Die Spaltung bleibt, die Strategie fehlt
Beim EU-Sondergipfel zur Flüchtlingskrise durften die Hardliner aus Osteuropa ihre Wunden lecken. Gipfelchef Tusk kam ihnen mit einem Programm zur Abschottung Europas weit entgegen
Erst ein bisschen mehr Solidarität wagen, dann gemeinsam die Schotten dicht machen: Nach diesem Motto wollten Kommissionschef Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk die EU in dieser Woche durch die Flüchtlingskrise steuern.
Für die Solidarität waren die Innenminister zuständig, die bereits am Dienstag die umstrittene Verteilung von 120.000 Flüchtlingen per Mehrheitsvotum durchgeboxt hatten - gegen den erklärten Willen von vier osteuropäischen Neinsagern.
Für die Abschottung hingegen sollten die 28 Staats- und Regierungschefs sorgen, die am Mittwoch zu einem Sondergipfel in Brüssel zusammengekommen waren. Das Drehbuch hatte Tusk persönlich geschrieben - nachdem er sein Heimatland Polen zuvor aus der Front der Neinsager herausgebrochen hatte.
Und so sah Tusks Plan aus: Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Rumänien - also die Neinsager - sollten beim Gipfel keine Chance mehr haben, die Zwangsquote rückgängig zu machen. Deshalb berief Tusk einen informellen Gipfel ein: ohne Abstimmung und damit auch ohne Veto-Recht für die Quertreiber.
Gleichzeitig legte er eine Agenda vor, die den Hardlinern weit entgegenkam. Hier die wichtigsten Punkte:
- Die Flüchtlinge in der Krisenregion rund um Syrien sollen durch Uno-Hilfsprogramme von der Flucht nach Europa abgehalten werden; dafür will die EU eine Milliarde Euro bereitstellen.
- Libanon, Jordanien und die Türkei sollen zusätzliche Finanzspritzen bekommen, damit sie als Pufferzone dienen; allein für die Türkei sind dafür nochmals eine Milliarde Euro aus EU-Mitteln vorgesehen.
- Die Türkei soll auf "allen Ebenen" in einen kooperativen Dialog eingebunden werden; Staatschef Recep Tayip Erdogan wird dafür eigens am 5. Oktober in Brüssel empfangen.
- Auch Afrika soll über einen "Emergency Trust Fund" eingebunden werden - angeblich, um den Ländern zu helfen und die "Fluchtursachen" zu beheben.
- Die "dramatische Situation" an den EU-Außengrenzen soll durch strengere Grenzkontrollen und mehr Geld für die Grenzschutzagentur Frontex und die Polizeibehörde Europol entschärft werden.
- Die "Frontstaaten" der EU sollen durch verstärkte administrative Hilfe aus Brüssel entlastet werden; namentlich nennt Tusk "Registrierung, Identifizierung und Abnahme von Fingerabdrücken" mit dem Ziel, die Migranten umzuverteilen oder aus Europa abzuschieben.
- Die Rückführungs-Pläne der EU-Kommission sollen mit Hochdruck vorangetrieben werden.
- Die EU-Programme für die innere Sicherheit und die Absicherung der Grenzen sollen mehr Geld bekommen.
Erst nach diesem Abschottungs- und Abschreckungs-Programm kam Tusk in seiner Vorlage auf Syrien zu sprechen. Doch statt einer Strategie, wie der Bürgerkrieg zu beenden wäre, rief der EU-Gipfelchef zu neuen "internationalen Bemühungen" auf - was auch immer das heißen mag.
Es ist ein Plan so ganz nach dem Geschmack der Hardliner; er war denn auch beim Gipfel nicht umstritten. Ganz am Ende seines Papiers hatte Tusk noch die "volle Teilnahme am Dublin-System" empfohlen - also die Rückkehr zum in der Praxis längst überrannten und widerlegten Prinzip, nach dem jene Länder zuständig sein sollen, in dem die Flüchtlinge in die EU einreisen.
