Die Türkei im Vorfeld der Wahlen: Erdogans Kampf um die Macht

Im Ausland lebende Türken sind wichtige Zielgruppe des Präsidenten: Sie spüren kaum Folgen des schlechten Krisenmanagements. Geflüchtete werden am Wählen gehindert. (Teil 2 und Schluss)

Der Wahlkampf des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und der Regierungspartei AKP verläuft bisher überraschend leise. In der Öffentlichkeit gibt Erdogan plötzlich Fehler im Krisenmanagement nach der Erdbebenkatastrophe vom 6. Februar zu, und "erlaubt" Finnland den Beitritt zur Nato. Aber im Hintergrund läuft sein Machtapparat auf Hochtouren, um ihm zum Wahlsieg zu verhelfen. Dieser reicht bis nach Europa. Verschiedene europäische Staaten und Institutionen leisten indirekte Wahlkampfhilfe.

Wahlvolk zwischen Gefolgschaft und Sehnsucht nach Modernität

Die türkische Gesellschaft ist mittlerweile tief gespalten. In den Metropolen dominiert fast überall die Opposition. Die türkische Elite und die Mittelschicht sind eher westlich orientiert. Viele Akademiker, Künstler, Journalisten und Regierungskritiker haben der Türkei den Rücken gekehrt.

Deutschland verzeichnet derzeit den stärksten Zustrom von Geflüchteten aus der Türkei: Nach Angaben der Bundespolizeidirektion München hat deren Zahl von Januar bis September 2022 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 254 Prozent zugenommen.

Vor allem junge Menschen sehen in der Türkei für sich keine Zukunft mehr. Aber auch Menschen aus dem Erdbebengebiet, die ihr Hab und Gut verloren haben, werden sich auf den Weg nach Europa machen. Angesichts der desaströsen Finanzpolitik der AKP-Regierung gibt die verbliebene türkische Mittelschicht lieber heute ihr Einkommen aus, als morgen mitanzusehen, wie die Inflation ihre Ersparnisse auffrisst.

Die Inflation wird momentan offiziell mit 55 Prozent angegeben, liegt aber vermutlich viel höher. Die regierungsunabhängige Forschungsgruppe Enag kommt gar auf 127 Prozent Inflation. Im Januar 2023 hatte die AKP-Regierung den Mindestlohn um 55 Prozent auf 8.507 türkische Lira angehoben. Nach Berechnungen des türkischen Gewerkschaftsbundes Türk-Is liegt die Hungergrenze – der Betrag, den eine vierköpfige Familie allein für die nötigsten Lebensmittel benötigt – bei 9.591 Lira.

Da helfen auch die Wahlkampfgeschenke wie die sofortige Rente nach 20 Jahren Beitragszahlungen nicht. Wo das Geld dafür herkommen soll, ist unklar. Regierungsunabhängige Experten warnen vor immensen strukturellen Defiziten in den Rentenkassen. Denn auch in der Türkei geht die Geburtenrate zurück. Ökonomen werfen die Frage auf, ob die Türkei es sich volkswirtschaftlich leisten kann, dass immer weniger Menschen arbeiten. Schon jetzt liegt die Erwerbstätigenquote der über 15-Jährigen nur bei 43,5 Prozent. In Deutschland sind es fast 60 Prozent, obwohl die Menschen hier im Durchschnitt länger zur Schule gehen.

Das islamisch-traditionelle Zentralanatolien und die Auslandstürken sind für Erdogan die wichtigsten Wählergruppen, auf die er setzt. Die gleichgeschalteten Medien spielen dabei eine große Rolle. In großen Teilen dieser Wählergruppe laufen die TV-Geräte vom Frühstücksfernsehen bis zum späten Abend. Berichtet wird in staatsnahen türkischen Medien mehr über Abschlüsse von hunderten Koranschülern als über das Leid von Millionen Erdbebenopfern.

Der politische Islam hat längst die Fundamente der Demokratie unterspült. In den gleichgeschalteten Medien wird der Bevölkerung eine brave, gläubige muslimische Bevölkerung präsentiert, die den Frauen Tipps zur korrekten islamischen Kleidung und Verhaltensregeln im Umgang mit Männern gibt, sowie islamisch korrekte Kochrezepte anbietet und Werbung für soziale Angebote islamischer Organisationen schaltet.

Als Schreckensbild wird dagegen eine böse Welt präsentiert, die der Westen in das Land trägt: Frauen ohne Kopftuch, die LGBTI*-Bewegung, die Ökologiebewegung, Menschenrechtsorganisationen, Organisationen von ethnischen und religiösen Minderheiten, linke demokratische Parteien. Vom einstigen säkularen Staat, also von der Trennung von Staat und Kirche, ist nichts mehr übrig. Die Islamisierung durchzieht mittlerweile alle Institutionen.

