Die Vereinigten Staaten des Organisierten Verbrechens
Seite 2: Verrat und Bedauern
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You charge, with a gun. With a knife, you run.
Jimmy Hoffa; in: "The Irishman"
Dies ist die Adaption eines 15 Jahre alten Sachbuchs ("I Heard You Paint Houses" von Charles Brandt) über Frank Sheeran, einem Mann, der die Schnittstelle zwischen der Mafia und der mafiös unterwanderten amerikanischen Fernfahrergewerkschaft bildete. Diese war seit Mitte der 1950er Jahre für zwei Jahrzehnte mit dem Namen von Jimmy Hoffa verbunden, eines legendären Gewerkschaftspräsidenten, der die Regierenden in Washington offen herausfordere, besonders den demokratischen Justizminister Robert Kennedy, der erfolglos versuchte, ihm das Handwerk zu legen.
Hoffa, der im Kino bereits mehrfach verkörpert wurde, unter anderem von Jack Nicholson (1992 in einem Biopic, das von David Mamet geschrieben und von Danny DeVito inszeniert wurde), wurde zu einem Medienhelden. "Er war wie Elvis", heißt es im Film, "in den 60ern war er größer als die Beatles."
Aber 1975 verschwand Hoffa spurlos, 1982 wurde er für tot erklärt - ein aufregender, bis heute rätselhafter Fall. Bei Frank Sheeran handelt es sich nun um jenen Mann, der sich selbst des Mordes an Hoffa bezichtigte. Der Film erzählt auch diese Geschichte. So weit, so gut. Und so erwartbar. In der letzten Stunde des Films ändert sich die Perspektive aber komplett. Da wird aus dem Film ein bewegendes Portrait über das Altern, über Verrat und über Bedauern. Das Ende enthüllt die Wahrheit über Anfang und Mitte davor.
Dieser Film ist ein Ereignis! Auch weil er ein neuer Meilenstein der digitalen Technologie und ihrer Fähigkeit zu Bildermanipulation bedeutet. Denn alle Figuren altern oder verjüngen sich hier mit vor allem technischer Unterstützung über Jahrzehnte.
"The Irishman" versammelt zwei der größten lebenden Star des amerikanischen Kinos: Robert de Niro (als Frank Sheeran) und Al Pacino (als Jimmy Hoffa) überhaupt erst zum zweiten Mal in ihrer Karriere im gleichen Film.
Vor allem aber ist dies ein Parcours durch die vergangenen 70 Jahre US-amerikanischer Geschichte, durch jenen Teil des amerikanischen Jahrhunderts, in dem Macht und Geld, Politik und Verbrechen fast ununterscheidbar miteinander verschlungen waren. Ein Jahrhundert, in dem sich alle idealistischen Hoffnungen, die mit ihm - gerade auch in Amerika! - verbunden waren, zerschlugen.
In "The Irishman" zieht Martin Scorsese Bilanz. Er zeigt eine Handvoll jener "alten weißen Männer", von denen derzeit so viel und gern und oft verächtlich geredet wird, und er zeigt, wie sie alle, ob sie nun den Film überleben oder eben in den meisten Fällen nicht, letztendlich Gescheiterte sind. Der Regisseur bilanziert aber auch das eigene Lebenswerk: Was war das alles? Wofür? Wozu war es gut? Dieser Film ist ein "Requiem", eine Totenmesse von Scorseses Hand.
"Never put a fish in your car"
Das Amerika, das am Ende von Scorseses Reise durch das zunehmend zerklüftete Amerika steht, ist das von Donald Trump. Rassenspannungen nehmen zu, der Rassismus steigt.
Der Zeitpunkt, an dem der Film herauskommt, passt auch perfekt zum Beginn der Anhörungen zum Impeachment-Verfahren gegen Donald Trump. Man hört sehr oft in diesem Film, wie ein Mann einen anderen um einen Gefallen bittet. "Favor" ist ein stehender Begriff im Jargon der Mafia. Aber es klingt anders, seit der US-Präsident einen anderen telefonisch um einen "Favor" bittet.
Auch wenn Scorsese, der in diesen Tagen 77 Jahre alt wird, bestimmt noch einige Filme in sich trägt: Man kann "The Irishman" nicht anders als als sein Vermächtnis deuten.
Er ist eine Rückkehr zu Scorseses Ursprüngen. Und zu einigen seiner besten Filme. Dies ist in seinem Anspruch, aber auch stilistisch und handwerklich Scorsese bester Film seit über 20 Jahren, seit "Casino" und "Goodfellas".
Ein herausragendes Filmwerk, das das Kino mit seiner großen Leinwand unbedingt verdient. Auf einem kleineren Bildschirm, egal was für einem, sollte man ihn nicht sehen. Da verpasst man zuviel.