auf der Homepage vorsorglich von jeglicher Gewalt: "Unsere tiefste Sympathie gilt den Opfern der Angriffe und ihren Familien. Der Verlust unschuldigen Lebens ist schrecklich. Lasst uns gegen solche Gewalt zusammen stehen, wann immer sie geschieht und gleichgültig, ob sie im Namen religiöser Fanatiker oder unserer einheimischen Führungsschicht verübt wird", schrieb er.

Viele Spenden und eine schwarze Liste

Gespendet wird eifrig dieser Tage. Rapper Dr. Dre kündigte an, eine Million Dollar für das Amerikanische Rote Kreuz zu geben. Auch Britney Spears macht mit. Ein Teil der Einnahmen aus Konzerten und dem Verkauf von Britney-Devotionalien soll hinterbliebenen Kindern von beim Einsatz am World Trade Center verunglückten Polizei- und Feuerwehrkräften überlassen werden. Der private Berliner Radiosender 94,3 r.s.2 spendete Geld für Waisen von Terror-Opfern - insgesamt 102.025 Mark.

Amerikanische Radioleute passen derweil ihr Radioprogramm an die desolate Gefühlslage der Nation an. Eine inoffizielle Liste enthält zahlreiche Lieder, die im Radio derzeit eher unerwünscht sind. Mit dabei: AC/DCs "Highway To Hell", Cat Stevens "Peace Train" und John Lennons Pazifismus-Hymne "Imagine".