Die Regulierung der Freiheit

Redefreiheit, Freihandel und kostenlose Geschenke im Netz [Telepolis Mix]

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

"Was die Verfassung eines Staates wirklich stark und langlebig macht, ist eine derart genaue Beobachtung der [sozialen] Konventionen, daß natürliche Beziehungen und Gesetzte sich in allen Punkten so harmonisch vereinen, so daß das Gesetz ... nur das zu sichern, zu begleiten und zu korrigieren scheint, was natürlich ist." Jean-Jacques Rousseau1.

Der Staat im Cyberspace

Der Text "die kalifornische Ideologie" von Richard Barbrook und Andi Cameron war 1995 einer der Schlüsseltexte für die Wahrnehmung des Netzes und der Titel wurde im Laufe der Zeit zu einem festen Begriff in der Netzdiskussion. Die Autoren beschreiben die seltsame und offenbar verführerische Verbindung zwischen dem anarchistischen Gedankengut der einstigen Hippies und dem marktorientierten Liberalismus der Konzerne und der Neuen Rechten. Eine deutsche Fassung in zwei Teilen zählte 1996 zu den ersten in Telepolis veröffentlichten Texten (1, 2).

Die rasante Ausdehnung des elektronischen Handels ist von der effektiven gesetzlichen Regulierung des Netzes abhängig. Wie auch in der übrigen Ökonomie braucht man die Gerichte und die Polizei, um die "Spielregeln" auf den Online-Marktplätzen durchzusetzen. Es überrascht nicht, dass Medienunternehmen erwarten, dass die Gerichte und die Polizei weiterhin ihr geistiges Eigentum schützen werden. Jeder, der über das Netz unautorisiert Kopien von urheberrechtlich geschütztem Material vertreibt, muss bestraft werden. Jeder, der Software erfindet, die möglicherweise für Online-Piraterie brauchbar ist, sollte kriminalisiert werden. Dieser neue gesunde Menschenverstand hat den noch vor wenigen Jahren modischen Anti-Dirigismus ersetzt. Gemäß der kalifornischen Ideologie müssen Individuen und Geschäfte miteinander konkurrieren, um innerhalb eines nicht regulierten Online-Marktes Waren und Dienstleistungen zu liefern. Vor allem ermöglicht dieses "Neue Paradigma" angeblich nicht nur größere wirtschaftliche Effizienz, sondern erweitert auch die persönliche Freiheit2.

Genau wie nach der amerikanischen Revolution braucht man öffentliche Institutionen nur, um ein Minimum an "Spielregeln" für diejenigen Personen sicherzustellen, die untereinander mit Informationen handeln. In ihrer Verfassung haben die Gründerväter die Zensur der Presse durch die Regierung formal verboten: im Ersten Zusatz zur Verfassung. Dieses "negative" Konzept von Medienfreiheit betonte das Fehlen gesetzlicher Sanktionen in Hinblick auf die Publikation abweichender Meinungen. Wie ihre Unternehmerkollegen sollten Autoren und Herausgeber die Möglichkeit haben, das zu produzieren, was ihre Kunden kaufen wollen. Redefreiheit ist Freihandel3. Seit Jahrzehnten sagen Experten und Unternehmer voraus, dass die entstehende Informationsgesellschaft die liberalste Interpretation dieses Ersten Zusatzes zur Verfassung verwirklichen würde. Sie haben den letztlichen Triumph ihrer Hi-Tech-Vision nie bezweifelt: ein einziger virtueller Marktplatz für den Handel mit Informationswaren. Entscheidend ist, dass bei dieser "Pay per use"-Form der computervermittelten Kommunikation der Schutz des Urheberrechts fest in ihrer sozialen und technischen Architektur verankert sein würde. Der Erste Zusatz zur Verfassung handelt im Cyberspace mit geistigem Eigentum.

Schon lange betrachtet man geistiges Eigentum als Ware wie jede andere. Und doch wollten die Verkäufer von Informationen schon immer vermeiden, den Käufern ihre Produkte völlig zu entfremden. Sogar auf primitiven Druckerpressen waren die Kosten der Reproduktion bereits existierender Publikationen weit niedriger, als die Produktion der ersten Ausgabe einer neuen Arbeit. Urheberrechte wurden als pragmatische Lösung für das Problem des Plagiarismus eingeführt. Die Liberalen glaubten, dass - im Gegensatz zur politischen Zensur - die ökonomische Zensur für die Medienfreiheit grundlegend sei4. Beispielsweise nahmen die Gründerväter den Schutz durch das Copyright neben dem Ersten Zusatz zur Verfassung in die Amerikanische Verfassung auf. Wenn Redefreiheit mit Freihandel gleichzusetzen war, musste der Staat das geistige Eigentum schützen.

