Die Seuche Unsicherheit

Weshalb spaltet sich die Gesellschaft heutzutage im Streit über beliebige Themen? Eine psychologische Ursache könnte in Stress und Unsicherheit liegen

Kaum ein Attribut wird derzeit so häufig auf die westlichen Gesellschaften angewandt wie: gespalten. Seien es die USA zwischen Anhängern von Donald Trump und Joe Biden, sei es das (noch) Vereinigte Königreich zwischen Brexit-Befürwortern und Remainern, sei es Deutschland zwischen Unterstützern der Bewegung Pegida und der Refugees-Welcome-Kampagne, zwischen Klimawandelleugnern und Fridays For Future, zwischen "Verschwörungstheoretikern" und "Schlafschafen", zwischen Transatlantikern und Putin-Verstehern, oder aktuell zwischen "Corona-Leugnern" und Maßnahmenhardlinern, zwischen Ungeimpften und Geimpften.

Es scheint kein Thema zu geben, das nicht geeignet wäre, zum Keil zu werden. Wenn sogar eine mittelschwere Atemwegserkrankung Freunde in Feindagenten und Nachbarn in Nazis verwandeln kann, welcher Frage würde man dann noch das Spaltungspotenzial absprechen? Gut möglich, dass sich das Land morgen über die Schönheit von Rosen entzweit.

Nur: Warum?

Die beliebige Vielzahl der Sprengmittel zeigt, dass es um Inhalte eigentlich nicht geht. Ginge es um Inhalte, dann könnte man ja darüber diskutieren. Nein, offensichtlich geht es gerade nicht darum, aus welcher von mehreren denkbaren Deutungen einer Situation sich die für den Durchschnitt besten Handlungsvorschläge ableiten lassen. Sondern um einen sozialen Prozess, bei dem die Bildung voneinander feindseligen Untergruppen sich verselbständigt und zum Selbstzweck wird. Der konkrete Anlass ist nur der zufällige Steinschlag auf der Frontscheibe. Die Spannung, welche sie in Krümel zerlegt, ist schon vorher da.

Noch einmal: Warum? Was ist mit unserer Gesellschaft los, dass sie unter solcher Spannung steht?

Des Stresses Essenz

Ein guter Kandidat für eine Erklärung ist: Unsicherheit.

Damit meine ich nicht das, was Politiker mit dem Wort bezeichnen. Weder die Verbrechensbekämpfung mit möglichst viel Polizei und Überwachung, noch die waffenstarrende Kriegsvorbereitung aufgrund behaupteter Bedrohungen. In den sozialen und psychologischen Wissenschaften hat "Sicherheit" eine völlig andere Bedeutung. Sie bezeichnet hier einen Zustand des Individuums, nämlich die Vorhersagbarkeit seiner sozialen und materiellen Umwelt.

Sicher ist, wer seine Umwelt kennt und die Konsequenzen seines Verhaltens verlässlich abzuschätzen vermag. Der Verhaltensforscher Hubert Hendrichs sah Sicherheit in diesem Sinne als eines der sozialen Grundbedürfnisse jedes Säugetiers. Stabile Sozialsysteme erzeugen genau diesen Zustand, in welchem die Rolle und die Handlungsmöglichkeiten jedes Mitglieds festgelegt sind.

Verlust der Sicherheit verursacht Stress. Ein klassischer Sammelband über Stressforschung beschreibt das im Titel "Coping with uncertainty", und eine jüngere Übersichtsarbeit von drei Koryphäen des Feldes nennt Unsicherheit "the essence of stress."

Wenn Unsicherheit eintritt, löst sie die Stressreaktion aus, und diese mobilisiert die Ressourcen, um den bedrohlichen Zustand zu verändern und letztlich zu beenden. Misslingt dieser Versuch, dann bleibt der Stresszustand chronisch bestehen.

Unsicherheit kann ein Zustand sein, ein Kennzeichen der Lebenssituation, ebenso gut aber auch das Ergebnis vorübergehender Ambivalenz. Wohl jeder kennt die Verwirrung, welche Menschen auslösen, die in keine geistige Schublade passen: Sie verleiten zum Starren. Und auch zum Unwohlsein. In einem aktuellen Sonderband der Proceedings of the Royal Society B zum Thema The political brain beschreiben Forscher, dass gemischtrassige Gesichter emotional wertende Hirnrindenbereiche aktivieren, oder dass dieselben Hirngebiete auch auf inkongruente, verunsichernde politische Informationen reagieren.

Das Ergebnis ist das, was andere Autoren "viszerale Politik" nennen: Unsicherheit über demokratische Entscheidungsprozesse, Gesundheitsversorgung oder die Zuverlässigkeit von Informationen verursacht ein Unwohlsein, das sich in der Sehnsucht nach autoritärer Politik niederschlägt.

Lass mich bloß in Ruhe!

