Die Mutter aller elektronischen Kommunen : Das digitale Amsterdam

Als Tourist in digitalen Städten II

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Surfer, kommst Du nach dds-dot-nl - so werden Dir keinesfalls die Augen übergehen. Zu sehen ist eine schwarze Fläche mit einer knappen Handlungsanweisung: Touristen bitte rechts oben klicken. Daneben findet sich ein wenig Werbung. Für alles Andere ist die persönliche Email-Adressenvergabe mit Rückantwort in einem Formular vorgesehen, die sich keine deutsche Straßenverkehrsbehörde als Kraftfahrzeug-Anmeldeschein vorzulegen traut. Verkehrssprachen sind Englisch und Niederländisch.

Wer als Tourist einsteigt, erhält als Basis aller kommenden Bildformen ein achteckiges, nicht ganz regelmäßig abgerundetes Spielbrett auf den Bildschirm - von hier aus geht Alles weiter. Rund ums Spielbrett sind Texte gruppiert, gelegentlich mit kleinen Schaltern garniert, die aber schon das Äußerste an Ornament darstellen. Auch setzt die Auswahl des richtigen Vierkants zum weiteren Angebot einiges Abstraktionsvermögen voraus: Nehmen Sie bitte unten links neben dem Spielbrett den Schalter 'Plattegrond', also Karte.

Was nun folgt, ist ein weiteres Spielbrett mit vielen kleinen achteckigen Schaltern. Aus ihnen den Richtigen auszuwählen, hat Lotto-Qualität - es gibt keine Schalterprogrammierung, die etwa den Inhalt des Angebots beim Überziehen mit dem Pfeil als Text darstellen. Also hilft nur beherztes Raten und eine Portion Geduld. Die Symbole von Frauenbewegung, Tod und Europäischer Gemeinschaft sind leicht zu entziffern; beim Ohr, dem Buch, dem @-Zeichen und der 13 fällt die Lösung mit etwas Nachdenken ein; und für die Kunst bemüht man lokalpatriotisch ein Bild von Piet Mondriaan. Alle anderen Bildchen geben ihren Sinn erst nach dem Einschalten frei, um die Ecke gedacht. Jeweils ein Doppelklick auf diese Schalterchen erzeugt - wieder einen achteckigen Spielplan, und jenseits von dessen Segmenten sind die gesuchten Inhalte tatsächlich erreichbar.

Der - eher technische denn ästhetische - Purismus dieses Angebots hat zwei Seiten: Zum Einen ist er, wenn man ihn sich ein Mal erarbeitet hat, selbst für uralte Rechner, Modems und Browser rasend schnell im Zugriff (dem stehen nur die vielen Ebenen entgegen, durch die man zum einzelnen Angebot hindurch muss), und zum Anderen lenkt er in keiner Weise vom eigentlichen Angebot ab. Bezahlt wird diese Geschwindigkeit und Strenge mit einer eher abschreckenden Farbgestaltung, die noch immer auf dem Btx-16-Farb-Schema beruht, und mit einem formalen Rückgriff auf allererste Computerspiele aus dem Umfeld brettbasierter Glücksspiele. Dieser Kritik gegenüber steht die nostalgische Qualität, die wohl zunehmend den Empfang der Site bestimmt. Hierher kommen wohl nur zwei Sorten Netz-Benutzer. Die Einen sind die echten Netz-Freaks, die sich seit mehr als zehn Jahren auf den Schreibbrettern dieser Welt tummeln; die Anderen sind diejenigen, die etwas über das digitale Amsterdam erfahren oder sein Angebot nutzen wollen. Und das kann sich wahrhaft sehen lassen.

Beispielsweise in der Kunst: Neben den üblichen Links zu städtischen Museen und der Artothek, bei der schon einige Werke vor dem Ausleihen zur Ansicht im Netz bereitstehen, findet sich ein kleiner Stadtplan, der wiederum nach Stadtteilen aufteilbar ist. Ihm kann man sich per Zoom so weit nähern, dass neben den Straßen- und Platznamen einzelne rote Punkte erkennbar sind: Sie zeigen die Plätze, auf denen öffentliche zugängliche Skulpturen stehen, jeweils mit Namen der Künstler, Titel, genauem Aufstellungsort, kurzer Beschreibung und Datierung. Meist findet sich ein kleiner Daumennagel von Ansichtsphoto mit dem klassischen Händchen zur Vergrößerung. Schade, dass dies in den Fällen, die ich probierte, nicht immer klappte. Aber vielleicht ist da noch etwas im Aufbau oder schon im Abbau.

Das Angebot unter der Rubrik '13' ist beachtenswert. Eine exzellent geführte Seite der Amsterdamer Pfadfinder lässt sich von dort ebenso erreichen wie die Angebote des Zoos oder einiger Museen, die Kinder und Jugendliche sicher interessieren. Hier sind obendrein die Schalter neben dem Spielbrett wichtig: Vom Sorgentelephon über die Drogenberatung (für die es sonst ein eigenes Spielbrett gibt) bis zu sozialen Diensten wird fast nichts ausgelassen, was Jugendliche ebenfalls oft genug brauchen. Andere Ebenen sind der medizinischen Versorgung gewidmet und machen darunter selbst die Defizite des niederländischen Gesundheitswesens deutlich, das hoffentlich nie als Vorbild deutscher Verhältnisse angesehen werden wird. Einzig die Rubrik 'Tourist' mag den neuen Besucher irritieren: Außer den Schwulen-Touren und einer FAQ-Abteilung gibt es hier so gut wie nichts. Das Signet dieser Abteilung sind übrigens einige Windmühlen - ein Schelm, wer dabei Böses denkt.