Die staatliche Religionsbehörde Diyanet, die auch die Freitagsgebete in den Moscheen Deutschlands bestimmt, ist mit einem großzügigen Etat ausgestattet und bestimmt die Bildungsinhalte an den Schulen und Universitäten in der Türkei mit. Damit hat sich Erdogan und die AKP in den letzten 20 Jahren sein Wahlvolk herangezogen. Es sei erinnert an die Aussage Erdogans im Jahr 1997: "Die Demokratie ist nur der Zug auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind, die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten."

Das trifft heute mehr denn je zu, wird aber von den europäischen Politikern wegen der geostrategischen Bedeutung der Türkei ignoriert. Interessant ist, dass nach Ansicht politischer Analysten die AKP ihre Zustimmung bei den konservativen Frauen, die bisher eine ihrer Stützen waren, verlieren könnte. Die AKP war traditionell die beliebteste Partei bei den weiblichen Wählern.

Rasim Sisman, der Vorsitzende der Stiftung für Soziale Demokratie, sagte gegenüber dem Portal Al-Monitor, "dass eine Umfrage unter 1.067 Frauen ergab, dass nur 68,7 Prozent derjenigen, die bei den Wahlen 2018 für die Regierungspartei gestimmt haben, wahrscheinlich wieder für die Partei stimmen werden. Der Bericht wurde in Zusammenarbeit mit der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung und Panaliz Polling and Research Company erstellt."

Die Umfrage von ALF im Januar zeigt, dass die AKP – inzwischen an zweiter Stelle (26,5 Prozent) hinter der CHP (29,2 Prozent) liegt, und zwar noch vor dem umstrittenen Bündnis der AKP mit zwei islamistischen Parteien mit frauenfeindlicher Agenda im vergangenen Monat. Vor allem junge muslimischen Frauen sind mit den Ansichten der AKP zu Familie und Mutterschaft nicht einverstanden. Der Austritt aus der Istanbul- Konvention zum Schutz der Frauen gegen häusliche Gewalt brachte bei den Frauen das Fass zum Überlaufen.

AKP-Wahlkampf an der Diaspora

Die Vorbereitungen zur Türkei-Wahl laufen auch in Deutschland auf Hochtouren. Ca. 1,4 Millionen Menschen können an der Wahl teilnehmen. Die Regierungspartei AKP hat dafür eigens ein "AKP Auslands-Wahlen Koordinationszentrum" (Türkisch: Ak Parti Yurtdisi Secim Koordinasyon Merkezi) gegründet.

Die Organisation übernimmt dafür in Deutschland hauptsächlich die AKP-Lobbyorganisation UID ("Union of International Democrats). Geleitet wird das Zentrum vom AKP-Abgeordneten Muhammed Fatih Toprak, der in Deutschland aufgewachsen ist In Deutschland verfügt die AKP über eine stabile Mehrheit innerhalb der türkischen Community.

"AKP-nahe Milieus leben in Deutschland überproportional", sagt Yunus Ulusoy von der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung, laut einem Bericht des Münchner Merkur. "2018 war der Zuspruch für Erdogan mit 64,8 Prozent höher als in der gesamten Türkei (52,6 Prozent)." Das Ringen um türkische Wählerstimmen in der Diaspora findet hauptsächlich unangemeldet in den Moscheen statt. Dabei hatte das Auswärtige Amt im Januar klargestellt: Ausländischer Wahlkampf muss angemeldet werden.

Von Juli 2021 bis Ende 2022 hat es nach Angaben der UID Hunderte "gemeinsame Veranstaltungen" mit Moscheevereinen gegeben. Die meisten davon entfallen mit 679 Veranstaltungen auf die Ditib und 420 IGMG ("Milli Görüs"). Das regionale Wahlkampfteam der AKP bezeichnete die IGMG-Gemeinde in Aalen als ihr Wahlkampfzentrum. Der IGMG-Gemeindevorsitzende Mustafa Demirtas nahm deshalb an einer Strategiesitzung des Wahlkampfteams teil. Der IGMG-Vorsitzende Kemal Ergün nahm Ende März an einem Treffen mit Erdogan und dessen Vize Fuat Oktay teil

Die IGMG präsentiert sich in der Öffentlichkeit gerne als in Deutschland verortete, politisch unabhängige Religionsgemeinschaft. Sie wird trotz ihrer direkten Verbindungen zur türkischen Religionsbehörde Diyanet ebenso wie der Dachverband DITIB von deutschen Institutionen, Parteien und Verwaltungen finanziell unterstützt. IGMG und DITIB sind die Träger des sogenannten politischen Islams, welche die türkische Politik der Islamisierung in Deutschland umsetzen.

Beide sind von der türkischen Religions-Behörde Diyanet abhängig und beziehen ihre Imame von dort. Selbst wenn sie es wollten, wäre es unmöglich, sich von der Erdogan-Regierung loszusagen. "Die Verbandsführung der türkischen Moscheeverbände will oder kann die Instrumentalisierung ihrer Gemeinden nicht verhindern", schreibt die Frankfurter Rundschau.