Unsicherheit kann damit der Antrieb sein, der das Mit- zum gegeneinander macht. Und zwar über zwei Wege: Erstens sind Menschen, die Unsicherheit schlecht vertragen, deutlich aggressiver. Im Rahmen der homöostatischen Erklärung von Emotionen, die Walter Bradford Cannon vor über 100 Jahren begründet hat, führt jede Bedrohung der körperlichen Integrität - sei es durch Hunger oder Durst, sei es durch Gewalt - zu einer entsprechenden, emotional getriebenen Gegenreaktion.

Jedes Ereignis, das die Sicherheit des Individuums verringert, stellt eine Bedrohung dar, und wird mit aggressiver Abwehr beantwortet. Daher hängt die individuelle Fähigkeit zur Aggressionskontrolle, die vom seitlichen Stirnhirn geleistet wird, einer neuen Studie zufolge mit der Unsicherheitstoleranz zusammen.

Einen Mechanismus, durch welche Unsicherheit zur Spaltung der Gesellschaft führt, haben wir damit identifiziert: Die Unsicherheit erhöht das Stresslevel und damit die Aggression. Je höher die Aggressionsbereitschaft steigt, desto mehr Menschen sind außerstande, sie zu beherrschen. Der allgemeine Umgang untereinander wird rauer, unfreundlicher. Abweichende Ansichten erscheinen nicht mehr interessant, sondern bedrohlich.

Dieser Effekt wird noch verstärkt durch einen zweiten Mechanismus: Unter Stress geht die Empathie verloren. Grundsätzlich ist die Fähigkeit, sich in einen Anderen hineinzuversetzen, auf unterschiedliche Weisen bei Mensch und Tier vorhanden. Im einfachsten Fall durch das, was man "emotionale Ansteckung" nennt: Menschen ebenso wie Mäuse fühlen mit Artgenossen, die Schmerzen haben - vorausgesetzt, sie kennen diese.

Werden zwei Freunde gleichzeitig demselben Schmerz ausgesetzt, dann empfinden sie diesen stärker; unter Fremden hingegen gibt es diesen Effekt der "emotionalen Ansteckung" nicht.

Das liegt daran, dass die Gegenwart eines Fremden Stress verursacht. Die pharmakologische Blockade der Stresshormonsynthese sorgte daher bei Mäusen wie bei Menschen dafür, dass die emotionale Ansteckung auch unter Fremden stattfand. Bei Menschen hatte auch ein gemeinsames, kooperatives Spiel diesen Effekt: Der Fremde wurde zum Bekannten, der keinen Stress mehr auslöste. Nun erst konnte man mit ihm fühlen.

Unter gesellschaftlichen Bedingungen von Unsicherheit und Stress entsteht somit ein Teufelskreis: Die Begegnung mit jemand Fremdem erzeugt Stress, dieser senkt die Fähigkeit, sich in Andere hineinzuversetzen, Andere bleiben mithin eher fremd. So erzeugt Stress eine selbstorganisierende Lagerbildung.

Lauter Wagenburgen

Den emotionalen Vorgängen folgen die kognitiven. Denn mitnichten bestimmen Tatsachen das Denken und dann das Denken die Gefühle - es ist genau andersherum. Die jeweilige Stimmungslage bestimmt, wie wir Argumente gewichten und auch, wie wir sie auswählen, also überhaupt zu Fakten machen. Psychologie und Hirnforschung haben das hinreichend gezeigt; wissen kann es aber eigentlich jeder, der beobachtet, wie er seine Beziehung während eines Streits und nach der Versöhnung beurteilt.

So formt sich auch eine Gefühlslage, in der sich Angst, Aggression und Selbstbezogenheit mischen, ihr entsprechende Denkweisen. Aus dem inintelligiblen Chaos der Welt, aus dem sich jedem Verständnis und jeder Wahrheit entziehenden Schwirren von Eindrücken, Daten, Erinnerungen und vermeintlichen Fakten baut jede und jeder sich ein schützendes Weltbild, wie ein geistiges Schneckenhaus.

Doch wie keine Karte das Territorium vollständig abdecken kann, so erfasst auch kein Weltbild alle verfügbaren Fakten. Daher ist jedes Weltbild potenziell gefährdet, jedes Gegenargument eine Panzergranate. Je größer die allgemeine Unsicherheit, umso mächtiger folglich Stress und Aggression, desto starrer werden daher auch die Weltbilder.

Denn wo das Weltbild nicht mit den Fakten zusammenpasst, entsteht kognitive Dissonanz. Dieses unangenehme Gefühl sorgt wie ein geistiges Immunsystem dafür, dass das Weltbild und damit das Selbstbild heile und unverletzt bleiben (Fakten spielen keine Rolle.). Gefestigte Weltbilder helfen gegen kognitive Dissonanz, und gegen Unsicherheit.

So kommt es, dass, je unsicherer die Gesellschaft wird, ihre Mitglieder sich desto fester an ihre einfachen Wahrheiten klammern. Sie suchen Zuflucht bei unterkomplexen Erzählungen von Gut und Böse: von der guten Demokratie und den bösen Russen, von der guten Wissenschaft und den bösen Religionen, vom guten Deutschen und dem bösen Muslim, vom guten Verschwörungstheoretiker und dem bösen Schlafschaf.

Nimmt die Unsicherheit zu?

