Die Welt steht Kopf
Die wohl wichtigste Erfahrung der Corona-Krise ist, dass die Politik handlungsfähig und ein Anders möglich ist - Ein Kommentar
Wäre man jetzt Globalisierungskritiker oder Klimaaktivist, man wüsste nicht, ob man sich freuen oder weinen sollte. All das wofür man jahrzehntelang vergebens gekämpft hätte, all das, was immer für unmöglich gehalten würde, ist plötzlich möglich. Und warum? Weil ein winziges Ding von sich reden machte. Ein Ding von dem man sich nicht einmal sicher ist, ob es ein Lebewesen ist, oder nicht. Schließlich besitzen Viren weder eine eigenständige Replikation noch einen eigenen Stoffwechsel und sind deshalb auf den Stoffwechsel einer Wirtszelle angewiesen. Daher sind sich Virologen weitgehend darüber einig, dass Viren nicht zu den Lebewesen zu rechnen sind. Aber dennoch kann man sie zumindest als "dem Leben nahestehend" betrachten, denn sie besitzen allgemein die Fähigkeit zur Replikation und Evolution - so liest man auf Wikipedia.
Dieses wunderliche Ding - das irgendwie Lebewesen ist und irgendwie auch nicht - hat unsere Welt auf dem Kopf gestellt: Die Freiheiten des Einzelnen wie auch die des Warenverkehrs werden in einem Maße beschnitten, wie man es sich noch vor drei Monaten niemals hätte vorstellen können. Infolge dessen bleiben Flugzeuge am Boden, die Champions League wird ausgesetzt, Grenzen werden dicht gemacht, die Aktienkurse schwanken in einem Ausmaß, dass einem Hören und Sehen vergeht und Virologen werden zu Celebrities.
Gleichzeitig liest man von Visionen einer Welt nach dem Virus, die unterschiedlicher nicht sein können: So beschreibt beispielsweise der ewige Zukunftsdeuter Matthias Horx eine entschleunigte Gesellschaft, eine Wirtschaft in welcher der Wert der regionalen Produktion wieder eine größere Wertschätzung erfährt. Kurz eine Welt, die progressive Denker seit Jahren unter dem Begriff der Postwachstumsgesellschaft beschreiben. Der aus Israel stammende Bestsellerautor Yuval Noah Harari hat bereits früh auf die Gefahr hingewiesen, dass die Maßnahmen, die im Katastrophenfall gerechtfertigt schienen (Stichwort Überwachung) zur neuen Normalität werden. Doch damit genug. Das Magazin POLITICO hat gleich einen ganzen Blumenstrauß an Visionen einer Welt nach Corona zusammengestellt, der vom Wiedererstarken des Glaubens, über eine höhere Glaubwürdigkeit der Wissenschaften, bis hin zu einer Stärkung des sozialen Zusammenhalts reicht - Sie sehen es ist für jeden etwas dabei.
Die Welt steht Kopf und wir selbst liegen drunter. Mag man meinen. Doch während die einen noch ums Überleben kämpfen - viele Selbstständige und Einzelhändler, Eltern die ihre Kinder betreuen müssen etc. -, schlagen andere aus der unerwarteten Situation Profit. Discounter, die billig Blumen einkaufen, weil die kleinen Blumenläden nicht geöffnet haben dürfen und diese an diejenigen verkaufen, die jetzt unverhofft Zeit haben, ihre Gärten zu bepflanzen; IT-Unternehmen, die aufgrund der Situation im Rahmen von Solidaritätsaktionen Produkte an den Mann und die Frau bringen, welche diese nach der Krise hoffentlich weiternutzen - und dann regulär bezahlen sollen; andere findige Unternehmen, die Atemschutzmasken (Trigema), Corona-Schnelltests (BOSCH) oder Beatmungsgeräte (SEAT) herstellen und so Presseberichterstattung bekommen, die sie sonst Millionen an Marketingausgaben kosten würden.
Hat man nicht auch bei der Finanzkrise gedacht, dass sich etwas ändern würde?
