Die Westbindung Deutschlands soll erhalten werden

Dem sicherheitspolitischen Establishment sind die Deutschen immer noch zu pazifistisch

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Die Welt hat sich in jüngster Zeit ziemlich verändert, das ist längst ein Allgemeinplatz: Donald Trump ist US-Präsident, in Syrien tobt der Krieg, die Briten verlassen die EU. Was heißt das für die deutsche Politik, wie darauf reagieren? Ein Manifest und eine Studie sind dazu kürzlich erschienen und beide Dokumente geben vor allem Einblick in die Denkweise des sicherheitspolitischen Establishments in Deutschland.

"Trotz alledem: Amerika"

Das Manifest mit dem Titel "Trotz alledem: Amerika" hat es bis in die New York Times geschafft. "Deutsche Außenpolitik-Experten warnen vor Anti-Amerikanismus", titelte die Zeitung. Es sei eine Botschaft an alle, die meinen, Trump zeige das wahre Gesicht Amerikas und Deutschland und Frankreich sollten sich von Amerika abwenden, zitiert die Zeitung Jan Techau von der American Academy, einen der Unterzeichner. In Deutschland wurde es in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung "Die Zeit" veröffentlicht.

Die Unterzeichner sind in der sicherheitspolitischen Elite keine Unbekannten, sondern die üblichen Verdächtigen: Neben Jan Techau unter anderem Thomas Kleine-Brockhoff vom German Marshall Fund of the United States, Ralf Fücks, grüner Realo und lange Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung. Weitere Unterzeichner kommen unter anderem vom American Jewish Committee, der Stiftung Neue Verantwortung, der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Aspen Institute Deutschland.

Exkurs: Das Vermächtnis von Sylke Tempel

Eins jedoch ist an diesem Manifest ungewöhnlich: Unterzeichnet ist es noch von Sylke Tempel von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, die kürzlich unter tragischen Umständen ums Leben kam. Die Chefredakteurin der Zeitschrift "Internationale Politik" war auf dem Rückweg von einer Veranstaltung mit Außenminister Sigmar Gabriel, als sie am 5. Oktober in Berlin von einem Baum erschlagen wurde, den der Orkan Xavier umgeworfen hatte.

Der Springer-Verlag, so transatlantisch wie Tempel selbst, machte daraus übrigens die geschmacklose Schlagzeile: "Nach Termin mit Außenminister: Gabriel-Freundin von Baum erschlagen". Es hätte viele Möglichkeiten gegeben, den einem Massenpublikum kaum bekannten Namen einzuführen: Politik-Expertin, Journalistin, Autorin, Publizistin, zur Not auch Talkshow-Expertin. Doch die Bild-Redaktion machte aus Sylke Tempel, eine der wenigen Frauen in der sicherheitspolitischen Community, posthum Gabriels Mädchen. Und das nur, weil Tempel vor ihrem Unfalltod auf einer Veranstaltung mit dem SPD-Politiker war. Inhaltlich hatten die beiden wenig gemeinsam.

Keine Abkopplung von Amerika

Die "Zeit" sieht in dem Manifest deshalb zurecht auch das Vermächtnis von Sylke Tempel. Die Vereinigten Staaten fallen unter Präsident Trump als "entschiedener Verfechter der liberalen Ordnung" weg, heißt es dort. Aber auch wenn Trump "ein Präsident sui generis, der sich in keine der etablierten Traditionslinien amerikanischer Politik einordnet", sei, dürfe das auf keinen Fall zur Folge haben, dass sich Deutschland außen- und sicherheitspolitisch von Amerika trennt.

Ein deutsch-französisches "Kleineuropa", deutscher Nationalismus, eine Äquidistanz zwischen den USA und Russland, Anlehnung an China oder Russland - solche Vorstellungen seien "kostspielig oder gefährlich oder beides": "Wer sich von den Vereinigten Staaten abkoppeln möchte, bringt Unsicherheit über Deutschland und letztlich über ganz Europa."

Letztlich würde damit "eine der wichtigsten politisch-kulturellen Errungenschaften der vergangenen 70 Jahre" infrage gestellt, nämlich die Westbindung Deutschlands. Die zu erhalten, sei heute im "ureigenen Interesse Deutschlands". "Jede Abkehr von dieser transatlantischen Bindung beschwört die Gefahr eines deutschen Sonderweges, stärkt linke und rechte Nationalisten und gefährdet die europäische Friedensordnung."

