Die Welt des Internet ist klein: 24163 Email-Ketten können nicht irren
Oder doch?
Seit mehreren Jahren arbeiten Soziologen von der Columbia Universität an einem mathematischen Problem, das wohl erstmals in den Endzwanzigern des vorigen Jahrhundert aufkam (vgl. Das Orakel des Usama Bin Ladin). Damals schrieb der ungarische Dichter und Satiriker Frigyes Karinthy eine Kurzgeschichte, in der er behauptete, alle Menschen würden durch fünfmaliges Händeschütteln miteinander bekannt. So zumindest beschreibt es Albert-Laszlo Barabasi von der University of Notre Dame, in Notre Dame, Indiana, denn die Geschichte ist weder in der deutschen noch in englischer Übersetzung zu haben.
Von der Idee, die ein bisschen an "alle Menschen werden Brüder" erinnert, geht unweigerlich Faszination aus. Weil wir im Zeitalter der Globalisierung leben, dessen Lebensfluss nicht durch Kuriere aufrecht erhalten wird, sondern dank der weltüberspannenden Kommunikation "in time" erfolgt, sollte das Prinzip der Kleinen Welt endlich beweisbar sein. So hofften die Arbeitsgruppe von Duncan J.Watts von der Columbia Universität samt Befürworter des National Institute of Sciences und legten vor gut 5 Jahren eine Untersuchung auf, deren Ergebnisse unlängst in Science veröffentlicht wurden.
Der Aufwand war enorm. Von nahezu 100.000 Aspiranten wählten die Forscher 61184 Personen aus 166 Ländern aus und forderten sie auf, über ihren persönlichen Kontakt 18 Zielpersonen, die sich auf 13 Länder verteilten, anzuschreiben. Die Mitwirkenden sollten Emails an Personen schicken, von denen sie glaubten, dass sie den Zielpersonen irgendwie, etwa räumlich oder durch weitere Beziehungen "näher" waren, und so fort. Nach Abschluss der Studie konnten die Soziologen 24163 Ketten festmachen und auswerten. Aus der vorgelegten statistisch aufgebesserten Analyse schließen sie, dass es nur 5-7 Kontaktpersonen braucht bis eine Zielperson erreicht ist. Der Wermutstropfen ist, dass nur 384 Ketten bis zum Ziel vordrangen. Zudem sind 24163 auswertbare Ketten wenig im Vergleich zum theoretischen Ansatz, der sich auf 18 mal 61184 (ca. 1,1 Millionen) hätte belaufen sollen.
Dessen ungeachtet glauben die Wissenschaftler, ihr Feldversuch bestätige die Ergebnisse des amerikanischen Sozialpsychologen Stanley Milgram. Der schickte 1967 etwa 300 Pakete an zufällig ausgewählte Leute in Kansas und Nebraska mit der Bitte, das Paket über jeweils Bekannte an eine Person in Massachusetts zurückbringen zu lassen. Stanley Milgram kam auf durchschnittlich 6 Kontakte und führte so das Small World Problem unter der Bezeichnung "six degrees of separation" in die Wissenschaft ein. 1990 ergriff der Gedanke von der engen Nachbarschaft der Menschen die Popkultur durch ein Lied von John Guare.
Bei erneuter Durchsicht der MilgramŽschen Unterlagen in Yale verschlug es Judith S. Kleinfeld von der Universität in Alaska Fairbanks allerdings die Sprache. Milgrams Hypothese war spektakulär, nicht aber wissenschaftlich solide: Nur 5 Prozent der damals verschickten Pakete kamen wirklich zurück. Die Forscherin stieß zudem auf unveröffentlichte Protokolle, die darauf hinweisen, dass in ähnlichen Untersuchungen nicht nur lange Rückläufe, sondern auch soziale Gemeinsamkeiten oder Unterschiede den Weg fördern oder hemmen. Stanley Milgram, so Judith S. Kleinfeld, lehnte damals jede mathematische Behandlung des Small World Problems ab, was im Hinblick auf das dürftige Material verständlich ist. Tatsächlich lagen Stanley Milgram die Untersuchungen von Ithiel de Sola Pool (Massachusetts Institute of Technology) und Manfred Kochen (Mathematiker bei IBM) vor, die bei ihren theoretischen Überlegungen von durchschnittlich drei Knotenpunkten oder Kontakten ausgingen.
Was uns heute selbstverständlich ist, nämlich mächtige unsichtbare Netze, die politische Grenzen und Kontinente überschreiten, war vor 30 und mehr Jahren vielfach Vision. Inzwischen gibt es Netzwerktheoretiker, die über die Wechselwirkungen von Knotenpunkten und deren Verbindungen nicht nur nachdenken, sondern auch mögliche Szenarien simulieren.
Hinsichtlich des Small World Problems gilt eine unverzichtbare Voraussetzung, nämlich die zufällige Verteilung der Personen. Wer auf 100 Bekannte zählen kann, von denen jeder wiederum 100 Freunde hat, schätzt die statistische Wahrscheinlichkeit eines Treffens bequem ab: 100/Zahl der Weltbevölkerung. Ferner gilt, dass die Anzahl von Freunden, die ein Einzelner erreichen kann, exponentiell zunimmt, nämlich in n Schritten um 100 hoch n. Leider ist der schöne Gedankengang bloße Theorie. In der Realität sind viele der 100 Freunde miteinander bekannt, womit die Voraussetzung der Zufälligkeit durch eine Verteilungsfunktion korrigiert werden muss. Das bestätigt auch die Studie der Arbeitsgruppe von Duncan J.Watts.