"Dublin ist tot", hatte es auf dem Höhepunkt der Krise noch in Berlin geheißen. Kanzlerin Angela Merkel hatte mit dem Scheitern des Dublin-Abkommens sogar die Grenzöffnung für syrische Flüchtlinge begründet. Doch das ist Schnee von gestern. "Hoch lebe Dublin" hieß das Motto auf dem Krisengipfel in Brüssel.
Es ging also um Revision eines Zustandes, den die EU als schlimmste innere Krise seit dem 2. Weltkrieg erlebt. Rufe nach einer Reform von Dublin und der Schaffung sicherer und legaler Fluchtkorridore, wie sie die Uno fordert, hatten von vorne herein keine Chance. Dennoch wurde der Gipfel von Streit überschattet.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban warf Merkel in der Flüchtlingsfrage "moralischen Imperialismus" vor. Deutschland habe nicht das Recht, anderen Ländern seine Politik vorzuschreiben.
Heftige Kritik mussten sich auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und der amtierende Vorsitzende des Innenministerrats, Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn, anhören. Ihre Entscheidung, die Kontingente zur Verteilung der Flüchtlinge mit qualifizierter Mehrheit durchzusetzen und vier EU-Länder zu überstimmen, sei ein "Diktat", klagte der slowakische Regierungschef Robert Fico. Sein Land werde den Beschluss nicht umsetzen und vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) Klage einreichen.
Doch Fico war isoliert. Zwar hatten sich die Vizegrad-Staaten vor dem Gipfel noch zu einer Kungelrunde getroffen. Doch Tschechien und Rumänien wollten die verlorene Schlacht um die Quoten nicht erneut schlagen. Den Ton gaben stattdessen Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef Francois Hollande an. Wie in den guten alten Zeiten des deutsch-französischen "Motors" für Europa marschierten sie gemeinsam in das Brüsseler Ratsgebäude ein.
Merkel machte ihren Amtskollegen Mut: Angesichts "einer großen Herausforderung" dürfe die EU nicht kapitulieren und erklären, "wir werden mit der Sache nicht fertig", sagte die Kanzlerin. "Das wäre ganz falsch." Europa habe genau wie Deutschland die Kraft, die Krise zu bewältigen.
Hollande gab sich kämpferisch: Wer europäische Werte nicht teile, müsse sich fragen, ob er in der EU richtig aufgehoben sei. Das gelte für jene, "die nicht unsere Werte teilen, jene, die noch nicht einmal diese Prinzipien einhalten wollen", warnte Hollande.
Allerdings sind die Spannungen damit noch längst nicht beigelegt. Hinter den Kulissen äußerten sich französische Diplomaten erneut verärgert über die deutschen Alleingänge in der Flüchtlingspolitik. Merkels Hin und Her - erst die überraschende Öffnung für syrische Flüchtlinge, dann die plötzliche Wiedereinführung von Grenzkontrollen - habe die Krise unnötig verschärft.
Dem widersprachen deutsche Diplomaten. Die Flüchtlingswelle habe schon lange vor Merkels umstrittener Pressekonferenz Anfang September begonnen. Die Bundesregierung habe sich nichts vorzuwerfen, sondern nur die europäischen Werte verteidigt.
Weit auseinander liegen Deutschland und Frankreich auch in der Außenpolitik. Hollande sprach sich für eine Friedenskonferenz zu Syrien aus. "Alle die zu einer politischen Lösung in Syrien beitragen können, müssen um einen Tisch versammelt werden", sagte er in Brüssel. Merkel hielt sich in der Syrien-Frage hingegen bedeckt - genau wie Tusk und die eigentlich zuständige EU-Außenbeauftrage Federica Mogherini. Statt einer schlüssigen außenpolitischen Strategie legten sie nur ein Sammelsurium von Einzelmaßnahmen vor.
Wie so die Krise, die im Kern ja eine außenpolitische ist, gelöst werden soll, bleibt ihr Geheimnis. Vielleicht erfahren wir es ja beim nächsten EU-Gipfel Mitte Oktober: Dann stehen die Flüchtlinge schon wieder auf der Tagesordnung.