Elemente einer deutschen Amerika-Strategie

Die Bundesregierung brauche deswegen erstmals eine eigene Amerika-Strategie, fordert das Manifest, um die vier, vielleicht sogar acht Jahre mit Präsident Trump zu überstehen. "Eine verantwortliche Amerika-Politik muss langfristig angelegt sein und eine Brücke bauen in eine Zeit jenseits der Präsidentschaft Trump". Konkret fordert das Manifest:

"Kerninteressen aktiv zu vertreten, Konflikte zu moderieren, unrealistische Ambitionen zu vermeiden und so eine Brücke in eine bessere Zukunft der transatlantischen Beziehungen zu bauen."

Das bedeute:

  • Gemeinsamkeiten mit den USA suchen und ausbauen, wo es sie gibt. Nicht nur der Präsident, sondern auch andere Akteure "im Regierungsapparat, in den Parlamenten, in den Bundesstaaten, in der Zivilgesellschaft und in der Wirtschaft" müssten dafür angesprochen werden.
  • Wo es Meinungsverschiedenheiten gibt, könne es nötig sein, "in einen begrenzten Konflikt einzutreten oder - umgekehrt - eine unhaltbar gewordene Position zu korrigieren".
  • Konfliktmanagement: Differenzen mit der Regierung Trump sollten im langfristigen Interesse nicht eskalieren, sondern müssten eingehegt werden.

TTIP in den Winterschlaf schicken

An einigen Beispielen macht das Manifest deutlich, was das im Konkreten bedeutet. So solle man das transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP), das die Autoren befürworten, am besten in einen "Winterschlaf" schicken. Denn hier würden Kerninteressen von Trumps populistischem Wahlprogramm berührt. Ein Kampf sei also aussichtslos und berge die Gefahr, dass das ganze Projekt scheitert. Auch in der internationalen Flüchtlingspolitik und der Klimapolitik seien gemeinsame Fortschritte mit Trump nicht denkbar, deshalb solle sich Deutschland da lieber zurückhalten, denn: "Notwendige Kritik darf nicht in Rechthaberei umschlagen."

Anders sei es in der Sicherheitspolitik. Deutschland habe ein Interesse am Fortbestand der NATO. "Deutschland sollte deshalb den Ruf nach fairer Lastenverteilung innerhalb des Bündnisses ernst nehmen." Das Manifest plädiert ganz offen dafür, die von den USA geforderten zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts der NATO einfach widerspruchslos zu bezahlen: "Deutschland hat zugesagt, seine Verteidigungsausgaben zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes anzunähern. Deutschland sollte Wort halten."

Doch das reicht den Autoren bei weitem nicht: Sie fordern "ein weiteres Prozent des Bruttoinlandsprodukt" für "Entwicklungszusammenarbeit, internationale Polizeieinsätze, Uno-Missionen, Konfliktpräventionen und Diplomatie". Dass damit der deutsche Verteidigungsetat in unglaubliche Höhen schießen würde und wer das bezahlen soll, dazu schweigen sich die Autoren lieber aus. Nichts Neues also aus dem Lager der Transatlantiker.

Europas Freunde für Deutschlands Rüstungsindustrie

In dieselbe Kerbe haut auch eine Studie der Denkfabrik "Friends of Europe". Deutschland müsse "aus dem Schatten der Vergangenheit treten und mehr Verantwortung für die Verteidigung Europas und seiner selbst übernehmen" und "Über den eigenen Schatten springen", wie der Titel der Studie lautet. Verfasst hat sie Paul Taylor, ein ehemaliger Reuters-Korrespondent und Kommentator beim Onlinemagazin Politico.

Taylors Studie ist bereits die zweite ihrer Art. Im April war die erste über Frankreich erschienen. Damals sah Taylor immerhin mehrere Optionen, wie sich Frankreich sicherheitspolitisch aufstellen konnte: Möglich ist alles zwischen Alleingängen und enger Zusammenarbeit mit Deutschland, der EU und der NATO.

Für Deutschland sieht Taylor dagegen nur eine Option: "Deutschland muss endlich aus dem Schatten seiner Nazi-Vergangenheit heraustreten und seinen Teil der Verantwortung für die internationale Sicherheit übernehmen", forderte er in einer Kurzfassung für Politico. "Drei Generationen nachdem Hitlers Armeen Terror über Europa brachten, haben die Deutschen zu viel ökonomische und politische Macht angehäuft, um sich hinter ihrer verständlichen Aversion gegen alles Militärische zu verstecken."

Auch Taylor fordert deshalb zwei Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung. Die Bundeswehr sei seit dem Ende des Kalten Krieges von 500.000 auf 177.000 Soldaten geschrumpft und auch technisch veraltet: "Ein Vierteljahrhundert des Sparens hat die Streitkräfte ausgezehrt. Alarmierend viele deutsche Kampfflugzeuge und Hubschrauber können nicht fliegen und Kriegsschiffe können nicht auslaufen. Sie wurden nicht gewartet, es fehlen Ersatzteile und Techniker."