In der frühen Gesetzgebung zum Urheberrecht war der Besitz von Information immer unverbindlich. So wie die Medienwaren nie völlig entfremdet wurden, konnte auch niemand den absoluten Anspruch auf geistiges Eigentum anmelden. Statt dessen war die kostenlose Nutzung urheberrechtsgeschützter Werke für einen "gemeinnützigen Zweck" im Interesse der Öffentlichkeit, wie zum Beispiel für politische Debatten, Bildung, Forschung oder künstlerische Ausdrucksformen, legal möglich. Wie dem auch sei, im Laufe der letzten Jahrzehnte sind diese Einschränkungen der Eigentumsrechte am Copyright langsam verschwunden. Gemäß den Hi-Tech-Neoliberalen muss sämtliche Information in reine Ware umgewandelt werden, die auf den nicht regulierten, globalen Märkten gehandelt wird. In ihrer kalifornischen Ideologie ist die Medienfreiheit die "negative" Freiheit vom Einfluss des Staates. In der Praxis verlangt die Vermarktung von Information nach einer größeren legalen Regulierung des Netzes. Sogar wenn Nationalstaaten den Versuch aufgeben, das Netz zu zensurieren, werden die Gerichte und die Polizei mehr denn je gebraucht werden, um den Besitz von Urheberrechten zu verteidigen.

Das Digitale Panoptikon

Obwohl das Netz weiterhin ein vorwiegend textbasiertes System ist, das von Akademikern und Hobbyisten genutzt wird, würden die Medienunternehmen das Auftauchen dieser teilhabenden Form der computervermittelten Kommunikation gerne ignorieren. Aber die Netz-User tauschen online gerne Informationen aus. Zum Beispiel geben die Besitzer von CDs gerne MP3-Kopien an ihre Freunde - oder sogar an völlig Fremde - weiter. Zu ihrem großen Entsetzen begreifen die Medienunternehmen langsam, dass das Netz den Kern ihres Geschäftes bedroht: den Verkauf von geistigem Eigentum.

Die Besitzer von Urheberrechten verlangen inzwischen, dass der Staat einen "Krieg gegen das Kopieren" startet5. Die Gerichte und Polizei sollen in Übereinstimmung handelnde Erwachsene daran hindern, Informationen ohne Erlaubnis zu teilen. In einer Reihe von aufsehenerregenden Fällen haben industrielle Körperschaften die Provider technischer Ausstattung für den Austausch von urheberrechtlich geschütztem Material geklagt. Gleichzeitig experimentieren Medienunternehmen mit Software, die das unautorisierte Kopieren von Informationen verhindern soll6. Aber diese Offensive gegen die Piraterie kann nur teilweise erfolgreich sein. Beispielsweise ermutigen die Versuche der Musikindustrie, Napster zu schließen, die Menschen nur zur Installation von ausgefeilterer Software für den Austausch von Musik. Im Gegensatz zu den neoliberalen Prophezeiungen ist die Umwandlung von Information in Waren im digitalen Zeitalter schwieriger.

Da geistiges Eigentum im Netz in seiner derzeitigen Form nicht geschützt werden kann, wollen die Medienunternehmen statt dessen eine von oben geleitete Form der computervermittelten Kommunikation: das digitale Panoptikon7. Wenn es möglich wäre, jedermanns Online-Aktivitäten ständig zu überwachen, würde niemand es wagen, Urheberrechte zu verletzen. Weltweit entwickeln Sicherheitsdienste bereits "Big Brother"-Technologien, um jeden Netz-User ständig überwachen zu können. Beispielsweise schnüffeln die Regierungen der USA und der EU in den Emails ihrer realen oder eingebildeten Feinde8. Der kalifornischen Ideologie zufolge sollte ein so repressives Verhalten auf dem virtuellen Markt ein Anachronismus sein. Und doch sind es nur wenige Jahre später eben die kommerziellen Unternehmen, die nach einer Überwachung der privaten Netznutzung zum Schutz ihres geistigen Eigentums verlangen. Ironischerweise rechtfertigt die "negative" Freiheit des Ersten Zusatzes zur Verfassung jetzt die totalitären Absichten des digitalen Panoptikons.

