Die Seuche Unsicherheit

Seite 3: Nimmt die Unsicherheit zu?

Zunehmende Unsicherheit kann also die Zersplitterung unserer Gesellschaft schlüssig erklären. Dass aber die Unsicherheit zunehme, ist bislang eine unbewiesene Voraussetzung geblieben.

Sie beruht vornehmlich auf Plausibilität: Die Arbeitslosigkeit ist anhaltend hoch; die Abstiegsangst nimmt zu; während der Arbeitsdruck steigt, schwindet zugleich der wärmende Schutz stabiler Sozialbeziehungen durch zunehmende Vereinzelung und erzwungene Mobilität; und dann kommt noch eine Viruserkrankung hinzu, von der niemand weiß, wie gefährlich sie ist, und wen sie vielleicht tötet.

Wohl aufgrund solch einleuchtender Argumente stellen sogar wissenschaftliche Artikel die Behauptung, dass die Unsicherheit zunehme, unbewiesen in den Raum. Und niemand widerspricht.

Langfristige objektive Messungen von Unsicherheit oder Stresslevel in der Bevölkerung scheint es nicht zu geben. Ein gutes, indirektes Maß bietet eine weitere Folge von Unsicherheit, nämlich die Entstehung psychischer Störungen. Depression, Angsterkrankungen, Psychosen - lauter Störungen, an deren Entstehung Stress maßgeblich beteiligt ist (was auch ihre Häufung in der Stadt miterklärt), werden mit Unsicherheit in Verbindung gebracht. Und ihre Häufigkeit in den westlichen Gesellschaften nimmt anscheinend seit Jahren zu.

Während der Schluss von Unsicherheit auf Stress und von Stress auf Krankheit etwas deduktiv und spekulativ erscheinen mag, untermauern einige Studien mittlerweile die direkte Verbindung. Leute, die Unsicherheit schlecht ertragen können, neigen stärker zu dem, was man mittlerweile "externalisierende Psychopathologie" nennt, also Störungen, deren symptomatisches Verhalten sich gegen die Umwelt richtet - z.B. ADHS und Verhaltensstörungen.

Die Verbindung besteht in einer Vermeidungsmotivation: Die Menschen lassen sich auf riskantes oder schädliches Verhalten – etwa Drogenkonsum – ein, um die mit der Unsicherheit verbundenen negativen Emotionen zu verdrängen. Und diese Neigung zum riskanten Verhalten führte dann zur Psychopathologie. Dass Studenten, die unter Unsicherheit leiden, sich häufiger unabsichtlich verletzen, dürfte sich so erklären lassen.

Dass Störungen des Einzelnen auf diese Weise verursacht werden, wirkt sich sogar bis in die makroskopische, kulturelle Ebene aus. Der niederländische Sozialpsychologe fand sechs kulturelle Dimensionen, nach denen Gesellschaften sich unterscheiden. Eine davon ist die Unsicherheitsvermeidung. Länder mit hoher Unsicherheitsvermeidung haben auch einen hohen Alkohol- und Zigarettenkonsum und eine hohe Autofahrgeschwindigkeit.

Das wirkt paradox, weil diese Verhaltensweisen Unsicherheit erzeugen. Aber für den Einzelnen dienen sie dazu, die lauernden Ängste zu vertreiben. Wer über die Autobahn brettert, kanalisiert seine Nervosität und Aggression ins Gaspedal und gibt sich für einige Minuten der Kontrollillusion hin.

Unsicherheit als politisches Problem

Daraus folgt bereits, dass Unsicherheit kein rein privates Problem ist. Es ist verfehlt, die Schuld auf die Leute zu schieben, die eine geringe Toleranz für Unsicherheit haben - diese Eigenschaft ist vermutlich einfach gaußverteilt. Menschen ändern zu wollen, damit sie zur Theorie passen, ist immer Ideologie.

Dabei gibt es durchaus Therapieansätze, die auch wirksam sind, denn Intoleranz gegenüber Unsicherheit ist ein typisches und zentrales Problem bei Menschen mit Angsterkrankungen (general anxiety disorder). Ihnen genügt keine relative Sicherheit, dass ein unerfreuliches Ereignis (Jobverlust, Flugzeugabsturz) sehr unwahrscheinlich ist: Sie verlangen nach absoluter Sicherheit. Darum haben Psychotherapeuten ein Training zur Steigerung der Unsicherheitstoleranz entwickelt, das Betroffenen hilft.

Trotzdem ist so ein individueller Ansatz keine Lösung, sowenig man Bangladeschs Schwierigkeiten mit dem steigenden Meeresspiegel durch einen Wer-baut-das-höchste-Haus-Wettbewerb lösen kann. Um die Aggression und den Spaltungswillen in der Gesellschaft zu verringern, ist es letztlich unumgänglich, für mehr Sicherheit zu sorgen: mehr Verlässlichkeit in der Lebensplanung, mehr Geborgenheit in Beziehungen, mehr finanzielle Absicherung, bessere Gesundheitsversorgung, etc. Wer hingegen eine Politik der "Eigenverantwortung" und des Wettbewerbs vertritt, sollte nicht gleichzeitig die gesellschaftliche Spaltung beklagen, wenn er glaubwürdig sein möchte.