Die Nuklearwaffen sind sicher und Osama bin Laden tot
Pakistan bemüht sich um Beruhigung. Währenddessen wachsen "zwischen Fakten und Fiktionen" neue Verschwörungstheorien
„Pakistans Nuklearwaffen sind in sicheren Händen“, betont der Präsident der islamischen Republik, Asif Ali Zardari, gegenüber westlichen Medien. Auch für die andere großen Bedrohung, die von Pakistan ausgeht - dem al-Qaida-Generalstab, der mutmaßlich vom unübersichtlichen pakistanischen Grenzland aus operiert -, hat Zardari beschwichtigende Worte: Seiner Ansicht nach, gestützt auf das Wissen des berüchtigten pakistanischen Geheimdienstes ISI, sei Osama Bin Laden tot. Aber dafür gebe es keine eindeutigen Beweise. Man solle dies nicht als Fakt betrachten. „Wir befinden uns zwischen Fakten und Fiktion.“
Eine zutreffende Beschreibung für die gegenwärtige Situation im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan: Zardaris Beruhigungspille soll vor allem der Aufregung entgegen wirken, die sich nur zum Teil auf Fakten stützt, sondern hauptsächlich aus jenen Fiktionen, mit denen sich die entsprechenden Lager die Dinge zurechtrücken.
Das US-Außenministerium und der Gouverneur von Malakand
Das US-Außenministerium sieht die pakistanische Regierung auf der Verliererseite, weil Islamabad nicht hart genug gegen die Taliban vorgehe und den Kampf gegen den Extremismus schon verloren gegeben habe. Die Talibansprecher stellen derweil die Situation auf jenen pittoresken Schauplätzen in Pakistan, die sich nun in den weltweiten Terror-Schlagzeilen finden, als völlig im Einklang mit Vereinbarungen dar, gar als Verbesserung, weil man dort nun endlich für Recht und Ordnung sorge, da das zivile Justizsystem der Regierung dort versagt habe.
Der Gouverneur der Provinz Malakand, in der sich die schlagzeilenträchtigen Eskalationen ereignen, Owais Ahmad Ghani, versteht die Situation wiederum völlig anders als die amerikanische Lesart, die Taliban oder die offiziellen Statements der gegenwärtigen pakistanischen Regierung: Für ihn gibt es nur eine palliative Lösung, solange die US-Truppen in Afghanistan sind und den Dschihad befeuern. Kurativ könne man erst wieder operieren, wenn Afghanistan zur Ruhe käme, wenn die fremden Truppen abgezogen wären.
In dem lesenswerten 4-seitigen Interview mit Asia Times bereitet Ghani einen anderen Hintergrund für die Konflikte in Pakistans Nordwestgrenzprovinzen und Swat aus, als man sich dies in den westlichen Medien üblicherweise erzählt. Ghani verteidigt die Abmachungen, die die pakistanische Regierung in Wasiristan und zuletzt in Malakand mit den Aufständischen getroffen hat. Die militärische Lösung habe auf allen Ebenen versagt, so sein Fazit nach mehreren Jahren, die einer vorwiegend militärischen Lösung gefolgt sind. Man müsse die lokalen Stämme wieder stärken („the real strength is the people“), nur so könne man die Politik wieder ins Spiel bringen und dadurch tatsächlich zivile Fortschritte erzielen, die bei der Bevölkerung ankommen.
Das große Problem seien die „Zwischenspieler“ zwischen Regierung und Stämmen: Dutzende von militanten Gruppen, deren Ursprung und Förderung auf den Dschihad gegen die Sowjetununion zurückgehe. Sie seien geblieben und wurden weiterhin großzügig mit Geld und Waffen ausgestattet. So sehr, dass sie die traditionellen Lokalchefs, die Maliks, bald aus deren angestammten Machtpositionen verdrängt hätten - „out-gunned, out-funded“ und „out-organized“, da die militanten Gruppen über die Jahre eine Organisationsform entwickelt haben, die nicht an eine lokale Basis gebunden ist.
“Nicht 9/11, sondern 1979“
Durch das Aufkommen dieser Gruppen sei Anfang der neunziger Jahre das ausbalancierte Gleichgewicht zwischen Regierung und den Stämmen zerstört gewesen. Der Westen vergesse immer wieder, dass die gegenwärtige Situation in Pakistan nicht allein mit dem 9/11-Narrativ vom Kampf gegen den Terror, sprich al-Qaida und Taliban, zu begreifen sei, man müsse schon bis 1979 zurückgehen.