Trotz der futuristischen Rhetorik seiner Befürworter setzte das digitale Panoptikon ein früheres Stadium der industriellen Entwicklung fort: den Fordismus. Seit dem Beginn der Moderne wurde jeder vorübergehende Ausbruch einer technologischen oder sozialen Innovation zu einem zeitlosen Utopia hochstilisiert. Während des letzten Jahrhunderts wurde die fordistische Fabrik nicht nur zum dominanten ökonomischen Paradigma, sondern lieferte auch ein Modell für Politik, Kultur und das tägliche Leben. Die Medienunternehmen wollen jetzt diese hierarchische Struktur auch der computervermittelten Kommunikation aufzwingen. Wie Arbeiter am Fließband sollen die Nutzer des digitalen Panoptikons unter ständiger Überwachung von oben stehen. Wie Fernsehzuseher können sie nur passiv diejenigen Medien konsumieren, die von anderen produziert werden. Die neue Informationsgesellschaft muss nach dem Bild der alten industriellen Ökonomie gebaut werden. Redefreiheit soll nur als Medienware existieren.

Die Hi-Tech-Geschenks-Ökonomie

Das digitale Panoptikon ist eine Zukunft, die bereits Vergangenheit ist. Denn die im Entstehen befindliche Informationsgesellschaft wird nach den Prinzipien derjenigen Wissenschaftler gebaut, die das Netz erfunden haben. Gefördert vom Staat und von Stiftungen, gab es kein Bedürfnis für Online-Systeme zum Handel mit Informationswaren. Wissenschafter erfanden, ausgehend von ihren eigenen Bedürfnissen, eine Form der computervermittelten Kommunikation zum Austausch von Informationen in einem einzigartigen virtuellen Raum: dem "intellektuellen Unterhaus"9. Vor allem wussten die Netzpioniere, dass die Veröffentlichung von Arbeitsergebnissen in vielen verschiedenen Büchern und Magazinen die wissenschaftliche Forschung behinderte. Von Vannevar Bush bis zu Tim Berners-Lee entwickelten sie Technologien, die den passiven Konsum festgelegter Informationsbrocken in einen teilhabenden Prozess der "interaktiven Kreativität" verwandeln konnten10.

Als sich das Netz über die Universitäten hinaus ausbreitete, entdeckten seine neuen Nutzer schnell die Vorteile dieses Informationsaustausches untereinander. Viele Nichtakademiker wollten auch die festgelegten Grenzen überschreiten, die ihnen durch die Verwandlung der Information zur Ware aufgebürdet wurden. Beispielsweise haben sich Musiker für das DJing, Sampeln und Remixen schon lange Aufnahmen angeeignet. Das beliebte MP3-Format vereinfacht nicht nur die Piraterie von urheberrechtlich geschütztem Material, sondern ermutigt Enthusiasten auch zur Produktion ihrer eigenen Sounds. Der passive Konsum von nicht veränderbaren Aufnahmen entwickelt sich zur interaktiven Teilnahme innerhalb der musikalischen Komposition.

Was seinen Anfang in der wissenschaftlichen Forschung nahm, verwandelt jetzt das Musikmachen und viele andere kulturelle Ausdrucksformen. Beinahe jede akademische Disziplin, politisches Thema, kulturelle Bewegung, beliebtes Hobby und private Obsession ist im Netz vertreten. Ob für die Arbeit oder das Vergnügen, die Menschen schaffen Websites, Bulletin Boards, Listserver und Chat rooms. Obwohl nur eine Minderheit an wissenschaftlicher Forschung beteiligt ist, können alle Nutzer des Netzes an dieser Hi-Tech-Geschenksökonomie teilhaben. Auch wenn einige überzeugt sind, dass die "interaktive Kreativität" an vorderster Front des politischen und kulturellen Aktivismus steht, genießen die meisten ihre Online-Projekte einfach als Freizeitbeschäftigung. Weit davon entfernt durch das digitale Panoptikon entfremdet zu werden, wächst das "intellektuelle Unterhaus" des Netzes exponential weiter. Redefreiheit ist ein Geschenk und obendrein gratis.

Was bleibt noch vom Urheberrecht?

Das Netz gilt jetzt als das neue gesellschaftliche Paradigma. Wirtschaft, Regierung und Kultur müssen sich entsprechend diesem Vorbild umstrukturieren: flexibel, teilhabend und selbst-organisierend. Obwohl sie oft als Pioniere der Hi-Tech-Zukunft wahrgenommen werden, fürchten die Medienunternehmen dieses jetzt auftauchende Paradigma. Denn das rasante Wachstum des Netzes stellt die Zufälligkeit ihres geistigen Eigentums bloß. Durchaus spontan entscheiden sich die meisten Menschen eher dafür, Information zu teilen, als Medienwaren über das Netz zu konsumieren. Die Redefreiheit kann ohne den freien Handel gedeihen.