Zunehmende Unsicherheit kann also die Zersplitterung unserer Gesellschaft schlüssig erklären. Dass aber die Unsicherheit zunehme, ist bislang eine unbewiesene Voraussetzung geblieben.

Sie beruht vornehmlich auf Plausibilität: Die Arbeitslosigkeit ist anhaltend hoch; die Abstiegsangst nimmt zu; während der Arbeitsdruck steigt, schwindet zugleich der wärmende Schutz stabiler Sozialbeziehungen durch zunehmende Vereinzelung und erzwungene Mobilität; und dann kommt noch eine Viruserkrankung hinzu, von der niemand weiß, wie gefährlich sie ist, und wen sie vielleicht tötet.

Wohl aufgrund solch einleuchtender Argumente stellen sogar wissenschaftliche Artikel die Behauptung, dass die Unsicherheit zunehme, unbewiesen in den Raum. Und niemand widerspricht.

Langfristige objektive Messungen von Unsicherheit oder Stresslevel in der Bevölkerung scheint es nicht zu geben. Ein gutes, indirektes Maß bietet eine weitere Folge von Unsicherheit, nämlich die Entstehung psychischer Störungen. Depression, Angsterkrankungen, Psychosen - lauter Störungen, an deren Entstehung Stress maßgeblich beteiligt ist (was auch ihre Häufung in der Stadt miterklärt), werden mit Unsicherheit in Verbindung gebracht. Und ihre Häufigkeit in den westlichen Gesellschaften nimmt anscheinend seit Jahren zu.

Während der Schluss von Unsicherheit auf Stress und von Stress auf Krankheit etwas deduktiv und spekulativ erscheinen mag, untermauern einige Studien mittlerweile die direkte Verbindung. Leute, die Unsicherheit schlecht ertragen können, neigen stärker zu dem, was man mittlerweile "externalisierende Psychopathologie" nennt, also Störungen, deren symptomatisches Verhalten sich gegen die Umwelt richtet - z.B. ADHS und Verhaltensstörungen.

Die Verbindung besteht in einer Vermeidungsmotivation: Die Menschen lassen sich auf riskantes oder schädliches Verhalten – etwa Drogenkonsum – ein, um die mit der Unsicherheit verbundenen negativen Emotionen zu verdrängen. Und diese Neigung zum riskanten Verhalten führte dann zur Psychopathologie. Dass Studenten, die unter Unsicherheit leiden, sich häufiger unabsichtlich verletzen, dürfte sich so erklären lassen.

Dass Störungen des Einzelnen auf diese Weise verursacht werden, wirkt sich sogar bis in die makroskopische, kulturelle Ebene aus. Der niederländische Sozialpsychologe fand sechs kulturelle Dimensionen, nach denen Gesellschaften sich unterscheiden. Eine davon ist die Unsicherheitsvermeidung. Länder mit hoher Unsicherheitsvermeidung haben auch einen hohen Alkohol- und Zigarettenkonsum und eine hohe Autofahrgeschwindigkeit.

Das wirkt paradox, weil diese Verhaltensweisen Unsicherheit erzeugen. Aber für den Einzelnen dienen sie dazu, die lauernden Ängste zu vertreiben. Wer über die Autobahn brettert, kanalisiert seine Nervosität und Aggression ins Gaspedal und gibt sich für einige Minuten der Kontrollillusion hin.

Unsicherheit als politisches Problem

Daraus folgt bereits, dass Unsicherheit kein rein privates Problem ist. Es ist verfehlt, die Schuld auf die Leute zu schieben, die eine geringe Toleranz für Unsicherheit haben - diese Eigenschaft ist vermutlich einfach gaußverteilt. Menschen ändern zu wollen, damit sie zur Theorie passen, ist immer Ideologie.

Dabei gibt es durchaus Therapieansätze, die auch wirksam sind, denn Intoleranz gegenüber Unsicherheit ist ein typisches und zentrales Problem bei Menschen mit Angsterkrankungen (general anxiety disorder). Ihnen genügt keine relative Sicherheit, dass ein unerfreuliches Ereignis (Jobverlust, Flugzeugabsturz) sehr unwahrscheinlich ist: Sie verlangen nach absoluter Sicherheit. Darum haben Psychotherapeuten ein Training zur Steigerung der Unsicherheitstoleranz entwickelt, das Betroffenen hilft.

Trotzdem ist so ein individueller Ansatz keine Lösung, sowenig man Bangladeschs Schwierigkeiten mit dem steigenden Meeresspiegel durch einen Wer-baut-das-höchste-Haus-Wettbewerb lösen kann. Um die Aggression und den Spaltungswillen in der Gesellschaft zu verringern, ist es letztlich unumgänglich, für mehr Sicherheit zu sorgen: mehr Verlässlichkeit in der Lebensplanung, mehr Geborgenheit in Beziehungen, mehr finanzielle Absicherung, bessere Gesundheitsversorgung, etc. Wer hingegen eine Politik der "Eigenverantwortung" und des Wettbewerbs vertritt, sollte nicht gleichzeitig die gesellschaftliche Spaltung beklagen, wenn er glaubwürdig sein möchte.