Für Militäreinsätze und Rüstungsexporte

Deutschland sei heute Europas größte Wirtschaft und zugleich sein militärisch schwächstes Glied. Vor allem der Parlamentsvorbehalt bei Einsätzen der Bundeswehr ist Taylor ein Dorn im Auge: Es gelte, die "psychologischen und rechtlichen Handschellen" zu lösen, die Einsätze des Bundeswehr heute verhinderten:

"Für Deutschland besteht die Herausforderung darin, über den Schatten seiner Vergangenheit zu springen, eine echte strategische Kultur zu entwickeln, eine aussagekräftigere Außenpolitik zu betreiben und brauchbarere Streitkräfte aufzubauen, die mit entsprechender Ausbildung und Ausrüstung bei Bedarf schnell einsetzbar sind."

Außerdem redet Taylor offen der Rüstungsindustrie das Wort, einschließlich Waffenexporten, und kritisiert Sigmar Gabriel, der als SPD-Wirtschaftsminister Rüstungsexport moralisch bewertet habe:

"Deutschland hat die Anwendung seiner Waffenexportregeln so stark verschärft, dass es nicht nur seine eigene Rüstungsindustrie benachteiligt, sondern das Land zu einem unzuverlässigen Partner für die europäische Rüstungszusammenarbeit gemacht hat. Damit hat es sich selbst in den Fuß geschossen."

Denn damit sei die internationale Kooperation in der Rüstungsindustrie unmöglich: Unternehmen würden nicht in Entwicklung und Herstellung von Waffen investieren, wenn sie nicht sicher sein könnten, dass sie diese dann auch international verkaufen könnten.

Schuld ist die Bevölkerung

Veränderungen in der deutschen Sicherheitspolitik seien leider schwierig, denn Meinungsumfragen in Deutschland zeigten, dass die Bevölkerung zwar Stabilisierungseinsätze und Ausbildungsmissionen der Bundeswehr wie in Afghanistan und Mali unterstütze. Kampfeinsätzen stünden die Deutschen aber ablehnend gegenüber, klagt Taylor. Ständig "plapperten" sie: "Es gibt keine militärische Lösung."

Deswegen könnten viele "aktivere Verteidigungsmaßnahmen" in Deutschland gar nicht namentlich genannt werden, klagt er weiter, sondern würden in Euphemismen gepackt. Da hat Taylor sogar Recht, er nennt als Beispiel für solche Schönfärberei: Friedenssicherung, Stabilisierung, Krisenmanagement, Bündnisfähigkeit, erhöhte Vorwärtspräsenz und auch Generalinspekteur - der sei nämlich in Wirklichkeit der Stabschef der Bundeswehr.

"Unter der politischen Elite herrscht weitgehend Konsens, die Sicherheitsausgaben zu erhöhen", befindet er in seiner Studie. Aber allgemein seien "militärische Tugenden (...) verpönt, ein pazifistischer Einschlag hält sich vor allem in der politischen Linken und der evangelischen Kirche". Selbst die SPD, die sich 1959 zwar im Godesberger Programm mit der Marktwirtschaft versöhnt habe, brauche "immer noch ein 'verteidigungspolitisches Godesberg'", behauptet er. Lobend erwähnt Taylor, dass die Grünen "ihre pazifistische Protesthaltung der 1980er Jahren größtenteils aufgegeben haben". Mit der Linkspartei beschäftigt er sich hier übrigens nicht, die ist für ihn wohl ohnehin ein hoffnungsloser Fall.

Wünsche der Elite

Interessant ist, wie Paul Taylor seine Studie erstellt hat. Sie basiert nämlich auf der Befragung von "mehr als 40 ausführlichen Interviews mit jetzigen und ehemaligen deutschen und europäischen Politikern und NATO-Personal, Abgeordneten, dienenden und pensionierten Offizieren, Strategen, Diplomaten und Führungskräften der Verteidigungsindustrie". Viele nennt Taylor namentlich und es sind wieder die üblichen Verdächtigen, die sich hier die Klinke in die Hand geben: Wolfgang Ischinger (Münchner Sicherheitskonferenz), Josef Joffe (Die Zeit), Karl-Heinz Kamp (Bundesakademie für Sicherheitspolitik) oder John Kornblum (Ex-US-Botschafter), um nur ein paar zu nennen.

Es sind also Wünsche der deutschen sicherheitspolitischen Elite, die Paul Taylor hier wiedergibt und mit der er sich einig weiß. Mit Daniela Schwarzer (DGAP) und Jan Techau sind sogar zwei Unterzeichner des Manifests wieder dabei. Mit Vertretern von Gewerkschaften, Kirchen, Parteien links der Mitte oder sozialen Bewegungen wollte Paul Taylor offensichtlich Kontakt weder aufnehmen noch haben.