Die Prostata von Jabba the Hutt

Retro-Gastroethnologie - Über schreckliche kulinarische Hinterlassenschaften früherer Jahrzehnte

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wer je das Glück (oder, je nachdem, das Pech) hatte, mit bestimmten englischsprachigen Kochbüchern und Kochrezepten früherer Jahrzehnte konfrontiert zu werden, der könnte leicht ein Anhänger von Verschwörungstheorien werden: Das müssen Außerirdische verbrochen haben, andere Erklärungen sind kaum denkbar. Ein wachsende Zahl wissenschaftlich orientierter Websites legt von dieser Wahrheit bitteres Zeugnis ab.

Bilder: Institute of Official Cheer

James Lileks zum Beispiel betreibt seit Jahren sein Institute of Official Cheer, das neben Forschungsergebnissen zu der Dorcus Collection und dem Gobbler auch die Gallery of Regrettable Food unterhält, und was einem dort geboten wird, lässt die Eingangsfragen des kulinarischen Ethnologen mehr als berechtigt erscheinen:

Was haben sie sich eigentlich dabei gedacht? Wie konnten sie diesen Mist nur essen?

Die Beispiele aus den alten Kochbüchern haben es durchweg in sich. Da gibt es leckere Braten die laut Lileks aussehen wie die Leber von Orson Welles oder die Prostata von Jabba the Hutt. Da finden sich unvergleichliche Genüsse wie die Fleischigel von denen man nur vermuten kann, dass sie jedem Esser furchtbar die Gosch zerstochen haben. Genauso appetitlich wirken die Arrangements zu Dinnerparty-Buffets, das Hummergeschnetzelte und ein Steak à la Ugarte, dem die Zwiebeln aufdekoriert worden sind, als solle es das Gesicht von Peter Lorre darstellen.

Eine tiefschürfende gastroethnologische Analyse zu all den Flohmarkt- Fundstücken wäre natürlich nicht komplett ohne eine Abteilung, die sich mit der Illustrationsästhetik der Kochbücher und Diätratgeber selbst beschäftigt. So finden auch die unerträgliche Traurigkeit des Gemüses, die Gefahren des Grillens und die Erfordernisse der fortgeschrittenen Heim-Konditorei ausführliche Beachtung.

Natürlich beruht die durchschlagende Wirkung dieser Galerie der Grausamkeiten auch auf den Bemerkungen von James Lileks, aber er rückt ja nur ins rechte Licht, versieht nur mit dem passenden Kommentar, was ohnehin schon jenseits von Gut und Böse ist.

Nach demselben Prinzip, und mit der gleichen Treffsicherheit, hatte bis vor kurzem eine halbanonyme Wendy M. auf ihrer Homepage Rezeptkarten der Weight Watchers aus den Siebzigern ausgestellt. Die Site war ein so großer Erfolg vor allem in der Bloggerszene, dass sich Wendy M. über "Bandbreitendiebstahl" zu beklagen begann, weil einige Fans die Bilder nicht herunterluden, um sie in ihre eigenen Blogs und Sites einzubinden, sondern einfach die absoluten URLs bei Wendy M. abschöpften. Bedauerlicherweise ist nicht nur die Seite mit den Rezeptkarten, sondern die ganze Website inzwischen verschwunden. Nur im Google-Cache findet sich die noch die Eingangsseite mit einer traurig verwaisten Thumbnail-Galerie ohne Thumbnails. Was Wendy M. zu Köstlichkeiten wie dem Rosy Perfection Salad, dem "Salmon Mousse" und dem "Chilled Celery Log" zu sagen hatte, konnte mit den Vergleichen von James Lileks jederzeit mithalten. Wer immer für das Verschwinden der Website verantwortlich ist, er hat der Retro-Gastroethnologie Schaden zugefügt.

Aber von solchen kurzfristigen Rückschlägen wird sich die junge Wissenschaft nicht beeindrucken lassen. Cate's Garage Sale Finds hat sich ihr auch verschrieben, und die Dokumentationen zu UV-bestrahlter Milch und Diätrezepten, die wirken müssen, weil sie schlicht ungenießbar wirken, sind für jeden Kenner der Materie eine Augenweide. Was die verschwundene Website von Wendy M. angeht: Das Netz verliert ja nichts wirklich. Die Weight Watchers-Rezeptkarten sind irgendwo da draußen, und wenn auch nur auf Wendys Festplatte, zusammen mit ihren Kommentaren, die eine arge Prüfung für die Lachmuskeln jedes Lesers darstellen. Das wird wieder auftauchen. Zensur kann die Wissenschaft behindern, verhindern kann sie sie nicht.

Was jetzt noch fehlt, sind valide Forschungsergebnisse über kulinarische Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus dem deutschsprachigen Raum. In dieser Hinsicht ergibt die Suche im Netz bisher wenig Greifbares, und es kann auf Dauer nicht angehen, dass die Schätze, die in den Kochbüchern unserer Vorfahren schlummern, ungehoben bleiben. Mit der Frage, wer dann eines Tages über uns lacht, muss sich die Retro-Gastroethnologie heute noch nicht beschäftigen.