Danach waren 2/3 der Kontaktpersonen Freunde und weitere 10 Prozent Angehörige. Wie kommt es zu den Freundschaften? Schule/Universität und Arbeitsplatz machen zu gleichen Teilen insgesamt 50 Prozent aus, der Familienkontakt (enge oder fernere Verwandte) weitere 19 Prozent. Ferner ist der Email-Mikrokosmos aus technischen Gründen inhomogen, weil die Kommunikationsschiene, nämlich das World Wide Web, in Europa und Nordamerika dicht gewebt ist, in Afrika hingegen große Lücken aufweist. So vermisst denn auch der Soziologe Mark Granvetter von der Stanford Universität in seinem begleitenden Kommentar in Science die Antwort auf wichtige Fragen: welche Kettenlänge und welche Knoten sagen etwas über die sozialen Beziehungen aus? Was wissen die Personen über das Netzwerk, in welcher Weise benutzen sie es zu ihrem Vorteil - etwa bei der Jobsuche?
Im Unterschied zur amerikanischen Arbeitsgruppe differenziert Albert-Laszlo Barabasi von der Universität Notre Dame zwischen homogenen Netzwerken und dem inhomogenen "scale-free network". Zu den homogenen Netzwerken zählt der Wissenschaftler das Modell von Erdös und Rényi sowie das Small World Modell, das in der jetzigen Variante von Watts und Strogatz entwickelt wurde. Die beiden homogenen Netzwerke haben exponentiellen Charakter, und jeder Knoten besitzt annähernd dieselbe Anzahl von Links. Das Internet und andere Kommunikationsnetzwerke sind hingegen "scale-free", und da technischen Ursprungs auch wirklich messbar.
Für Internetseiten fanden Albert-Laszlo Barabasi und Mitarbeiter heraus, dass jede Seite 19 Klicks entfernt ist. "Scale-free" Netzwerke sind, wie Albert-Laszlo Barabasi in seinem Buch "Linked. The New Science of Networks." ausführt, indes nicht nur technisch realisiert, sondern beherrschen ebenso biologische Vorgänge (Zellwachstum, Krebs). Der Grund: sie sind äußerst tolerant gegenüber zufälligen Fehlern. Dieses Plus geht allerdings zulasten systematischer Einflüsse. Wer es bewusst auf Störung anlegt und Knoten abschneidet, erzeugt überraschend schnell eine Segmentierung, die kaskadenförmig zum kompletten Ausfall führen kann. Für Albert-Laszlo Barabasi ist der Dominoeffekt beim Blackout in New York der sichtbare Beweis für die systemimmanente enge Verzahnung des "scale-free" Netzwerkes. In einem Editorial für die New York Times führt er aus, dass ähnliche Ereignisse immer wieder auftreten werden, solange die "Interconnection" über Tausende von Generatoren und Abertausende von Leitungskilometern bestehen bleibt.
"Das soziale Netzwerk ist niemals "scale-free"," argumentiert dagegen Duncan J.Watts. Es gibt keinen Hub, und die Zahl von Freunden ist natürlicherweise begrenzt, weil die Zeit nicht ausreicht, alle Menschen kennen zu lernen. Statt dessen findet Gruppenbildung statt, die wiederum verschiedene Hierarchien und soziale Dimensionen schafft. "Der experimentelle Ansatz, der die empirisch gefundene Netzwerkstruktur aufgedeckt hat, kann nur im Licht von Aktionen, Strategien und individuellen Empfindungen bewertet werden. Die Netzwerkstruktur alleine ist nicht alles." Das Eingeständnis lässt ungeklärt, ob die Sache mit den sechs Ecken die Regel, oder wegen der 384 erfolgreichen Ketten statt der erwarteten 1,1 Millionen Ketten eher die Ausnahme bleibt.
Möglicherweise ist es der menschliche Faktor, an dem der reale Beweis des Small World Modells wiederholt scheitert. Es ist schon etwas Wahres an der Erfahrung: fern von Zuhause findet man im Wechselspiel des zufälligen Gesprächs völlig unerwartet heraus, dass man einen gemeinsamen Bekannten hat. Andererseits trifft das Versprechen, man könne über die eigenen Beziehungen reich werden, selten zu. In Nordamerika gibt es täglich Tausende von Parties, zu denen Nachbarschaft und Freunde eingeladen werden, um Produkte wie Plastikgeschirr, Kosmetika oder gar Verträge mit Telekommunikationsanbietern feilzubieten. Der finanzielle Anreiz für Hausfrau oder Hausmann ist nicht nur der momentane Umsatz, sondern der spätere Profit, weil sie beteiligt sind, wenn die neu Geworbenen ihrerseits verkaufen. In Wirklichkeit, so sagt die Statistik, bleibt für das kleine Rädchen das große Geld aus.