Nicht alle Spielbretter sind voll belegt, manche können noch - von sozialen und gemeinnützigen Institutionen oder Verbänden - gemietet werden und andere tragen den Hinweis 'Versammlungsgebäude', womit auf weitere werbende Angebote auf der nächst unteren Ebene verwiesen wird. Gelegentlich findet sich unter einem Etikett kein gültiges Angebot mehr, was wohl bei jeder größeren Website vorkommen mag. Insgesamt ist die durchaus umfangreiche Site jedoch technisch wie inhaltlich ordentlich gepflegt und scheint in den meisten Angeboten hinreichend aktuell zu sein. Ein wenig enttäuschte das Stadtbild im Bereich seiner Architektur: Weder gab es einen Verweis auf alte, denkmalswerte Bauten noch auf ganz neue Gebäude - oder es war so gut versteckt, dass ich es nicht gefunden habe. Was gut zu finden war, ist der ohnehin als Buch existierende Atlas der Sozialwohnungsbauten und -siedlungen.1 Hier ist er allerdings durch die Suchmöglichkeit nach Wohnungen erweitert, die unter Anderem den Tausch von großen und kleinen Appartments beinhaltet.

Die Digitale Stad Amsterdam ist durch und durch sozialistisch, obendrein von protestantischer Ethik geprägt. Ein Besuch in ihr ist alles Andere als eine Tour im flachen Boot durch Grachten und Kanäle - aber mindestens ebenso lohnend und spannend. Als Mutter aller digitalen Städte hat dieses Angebot Maßstäbe gesetzt, die sonst nirgendwo eingelöst werden: umfassend zu informieren, in jeder nur denkbaren Notlage zu helfen und dann noch intelligent auf alle Formen möglicher Unterhaltung hinzuweisen. Die soziale Fürsorge schaut aus allen Knöpfen auf den Bildschirm, aber sie drängt sich nicht auf.

Selbstverständlich finden sich neben den Diensten immer wieder Schalter zu kommerziellen Anbietern, denn irgendwie muss sich die Site finanzieren. Wer übrigens als Tourist so viel Gefallen an dieser digitalen Stadt gefunden hat, dass er in ihr wohnen will, wird auf den ältesten Grassroot-Server Europas mit dem schönen Namen XS4ALL verwiesen. Über die ersten Internet-Cafés sorgte dieser wiederum in den frühen und mittleren 1990er Jahren für die Schnittstelle zwischen digitaler und analoger (realer?) Stadt: Wer ein Email zu versenden hatte, ging einfach dorthin, erhielt für einige Minuten eine Zugangskennung und sandte sein Material ab wie über eine Faxleitung. Auf diese Weise habe ich meine erste Internet-Buchproduktion abgewickelt - man sollte die Digitale Stad Amsterdam unter digitalen Denkmalschutz stellen (Musealisierung als Immaterialisation).

Eben das ist nicht geschehen. Seit wenigen Wochen präsentiert sich die Digitale Stad Amsterdam im dreidimensional angehauchten Einheitslook der weltweit verbreiteten Spinnenstädte. Der Plattegrond ist in die Schräge gekippt worden und hat keine Funktion mehr denn die einer müden Referenz auf vergangene Modelle. Die Aufschlüsselung von Symbolen ist der langweiligen Datenbankabfrage gewichen und führt vor, wie sich arbeitslose LehramtskandidatInnen bei Oracle die Schulung dummer NutzerInnen vorstellen. Das Angebot mag konsumentenfreundlicher geworden sein und besser funktionieren als die frühere Stadt - nur ist aus dem digitalen Amsterdam genauso eine langweilige Touristenfalle geworden wie aus der realen Stadt. Niederländische Kunst und Design kommen schon lange nicht mehr von dort, sondern aus Rotterdam, Breda, Tilburg oder selbst Boxtel.

Etwas Nostalgie bietet immerhin ein Schalter der dritten Ebene unterhalb des neuen Outfits: Archief. Dort können noch ein paar alte Bilder abgerufen werden - wer weiß wie lange noch -, und dort gibt es auch einige der älteren Links. Denn das eigentliche Problem der neuen Stadt Amsterdam ist nicht die graphische Oberfläche, sondern der Content [der deutsche Begriff "Inhalt" greift zu tief oder daneben]: Vom sozialen Engagement, von der lockeren Eigenart der Niederländer, vom laissez-faire des Lebens zwischen den Grachten ist nichts mehr übrig geblieben. Die event culture hat sie in ihrer niederträchtigsten Form globalisiert - Amsterdam ist überall, auch digital.

Die Serie 'Als Tourist in digitalen Städten' erschien zuerst in der db. (deutsche bauzeitung) und wurde für 'telepolis' geringfügig überarbeitet.