Die Seuche Unsicherheit

Seite 2: Lass mich bloß in Ruhe!

Unsicherheit kann damit der Antrieb sein, der das Mit- zum gegeneinander macht. Und zwar über zwei Wege: Erstens sind Menschen, die Unsicherheit schlecht vertragen, deutlich aggressiver. Im Rahmen der homöostatischen Erklärung von Emotionen, die Walter Bradford Cannon vor über 100 Jahren begründet hat, führt jede Bedrohung der körperlichen Integrität - sei es durch Hunger oder Durst, sei es durch Gewalt - zu einer entsprechenden, emotional getriebenen Gegenreaktion.

Jedes Ereignis, das die Sicherheit des Individuums verringert, stellt eine Bedrohung dar, und wird mit aggressiver Abwehr beantwortet. Daher hängt die individuelle Fähigkeit zur Aggressionskontrolle, die vom seitlichen Stirnhirn geleistet wird, einer neuen Studie zufolge mit der Unsicherheitstoleranz zusammen.

Einen Mechanismus, durch welche Unsicherheit zur Spaltung der Gesellschaft führt, haben wir damit identifiziert: Die Unsicherheit erhöht das Stresslevel und damit die Aggression. Je höher die Aggressionsbereitschaft steigt, desto mehr Menschen sind außerstande, sie zu beherrschen. Der allgemeine Umgang untereinander wird rauer, unfreundlicher. Abweichende Ansichten erscheinen nicht mehr interessant, sondern bedrohlich.

Dieser Effekt wird noch verstärkt durch einen zweiten Mechanismus: Unter Stress geht die Empathie verloren. Grundsätzlich ist die Fähigkeit, sich in einen Anderen hineinzuversetzen, auf unterschiedliche Weisen bei Mensch und Tier vorhanden. Im einfachsten Fall durch das, was man "emotionale Ansteckung" nennt: Menschen ebenso wie Mäuse fühlen mit Artgenossen, die Schmerzen haben - vorausgesetzt, sie kennen diese.

Werden zwei Freunde gleichzeitig demselben Schmerz ausgesetzt, dann empfinden sie diesen stärker; unter Fremden hingegen gibt es diesen Effekt der "emotionalen Ansteckung" nicht.

Das liegt daran, dass die Gegenwart eines Fremden Stress verursacht. Die pharmakologische Blockade der Stresshormonsynthese sorgte daher bei Mäusen wie bei Menschen dafür, dass die emotionale Ansteckung auch unter Fremden stattfand. Bei Menschen hatte auch ein gemeinsames, kooperatives Spiel diesen Effekt: Der Fremde wurde zum Bekannten, der keinen Stress mehr auslöste. Nun erst konnte man mit ihm fühlen.

Unter gesellschaftlichen Bedingungen von Unsicherheit und Stress entsteht somit ein Teufelskreis: Die Begegnung mit jemand Fremdem erzeugt Stress, dieser senkt die Fähigkeit, sich in Andere hineinzuversetzen, Andere bleiben mithin eher fremd. So erzeugt Stress eine selbstorganisierende Lagerbildung.

Lauter Wagenburgen

Den emotionalen Vorgängen folgen die kognitiven. Denn mitnichten bestimmen Tatsachen das Denken und dann das Denken die Gefühle - es ist genau andersherum. Die jeweilige Stimmungslage bestimmt, wie wir Argumente gewichten und auch, wie wir sie auswählen, also überhaupt zu Fakten machen. Psychologie und Hirnforschung haben das hinreichend gezeigt; wissen kann es aber eigentlich jeder, der beobachtet, wie er seine Beziehung während eines Streits und nach der Versöhnung beurteilt.

So formt sich auch eine Gefühlslage, in der sich Angst, Aggression und Selbstbezogenheit mischen, ihr entsprechende Denkweisen. Aus dem inintelligiblen Chaos der Welt, aus dem sich jedem Verständnis und jeder Wahrheit entziehenden Schwirren von Eindrücken, Daten, Erinnerungen und vermeintlichen Fakten baut jede und jeder sich ein schützendes Weltbild, wie ein geistiges Schneckenhaus.

Doch wie keine Karte das Territorium vollständig abdecken kann, so erfasst auch kein Weltbild alle verfügbaren Fakten. Daher ist jedes Weltbild potenziell gefährdet, jedes Gegenargument eine Panzergranate. Je größer die allgemeine Unsicherheit, umso mächtiger folglich Stress und Aggression, desto starrer werden daher auch die Weltbilder.

Denn wo das Weltbild nicht mit den Fakten zusammenpasst, entsteht kognitive Dissonanz. Dieses unangenehme Gefühl sorgt wie ein geistiges Immunsystem dafür, dass das Weltbild und damit das Selbstbild heile und unverletzt bleiben (Fakten spielen keine Rolle.). Gefestigte Weltbilder helfen gegen kognitive Dissonanz, und gegen Unsicherheit.

So kommt es, dass, je unsicherer die Gesellschaft wird, ihre Mitglieder sich desto fester an ihre einfachen Wahrheiten klammern. Sie suchen Zuflucht bei unterkomplexen Erzählungen von Gut und Böse: von der guten Demokratie und den bösen Russen, von der guten Wissenschaft und den bösen Religionen, vom guten Deutschen und dem bösen Muslim, vom guten Verschwörungstheoretiker und dem bösen Schlafschaf.