Die Raubüberfälle des NSU
Seite 3: Vergessene Opfer der Bankräuber
Einer der 15 Raubüberfälle schlug aus der Art - und rückt vergessene Opfer der Überfälle ins Blickfeld. Im Oktober 2006 stürmte in Zwickau ein einzelner Mann in eine Sparkassenfiliale, wo sich neun Personen aufhielten, Angestellte und Kunden. Einige wehrten sich, der Bewaffnete war überfordert, gab zwei Schüsse ab und floh ohne Beute. Für die Bundesanwaltschaft war es Uwe Böhnhardt, vor allem weil der Bankräuber Linkshänder war, wie er. Die Angeklagte Beate Zschäpe stützt diese Version.
Einer der Schüsse traf den 18-jährigen Bank-Azubi Nico R. in den Bauch. Er wurde lebensgefährlich verletzt, konnte aber gerettet werden. Wie der Polizeibeamte Martin A. wäre Nico R. beinahe ein weiteres Todesopfer des NSU geworden - doch kaum jemand scheint das zu wissen. Selbst die Beauftragte der Bundesregierung für die Opfer des NSU, Barbara John, erfuhr erst Jahre später durch Presseberichte davon. In der Opferliste des Bundesjustizamtes sind die Hinterbliebenen-Familien der Ermordeten aufgeführt sowie die Verletzten der zwei Bombenanschläge in Köln, aber keine Verletzten der Raubüberfälle.
Die Bankräuber traten aggressiv und gewalttätig auf, besprühten Bankangestellte und Kunden mit Reizgas, schlugen mit Pistolen, Gewehrkolben, einem Tischventilator oder einem Telefon auf sie ein oder drückten ihnen Schusswaffen an die Stirn. Vor dem Oberlandesgericht in München schilderten sie das als Zeugen. Einige sind bis heute traumatisiert, konnten nicht mehr arbeiten gehen oder hatten Probleme, ihre Wohnung zu verlassen.
Das Bundesjustizamt, zuständig für Entschädigungsansprüche, erklärte, es habe nur die Opfer erfasst, die einen Entschädigungsantrag gestellt haben. Sämtliche Opfer zu registrieren, sei nicht seine Aufgabe.
Und im Zschäpe-Prozess sind zwar die Raubüberfälle Gegenstand der Beweiserhebung, aber nicht die Körperverletzungen der Bankangestellten und Kunden. Die Bundesanwaltschaft behandelt einen Großteil der Körperverletzungen nicht als verfolgenswerte Taten, sondern als Nebensache der Überfälle. Und wo keine Anklage, ist auch keine Nebenklage möglich. Allein der Banklehrling Nico R. hat für seinen lebensgefährlichen Bauchdurchschuss eine Entschädigung erhalten. Nebenkläger ist aber auch er nicht.
Auch die geschädigten Kreditinstitute halten sich auffällig zurück und treten ebenfalls nicht als Nebenkläger auf. Offenbar fürchten sie, das könnte geschäftsschädigend sein: "Wir wollen im Kontext mit NSU nicht genannt werden ", erklärte der Vertreter einer der überfallenen Sparkassen.
Reichte die Beute für 13 Jahre Untergrund?
Bei den 15 Raubüberfällen erbeuteten die Täter insgesamt umgerechnet stark 600.000 Euro. Wie viel sie davon ausgegeben haben, wie viel Geld später gefunden wurde - darüber gehen die Angaben bis heute auseinander.
Dem ersten Untersuchungsausschuss des Bundestages lag ein Asservatenverzeichnis aus dem November 2011 vor, in dem 190.000 Euro aufgeführt sind, die in der ausgebrannten Wohnung in der Frühlingsstraße in Zwickau sichergestellt worden sein sollen. Doch diese Summe hat die Bundesanwaltschaft inzwischen selber in Frage gestellt. In der Habe des Trios seien etwa 114.000 Euro gefunden worden, so die korrigierte Auskunft. Darunter die knapp 72.000 Euro aus dem Raubüberfall in Eisenach, die noch im Fluchtwohnmobil lagen. 190.000 gefundene Euro oder 42.000 - auch dieser Widerspruch ist nicht geklärt.
Grundlegende Fragen tun sich auf: Warum überfielen die Täter im Herbst 2011 wieder Banken, wenn sie noch mindestens 40.000 Euro besaßen? Hatten sie Pläne? Reichte andererseits das erbeutete Geld überhaupt zum Leben im Untergrund? Denn, wenn man von der Beutesumme 600.000 Euro die unbenutzten 114.000 Euro abzieht, bleibt ein Rest von etwa 490.000 Euro, den sich drei Leute für einen Zeitraum von über 13 Jahren teilen mussten. Das macht etwa 1000 Euro im Monat für jeden von ihnen. Wenn die Räubergruppierung allerdings aus mehr als drei Personen bestand, schrumpft diese Summer weiter.
Politiker wie Clemens Binninger oder Rechtsanwälte der Opferfamilien, die sich in München seit über drei Jahren mit zahllosen Details des Komplexes abplagen, gehen davon aus, dass das Trio noch weitere Einnahmequellen gehabt haben muss. War es unter Umständen Teil einer größeren Organisation, die über größere Ressourcen verfügte? Kamen Gelder aus kriminellen Geschäften, Stichworte: Rotlicht, Drogen, Kindermissbrauch? Könnte die bei dem toten Mädchen Peggy gefundene DNA Uwe Böhnhardts ein Link in dieses Milieu sein?, fragte man sich nach Auftauchen der Spur Mitte Oktober 2016. Ob die Spur echt oder verunreinigt ist bzw. verschleppt wurde, ist zur Zeit nicht zweifelsfrei geklärt.
Die Bundesanwaltschaft jedenfalls erklärt, keine Erkenntnisse über andere relevante Finanzierungsquellen des Trios zu haben.
Im Frühjahr 2016 kam heraus, dass aller Wahrscheinlichkeit nach Uwe Mundlos mehrere Monate lang in der Zwickauer Abrissfirma von Ralf Marschner gearbeitet hat. Aber was war der Zweck dieser Arbeit? War dieser Job auch eine Einnahmequelle der drei mutmaßlichen Terroristen? Große Summen dürften da aber nicht zusammen gekommen sein. Ein Terrorist, der zwischendurch auf dem Bau malocht? Auch diese Vorstellung ist gewöhnungsbedürftig.
Die Bedeutung des Kontaktes zwischen Mundlos und Marschner, dem V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz, liegt sowieso auf einer anderen Ebene, als der des Gelderwerbes. Von Interesse ist dabei unter anderem, was es mit den verschiedenen Firmen Marschners, die allesamt kein erfolgreiches Geschäftsmodell abgaben, überhaupt auf sich hatte. Waren sie Teil eines Firmengeflechtes der Organisierten Kriminalität? Und bewegten sich die Raubüberfälle ebenfalls in diesem Kontext?