Die Medienunternehmen versuchen verzweifelt, das Rad der Geschichte zum vorherigen Paradigma zurückzudrehen: zur fordistischen Fabrik. Wie in alten Science-Fiction-Geschichten träumen sie von gigantischen Mainframes, die jedermanns Online-Aktivitäten ausspionieren. Aber diese zentralisierte Vision der computervermittelten Kommunikation ist technisch bereits obsolet. Wie viel Rechnerkapazität bräuchte man, um eine detaillierte Analyse jedes einzelnen Datenflusses im Netz zu erstellen? Wie könnte man den Austausch und das Teilen von Dateien unter Gleichgesinnten ständig von oben überwachen? Aber ohne diese konstante Überwachung von oben ist die Effektivität der Verschlüsselung und anderer Sicherheitsmaßnahmen begrenzt. Wenn niemand hinschaut, werden sich Medienwaren im Netz spontan in Geschenke umwandeln.

Da es keine technologische Lösung für den Schutz des Urheberrechtes gibt, können die Medienkorporationen ihren Reichtum nur auf eine Weise erhalten: Staatsmacht. Nur die Angst vor der Bestrafung kann jeden einzelnen in das digitale Panoptikon hineinzwingen. Für die Medienkorporationen ist die "negative" Variante der Meinungsfreiheit nun die staatliche Durchsetzung von ökonomischer Zensur. Der Freihandel ist wichtiger als die Redefreiheit. Gemäß der Free Software Foundation kann dieser wachsende Widerspruch zwischen der Gesetzgebung und der Realität im Netz nur aufgelöst werden, indem die Reichweite des Ersten Zusatzes zur Verfassung erweitert wird. Das "negative" Konzept der Medienfreiheit muss sowohl auf private Unternehmen wie auch auf öffentliche Institutionen zutreffen. Da die Privilegien des Copyrights verschwinden, sollte Information auf liberalere Art und Weise reguliert werden: "Copyleft". Auch wenn es den Produzenten noch immer möglich sein sollte zu verhindern, daß ihre Arbeit von anderen als ihre eigene ausgegeben wird, sollte es jedem erlaubt sein, Informationen für die eigenen Zwecke zu kopieren und zu verändern. Redefreiheit ist die Freiheit von erzwungener Vermarktung11.

Selbst dieser Vorschlag ist einigen Netzpionieren nicht radikal genug. Tim Berners-Lee beispielsweise entschied, dass die Originalprogramme des Webs im öffentlichen Raum plaziert werden sollten. Die Wahrscheinlichkeit, dass seine Webprogramme als allgemeiner Standard angenommen werden würden, war sehr viel höher, wenn alle Restspuren einer individuellen Eigentümerschaft beseitigt wären. Nicht im Besitz eines Einzelnen, kann das Netz damit in den allgemeinen Besitz übergehen12. Es ist entscheidend, dass das Fehlen des geistigen Eigentums im Netz nie ein Hindernis für die erfolgreiche Kommerzialisierung der computervermittelten Kommunikation war. Ganz im Gegenteil, viele Dotcom-Unternehmer haben festgestellt, dass man außerhalb des Schutzraumes des digitalen Panoptikons höhere Profite erwirtschaften kann. Geschäfte können effizienter mit ihren Angestellten, Lieferanten und Kunden kommunizieren, wenn jeder Open-Source-Software verwendet. Warum sollte jemand von außerhalb der Medien eine weniger flexible und aufdringlichere Variante der computervermittelten Kommunikation akzeptieren, solange man im Netz in seiner jetzigen Form viel Geld verdienen kann? Sogar für den Handel mit geistigem Eigentum gibt es keine zwingende Notwendigkeit, in teure Copyright-Schutzsysteme zu investieren. Information kann immer noch durch andere erfolgreiche und erprobte Methoden vermarktet werden: Werbung, Real-Time Zustellung, Merchandising, Data-Mining und zusätzliche Dienstleistungen13. Solange diese Techniken weiterhin profitabel sind, ist die Schwächung des geistigen Eigentums im Netz tolerierbar. In wachsendem Ausmaß existiert Information sowohl als geistiges Eigentum wie auch als Geschenk - und als Hybrid der beiden. Die soziale Unterscheidung zwischen gesetzlich geschützter und freier Information wird hinfällig, sobald sie sich nicht mehr auf reale Objekte bezieht. Das Linux-Betriebssystem kann man beispielsweise entweder gratis aus dem Netz herunterladen oder auf einer CD-Rom von einer Dotcom-Firma kaufen. Redefreiheit ist sowohl Freihandel als auch kostenlose Geschenke.