Im Januar kam es zu einem Eklat zwischen Deutschland und der Türkei, weil der AKP-Abgeordnete Mustafa Acikgöz in einer Moschee der Grauen Wölfe in Neuss gegen Kurden und Anhänger der Gülen-Bewegung hetzte. Das Auswärtige Amt bestellte daraufhin den türkischen Botschafter ein und erklärte, dass Hass und Hetze keinen Platz in Deutschland haben und ausländischer Wahlkampf in Deutschland angemeldet werden muss.

Auch der türkisch-nationalistische Verband ATIB macht in Deutschland Wahlkampf für die AKP. ATIB gehört dem Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZDM) an und ist die größte Mitgliedsorganisation des Zentralrats der Muslime. Nach der Rüge des Auswärtigen Amtes findet der Wahlkampf heimlich, von der deutschen Öffentlichkeit unbeachtet, in Moscheen, auf Konzerten oder bei anderen Veranstaltungen statt. Das berichtet der Journalist Güvercin ausführlich in einem Interview mit der Welt.

Der aggressiv-nationalistische Wahlkampf von Erdogan stößt nach Güvercin kurioserweise in Deutschland auf besonders fruchtbaren Boden: "Das Regierungsversagen nach der Erdbebenkatastrophe, die hohe Inflation und die Aushöhlung des Rechtsstaats und der Demokratie lassen die Erdogan-Wähler in Deutschland kalt", betont er.

"Sie wähnen sich auf einer heiligen Mission und sind überzeugt, dass die Türkei unter der Führung des Autokraten Erdogan auf dem Weg ist, eine Weltmacht zu werden. Europa und "der Westen" werden als Feind gesehen, der die aufstrebende neue Weltmacht Türkei wieder in Ketten legen will. Die Parallelen zu Putins Russland sind erschreckend."

Trotz der großen AKP-Wählerschaft in Deutschland scheint die türkische Regierung Angst vor der hier ebenfalls aktiven Opposition zu haben: Der Bayerische Rundfunk berichtete unlängst, dass kurdische Geflüchtete aus der Türkei in den türkischen Konsulaten in München und Köln daran gehindert wurden, sich im Wählerverzeichnis registrieren zu lassen. "Kurdische Geflüchtete, die für die kommenden Präsidentschaftswahlen gesetzlich wahlberechtigt sind, werden in dem türkischen Konsulat in München rechtswidrig abgewiesen, um sich hier im Wählerverzeichnis umzumelden", beklagte Azad Yusuf Bingöl, Mitglied im Münchner Migrationsbeirat.

In einer Stellungnahme des Generalkonsulats der Republik Türkei heißt es: "Um die Einträge in der Wahlliste zu aktualisieren und sich in die Auslandswahllisten einzutragen, wird ein gültiger türkischer Lichtbildausweis im Original benötigt. Jeder Antrag, bei dem ein türkischer amtlicher Lichtbildausweis vorgewiesen wurde, wurde auch bearbeitet. Darüber hinaus wurden auch Anträge mit Ausweisdokumenten, die dieselben Kriterien wie der Lichtbildausweis erfüllen (z.B. türkische Führerscheine) akzeptiert."

Dabei weiß das türkische Konsulat, dass Geflüchtete keine Pässe besitzen. Viele sind ohne Pässe in die Bundesrepublik Deutschland eingereist oder haben sie bei der Asylanmeldung abgegeben. Professor Burak Çopur, Politikwissenschaftler und Türkei-Experte befürchtet, dass ein Teil der türkischen Staatsbürger nicht von seinem Wahlrecht Gebrauch macht, weil sie Angst haben, die diplomatische Vertretung ihres Herkunftslandes zu betreten.

"Insbesondere politische Aktivisten - zum Beispiel Kurden und Anhänger der Gülen-Bewegung, die Erdogan für den Putschversuch im Jahr 2016 verantwortlich macht - müssten "damit rechnen, dass sie dort bespitzelt oder persönlich angegangen werden können", so der Politikwissenschaftler."

Repressionen und Manipulationen zur Wahl in der Türkei vergangene Woche wurde das Istanbuler Büro der oppositionellen CHP, die Teil des "Sechser-Tisches" ist und den Präsidentschaftskandidaten des Bündnisses stellt, mehrere Male beschossen Ende März war auch das Istanbuler Büro der Vorsitzenden der rechten Iyi-Partei, Meral Aksener beschossen. "Erdogan hatte kürzlich in ihre Richtung gesagt, sie solle ihn nicht dazu bringen, sich mit ihr anzulegen…", daher sieht Akşener einen Zusammenhang zu dem Anschlag. Je die Wahlen am 14. Mai rücken, umso mehr nehmen die Spannungen zu.