Die Stadt der Toten
Warum die Berliner Lilienthalstraße prädestiniert ist für Gedenkfeiern
Erinnerung braucht einen Ort. Immer wieder kann man diesen Satz hören bei der Gedenkfeier des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge am Vorabend des Volkstrauertages 2003. Und weil nicht nur Erinnerung, sondern auch Feierlichkeiten ihren Ort brauchen, hat man sich - wie in den Jahren zuvor - in der Lilienthalstraße zu Berlin versammelt. Weil der ehemalige Standortfriedhof Lilienthalstraße die ideale Kulisse bietet für ein Ritual mit Kränzen, Fackeln und Militär.
Selbst das unkundige Auge errät sofort, dass die Trauerhalle und die Freitreppen im Dritten Reich erbaut wurden. Eigentlich war die Anlage für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges errichtet worden, aber während und nach dem Zweiten Weltkrieg kamen massenhaft Gräber dazu. Inzwischen gehört der Friedhof dem Land Berlin und steht selbstverständlich auch der Zivilbevölkerung als letzte Ruhestätte zur Verfügung. Beziehungsweise als vorübergehende Ruhestätte. Die Liegezeiten sind, wie in Deutschland allgemein üblich, begrenzt. Mit anderen Worten: wer nicht zahlt, fliegt raus. In unzähligen Gräbern stecken Plastikschildchen, die die Angehörigen auffordern, sich im Friedhofsamt zu melden. Das tun wohl die wenigsten, denn hinter der Trauerhalle türmen sich die entsorgten Grabsteine, und auf einigen kann man neben der Floskel 'geliebt und unvergessen' das Sterbejahr 1978 lesen.
Für Kriegsgräber gelten andere Regeln. Sie sind auf Dauer angelegt. Übrigens liegen nicht nur Soldaten unter den schlichten Keramikplatten. Auch Bombenopfer sind hier bestattet. Deshalb auch die vielen Frauennamen aus den letzten Kriegsjahren. Angeblich wurde 2001 auch ein Gedenkstein für verschleppte Frauen errichtet, aber der muss gut versteckt sein. Jedenfalls stolpert man nicht gerade über ihn. Eher fällt man in eines der zivilen Gräber, die oft Wochen im Voraus ausgeschachtet werden, am Ostende des Friedhofs, wo die Grabgestaltung immer bunter wird und wo gleich hinter der Friedhofsmauer Dealer, Jogger und Hunde im Volkspark Hasenheide ihre Runden drehen.
Dass sich für den 15.11. etwas anbahnt, erfuhren zunächst jene Autofahrer, die ihren Wagen unweit des Friedhofs abgestellt hatten: Zwei Wochen vor der Feier wurden sie aufgefordert, ihren Wagen an diesem Tag woanders zu parken. Doch der Fuhrpark der Bundeswehr ist mehr als enttäuschend. Ein grauer Kombi mit Bundeswehr-Logo, dazu ein paar lahme Zivilfahrzeuge. Und dafür wurden in der halben Straße Halteverbotszonen eingerichtet und attraktive Kleinwagen abgeschleppt. Neulich, anlässlich des 25jährigen Pontifikats von Papst Johannes Paul II., war mehr geboten: schwarze Limousinen, soweit das Auge reichte; massige Männer mit Sonnenbrillen; Security bis zum Umfallen. Sogar am Südstern, vorne auf der Kreuzung, hatten sich die Einsatzwagen positioniert. In der Lilienthalstraße befindet sich nämlich nicht nur der ehemalige Standortfriedhof, sondern auch die Apostolische Nuntiatur, sprich: die Vatikanische Botschaft. Bei der Gedenkfeier anlässlich des Volkstrauertages gibt es nur Security light. Ein paar Wachtmeister, ein paar Herren in Zivil, ein Rettungswagen. Die Mehrzahl der Anwesenden ist betagt. Trotz 50 Jahren Jugendarbeit, die heuer gefeiert werden.
Zur Gedenkfeier in der Kirche gibt es nur mit Eintrittskarte Einlass, zur Kranzniederlegung auf dem ehemaligen Standortfriedhof nebenan ist jedoch jeder willkommen. Der Ansturm hält sich in Grenzen. Gleich hinter dem steinernen Friedhofsportal stehen nicht nur die Kränze, sondern auch die so genannten Kranzleger bereit. Junge Burschen in Uniform, die jeweils zu zweit eines der Gebinde in die Kranzgruft tragen werden. Damit auch alles glatt geht, haben sie vorab mit Attrappen geübt. Das Karree vor der Kranzgruft wird von einer Kordel eingerahmt. Der Weg zur Gruft wird von weiteren Kränzen flankiert. Den vom Deutschen Roten Kreuz erkennt man von weitem: rotes Nelkenkreuz auf weißem Nelkengrund. Erinnert eher an ein Kissen als an einen Kranz, macht aber nichts. Links außen wartet die Kranzdelegation - Vertreter des Senats, der Bundeswehr, des Bundesgrenzschutzes, Militärattachés der Nachfolgestaaten der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten, Österreich, Polen, Ungarn, Frankreich und des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Dazwischen haben sich vereinzelt Sicherheitsbeamte in Zivil postiert. Jenseits der Kordel, auf dem abendkühlen Rasen, stehen die Besucher: Witwen, Altgediente, Anwohner, Schaulustige.