Medien schaffen

Entsprechend des derzeitigen Urheberrechts ist diese neue Form der Redefreiheit einfach nur eine neue Form des Diebstahls. Information muss im Cyberspace immer eine Ware bleiben. Und doch entwickelt sich die Redefreiheit im Netz zu dem fluiden Prozess der "interaktiven Kreativität". Information existiert als Ware, als kostenloses Geschenk und als Hybrid der beiden. Dennoch kriminalisieren die Buchstaben des Gesetzes die Online-Aktivitäten beinahe aller Netz-User. Das "negative" Konzept der Medienfreiheit verbietet die politische Zensur, nur um ökonomische Zensur zuzulassen. Freihandel ist Staatsmacht.

Im täglichen Leben weiß jeder, dass es beinahe unmöglich ist, für den Austausch von Informationen bestraft zu werden. Die existierenden Copyright-Gesetze sind im Netz immer schwerer durchzusetzen. Das Konzept der Medienfreiheit muss jetzt über die bloße Freiheit von politischer Zensur hinaus erweitert werden, und sei es nur aus pragmatischen Gründen. Im Europa des 19. Jahrhunderts hat Karl Marx argumentiert, dass die Redefreiheit nicht auf den Freihandel beschränkt sein sollte. Die Linke musste nicht nur gegen politische, sondern auch gegen ökonomische Zensur kämpfen. Die Aufhebung gesetzlicher Kontrollen war für die Redefreiheit zwar eine grundlegende Voraussetzung, aber keine ausreichende Grundlage. Jeder musste auch Zugang zu den Technologien haben, die es erlaubten, sich selbst auszudrücken: das "positive" Konzept der Medienfreiheit14. Während der fordistischen Epoche hat die Linke diese liberale Definition der Redefreiheit beinahe vergessen. Aus technischen und ökonomischen Gründen schien es dem Durchschnittsbürger unmöglich, seine eigenen Medien zu schaffen. Redefreiheit wurde auf die politischen Parteien beschränkt15.

Das Auftauchen des Netzes macht diese eingeschränkte Sicht der Medienfreiheit zu einem Anachronismus. Zum ersten Mal können Durchschnittsbürger sowohl Produzenten als auch Konsumenten der Information sein. Marx" "positives" Konzept der Medienfreiheit ist inzwischen paradigmatische Politik. Anstatt Medien für sie zu machen, sollte der Staat den Menschen helfen, ihre eigenen Medien zu schaffen. Vor allem muss die strenge Durchsetzung des Urheberrechtes einer offiziellen Toleranz gegenüber flexibleren Formen der Information weichen: Bootlegs, Copyleft, Open Source und öffentlicher Raum. Ein "gemeinnütziger Zweck" (fair use) ist Redefreiheit.

Für die meisten Menschen ist die Schwächung des Urheberrechtes ein Problem, das sie nicht betrifft. Es kümmert sie nicht, dass der Handel mit Waren in den alten Medien mit der Zirkulation von Geschenken in den neuen Medien ko-existiert. Wenn das Kopieren allgegenwärtig ist, erscheint die Bestrafung für den Diebstahl von geistigem Eigentum pervers. Anstelle der offiziellen Gesetze kann man den Großteil der Online-Aktivitäten durch die spontanen Regeln des guten Benehmens regulieren16. Früher oder später werden sogar die Medienunternehmen den Niedergang des Informations-Fordismus akzeptieren müssen. Die "negative" Freiheit von der staatlichen Zensur wird sich für jeden zur "positiven" Freiheit entwickeln, seine eigenen Medien zu schaffen. Im Zeitalter des Netzes kann die Redefreiheit vieles werden: "... das Recht, Lärm zu machen.... seine eigenen Codes und Arbeit zu entwickeln ... das Recht, die freie und widerrufbare Entscheidung zu treffen, sich mit dem Code eines anderen zu verketten - daß heißt, das Recht, Leben zu schaffen."17

Richard Barbrook ist Koordinator des Hypermedia Research Centre an der University of Westminster in London.

Übersetzung: Barbara Pichler