However, post the 1979 Soviet invasion of Afghanistan, we were supported by the West and the United States and we used the tribal areas ... Federally Administered Tribal Areas [FATA] ... as the launching pad for the Afghan jihad against the Soviet army. Whatever happened after that is the fallout of an unintended consequence of that conflict. Those jihadi organizations morphed into militant organizations [at the end of the Afghan jihad in 1989] and therefore a third power emerged and the old equilibrium was disturbed.
Nach Ansicht des pakistanischen Gouverneurs sind daher die Amerikaner und zu einem gewissen Grad die Europäer für das derzeitige Schlamassel mitverantwortlich, da sie sich nicht daran gehalten hatten, Deals mit den Dschihad-Gruppierungen einzig dem pakistanischen Geheimdienst zu überlassen, sondern sich einmischten: „But they started their own operations and they were warned that they would not be able to control these people“. Alle gegenwärtigen Probleme, die es jetzt in Pakistan mit militanten Gruppen gebe, rühren nach Ansicht Gahnis aus Afghanistan und sind Folgen des falschen Ansatzes, den der Westen dort bis heute praktiziere.
Neue Härte
Die gegenwärtige pakistanische Regierung setzt – unter Druck aus den USA kombiniert mit Aussichten auf neue Geldflüsse als Zucker aufs harte Brot – derzeit auf die zweite Stufe der Strategie gegen Aufständische (im Falle des Scheiterns der politische Kooperation) , wie sie Ghani schildert: mit militärische Härte. So wurden Expansionsversuche der Taliban auf Nachbardistrikte des Swat-Tals, auf Buner und Lower Dir, militärisch beantwortet - unter Androhung weiterer solcher Aktionen, die in Lower-Dir zu mehreren Todesopfern und einen Flüchtlingsstrom mehrerer Tausend Bewohner geführt hat.
Die Berichterstattung ist wie üblich etwas vage, nicht nur was die Zahl der Todesopfer, deren Identität (Auftsändische, Taliban oder Zivilisten) angeht, sondern auch, was das „Säuberungs“-Ergebnis dieser Aktionen anbelangt. Immer wieder tauchen Nachrichten auf, die offenlegen, dass anders als ursprünglich behauptet, Talibankräfte nicht völlig verschwunden sind, sondern doch noch Teile des Distrikts kontrollieren, wie etwa im Fall des Distrikts Buner.
Die Gerechtigkeit der Taliban
Während die pakistanische Regierung darauf hinweist, dass die andere Seite ihre Verpflichtungen nicht erfüllt, den Waffenstillstand bricht und sich nicht entwaffnen läßt, drängen die Taliban ihrerseits auf Einhaltung der Regierungsversprechen: die Einsetzung von Scharia-Gerichten. Folgt man den Darstellungen von Talibansprechern so halten sich diese mit ihren Operationen strikt an die Vereinbarung, die von der Regierung wiederum nicht richtig befolgt würde. Gleichzeitig droht man mit Vergeltungsanschlägen.
Einzelne Reportagen und Berichte widersprechen der harmlosen Recht-und Ordnung-Erzählung der Taliban. So berichtet die französische Zeitung Nouvel Observateur von Männern aus Buner, wohin die Taliban letzte Woche eingefallen waren, die von den Militanten verprügelt und verunstaltet („die Hälfte der Haare weggeschoren“) wurden, weil sie in ihrem Auto Musik gehört hatten. Die Pashtun-Post meldet eine regelrechte brutale, zum Teil mörderische Kampagne gegen Musiker im Swat-Tal. Ungefähr 500 Geschäfte, die dort früher Musik-CDs verkauft hätten, seien entweder mit Sprengsätzen zerstört oder geplündert worden, heißt es, und die Händler mit harten Strafen bedroht worden, falls sie ihr Geschäft wieder aufnehmen würden. Verkauft würden nur mehr CDs und DVDs, die mit dem Taliban-Code vereinbar sind:
People who earlier dealt in music CDs and videos are now selling Jihadi CDs.
Sher Ali Shah, NGO worker, Mingora.
...und der ganz große Plan: die De-Nuklearisierung Pakistans
Während der pakistanische Präsident die Atomwaffen in sicheren Händen sieht, gibt es andere Ansichten, die derzeit in verschiedenen Medien auftauchen. Sie sehen das pakistanische Nuklearwaffenarsenal nicht durch Terrorgruppen bedroht sieht, sondern durch die verschwörerische Zusammenarbeit der USA und Indien. Das gemeinsame Interesse der beiden bestehe darin, eine Kampagne zur De-Nuklearisierung Pakistans zu führen. Das sei der wahre Grund, weshalb man etwa die Bedrohung durch die Taliban derart stark und fortdauernd betone..