Rechts und in der Mitte hat man freien Blick auf die Kranzdelegation, links kann man bis auf Tuchfühlung an sie herantreten und die Nackenhaare der Abgesandten studieren. Angesichts der vier güldenen Sterne auf der rotgeränderten Schulterklappe des Generalinspekteurs der Bundeswehr Wolfgang Schneiderhan geraten einzelne Herren in Verzückung.
Auf jüngere Zuschauer wirken die Fackelträger, das Musikcorps und die strammen Rekruten teilweise befremdlich. Optisch erinnert die Veranstaltung mehr oder weniger unfreiwillig an Rituale aus dem Dritten Reich - verbal jedoch grenzt man sich von solchen Vorbildern ab. Insbesondere die Bundesregierung legt großen Wert auf eindeutige Gesten. So nimmt der Generalinspekteur der Bundeswehr nicht nur an dieser Zeremonie, sondern seit 1995 auch an einer Gedenkveranstaltung auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin teil. Trotzdem will sich das Unbehagen nicht ganz vertreiben lassen, schließlich stoßen die Aktivitäten (vgl. Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge) des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge nicht überall auf Gegenliebe.
Stilles Zentrum des Geschehens ist das Mahnmal mit dem Silberkranz für die Toten der beiden Weltkriege. Ein nach vorne einsehbarer Kubus, in dessen Mitte ein Kranz aus Silber, Gold und Platin auf einem Granitblock thront. Ab 1931 erinnerte dieser Kranz in der Neuen Wache an die Gefallenen des (Ersten) Weltkriegs, bis er 1948 von Unbekannten entwendet wurde. Erst 1960 tauchte der Kranz wieder auf: in einem bei der Gepäckaufbewahrungsstelle des Bahnhofs Zoo deponierten Koffer. Den Aufbewahrungsschein hatte der West-Berliner Senat von unbekannter Seite zugeschickt bekommen. In dem Koffer befanden sich 177 der ursprünglich 235 Blätter, die von ihrem Schöpfer, dem Bildhauer Ludwig Gies für echt befunden und in einen neuen Kranz eingearbeitet wurden. Da die Neue Wache auf Ostberliner Boden stand, errichtete man auf dem Friedhof Lilienthalstraße jenen Kubus für den Silberkranz, der 1966, am Vorabend des Volkstrauertages, feierlich eingeweiht wurde. Ursprünglich war geplant, den Silberkranz im Falle der Wiedervereinigung zurückzuverlegen in die Neue Wache; dieser Plan wurde jedoch verworfen. Zwar ist die Neue Wache seit 1993 die zentrale Gedenkstätte für Berlin und Deutschland, der Kranz jedoch befindet sich nach wie vor in Neukölln.
Nicht unpassend, schließlich ist die Gegend rings um den Südstern ein einziger Knochengarten. Insbesondere die Anwohner der Lilienthalstraße sind von Friedhöfen und Institutionen des rituellen Totengedenkens umzingelt: Zur Straßenseite hin blicken sie auf die Apostolische Nuntiatur, auf die St. Johannes Basilika (Berlins größte katholische Kirche) und auf das steinerne Friedhofsportal. Auf Höhe des Portals macht die Lilienthalstraße einen Knick nach rechts, um sich kurz darauf zu gabeln. Linker Hand verwandelt sich die Lilienthalstraße in einen Sandweg und folgt dem Verlauf der Friedhofsmauer. Geht man auf dem sandigen Teil der Lilienthalstraße weiter geradeaus, landet man alsbald am Columbiadamm, am äußersten Zipfel des Garnisonsfriedhof von 1861, auf dessen Gelände seit 1866 auch der Mohammedanische Friedhof angesiedelt ist. Bleibt man bei der Gabelung auf der gepflasterten Straße, die von da an Züllichauer Straße heißt, fährt man an einer schier endlosen Mauer entlang.
Diese Mauer ist die Rückseite einer ganzen Reihe von Kirchhöfen, die bis an die Rückseiten der Häuser an der Lilienthalstraße reichen. Hier liegen unter anderem der ehemalige Reichsaußenminister Gustav Stresemann, der Architekt Martin Gropius, der Historiker Theodor Mommsen, der Maler Adolph von Menzel und der Dichter Ludwig Tieck begraben. Betrachtet man die Gegend auf dem Stadtplan, bilden die Wohnhäuser der Lilienthalstraße einen winzigen braunen Keil inmitten einer grünen Friedhofslandschaft. Erweitert man den Blick, wird außerdem klar, dass ganz Berlin nichts anderes ist als eine Stadt der Toten. Egal, ob man sich die Übersichtskarte des Berliner Senats über Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft oder die Übersichtskarte über Friedhöfe ansieht.