Was also ist dran an der Behauptung, dass die Welt nach Corona eine andere sein wird? Wie so oft ist auch hier jeder Versuch der Deutung nicht mehr als ein Stochern im Nebel. Wahrscheinlich wird vieles so weitergehen wie bisher. Vielleicht werden auch viele nach der Krise erst einmal doppelt so schnell rennen wie zuvor - gilt es doch viel nachzuholen, gilt es doch die Delle im BIP so schnell als möglich wieder auszubügeln. Nein, es wird sich vordergründig nicht ändern. Allein schon, weil man sich auf breiter Front nicht vorstellen kann, wie eine andere Gesellschaft, wie eine andere Wirtschaft funktionieren könnte.
Und doch wird diese Erfahrung nicht mehr aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen sein - zu tief hat diese Zeit in unser aller Leben eingegriffen, als dass man so tun könne, als wäre nichts gewesen. Die wohl wichtigste Erfahrung ist, dass die Politik handlungsfähig ist. Dass die Politik, wenn sie nur will, wenn der öffentliche Druck nur hoch genug ist, plötzlich Maßnahmen beschließen kann, die der neoliberalen Erfahrung von über dreißig Jahren diametral entgegenstehen.
Müssen wir also verzweifeln, wenn nach der Krise die Maschinen wieder Fahrt aufnehmen? Auf diese Frage würde ich mit einem klaren Jein antworten. Denn wenn die neoliberale Geschichte eines gezeigt hat, dann dass dieses System erstaunlich gut mit Krisen umgehen kann. Hat man nicht auch bei der Finanzkrise gedacht, dass sich etwas ändern würde? Stattdessen hat sich seitdem die Konzentration von Einkommen, Vermögen und Macht nur weiter verschärft, der Ausstoß von CO2 ist konstant gestiegen und die Verwüstung land- und forstwirtschaftliche nutzbarer Flächen ist weiter vorangeschritten - um nur zwei Aspekte zu nennen.
Und dennoch besteht Anlass zur Hoffnung, dass wir erkennen, dass die Welt nicht erst seit Auftreten dieses dem Leben nahestehenden Ding Kopf steht. Und das wir einen grundsätzlichen Wandel in unserer Denkweise brauchen, um das bewahren zu können, was gut war - denn nicht alles ist schlecht. Genau hier liegt die Hoffnung, denn wenn uns die Geschichte eines gelehrt hat, dann dass Paradigmenwechsel in den seltensten Fällen plötzlich geschehen. Wie sollen Personen, die ihr Leben lang nach einem gewissen Muster gelebt haben, von einem Tag auf den anderen ihre Gewohnheiten und ihr Wertsystem ändern?
Vielmehr sterben alte Paradigmen aus, weil jüngere Personen zu einem Zeitpunkt Erfahrungen machen, die sie nachhaltig prägen. Vielleicht wird eine jüngere Generation durch die soeben gemachte Erfahrung es ganz selbstverständlich finden, dass ein Anders möglich ist. Ein Anders hinsichtlich dessen, was uns jahrzehntelang als Normalität verkauft wurde. Wie sich dieses Anders nun genau ausprägen wird, das kann zum derzeitigen Zeitpunkt keiner sagen, denn das wird von uns abhängen. Das wird davon abhängen, was jede und jeder Einzelne aus der Erfahrung macht, dass ein Anders möglich ist.
Wenn diese Erfahrung dazu geführt hat, dass wir ein stückweit die Angst vor dem Anderen verloren haben, weil wir ein paar Wochen das Andere erlebt haben, dann wird uns das die Gewissheit geben, dass das Ende der Welt, wie wir sie kennen, nicht das Ende der Welt sein wird. Und wir werden mutiger die ersten Schritte ins Unbekannte gehen. Wir werden plötzlich neue Wege erahnen, wo andere mit ihrem alten Weltbild und ihren alten Instrumenten noch nicht einmal einen Trampelpfad ausmachen.
Wolfram Bernhardt war als Corporate Finance Berater tätig und Herausgeber des philosophischen Wirtschaftsmagazins agora42, seit September 2019 ist er Bürgermeister der Stadt Adelsheim.
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