Die Zunge des Pavians
Ist die menschliche Sprache sehr viel älter, als man bisher geglaubt hat?
Ganz plötzlich, vor 30- oder 40tausend Jahren, gibt es in der Menschheitsgeschchte einen Sprung, also einen "Great Leap Forward", und es entstehen Kultur, Schmuck, Waffen, Werkzeuge und Kunst. Warum? Die gewöhnliche Vermutung in der Wissenschaft lautete bisher immer: An diesem Punkt muss die menschliche Sprache entstanden sein. Wer Sprache besaß, war dem Sprachlosen überlegen. Als der moderne Mensch aus Afrika nach Europa kam, so hieß es, verschwand der Neandertaler. Der eine besaß Sprache, der andere nicht. Die Wissenschaft bemühte sich dann nur noch darum, diese These zu belegen.
Sprache, so hörte man dazu auch immer wieder, hinterlegt keine Fossilien. Man musste sich also an andere Beweismittel halten. Grabbeigaben, Ocker als Körperschmuck, Blumenkränze um den Kopf des Toten — solche Dinge deuteten auf Kommunikation, wahrscheinlich sprachlicher Art.
Ich dachte mir oft: die Fossilien sprechen aber doch eine klare Sprache. Wenn Gorillas vor sechs Millionen Jahren an den Ufern — den damals sehr viel weiter draußen liegenden Ufern — des heute geschrumpften Turkana-Sees lebten und genau so aussahen wie heute, dann besagt das doch eines sehr deutlich. Sie haben sich seitdem kaum verändert. Auch die Berg-Gorillas des Kongo sind nur haariger geworden, und wahrscheinlich noch muskulöser und fleischiger. Aber sie sind im Grunde die gleichen massiven Büffeltiere unter den Primaten geblieben, wie ihre Vorfahren.
Sie eignen sich vorzüglich für die menschliche Küche - und letzten Endes blieb ihnen bloß die Flucht in unzugängiges Gelände. Ins Gebirge. Im Naturhistorischen Museum in Wien befanden sich bis in die jüngste Vergangenheit ausgestopfte Exemplare in großen Glaskästen. Das Gorilla-Weibchen neben dem Schimpansenmännchen, in trauter Zweisamkeit. Man wusste es nicht besser, denn man kannte sie nicht — die scheuen Tiere hielten sich vom Menschen fern.
Auch die Schimpansen in Afrika, mochten sie nur wenige Kilometer von einander entfernt leben, waren, wie sich herausstellte, genetisch oft weiter von einander entfernt als der Homo sapiens und sein neandertaloider Cousin. Sie waren genetisch verschieden, aber untereinander zeugungsfähig. Sie hatten nur jeweils eine halbe Ewigkeit voneinander getrennt gelebt.
Der Bonobo oder "Zwergschimpanse" hatte nach zwei Millionen Jahren der Trennung von Schimpanse und Gorilla sehr wohl den aufrechten Gang erworben und eine hippie-ähnliche Form des Liebeslebens, aber den Zoologen blieb der Unterschied, rein optisch und überhaupt, lange Jahre zunächst einmal verborgen.
Einzig der Orang Utan war seit langem bekannt. Er lebte auf einer holländischen Kolonie, Indonesien, und wurde ein beliebtes Maskottchen der Seeleute.
Einer der ersten, der sich einen Orang hielt, war ein Captain Daniel Beeckman, ein Engländer, seinem holländisch klingenden Namen zum Trotz. Er traf 1712 in Borneo ein und 1714 veröffentlichte er darüber ein Buch, "Eine Reise hin und zurück zur Insel Borneo." Zum Thema Orang Utan schrieb er:
Ich kaufte mir einen, für sechs spanische Dollar. Er lebte bei mir sieben Monate lang, und starb dann aber an der Ruhr (einem blutigen Durchfall). Er war zu jung, um mir irgendwelche lästigen Streiche zu spielen, deswegen will ich Ihnen nur sagen, dass er ein großer Dieb war und hochprozentige Schnäpse liebte. Kaum drehte man ihm den Rücken zu, schon war er an der Punch-Schüssel, und oft machte er sich an der Brantweinkiste zu schaffen, nahm eine Flasche heraus, trank reichlich davon und tat sie dann sehr vorsichtig wieder an ihre Stelle. Er schlief auf der Seite liegend, ganz in der Haltung eines Menschen, mit der einen Hand unter dem Kopf. Er konnte nicht schwimmen, aber ich bin mir nicht sicher, ob man es ihm nicht doch hätte beibringen können.
( Captain Daniel Beeckman)
Seinen nächsten Auftritt in der Literatur hatte das possierliche Tierchen dann 1841, in der ersten modernen Detektivgeschichte, Edgar Allan Poes "Die Morde in der Rue Morgue." Der Mörder stellte sich später als Orang Utan heraus — allerdings ein voll erwachsenes Exemplar, weswegen seine übermenschlichen Kräfte als ganz besonders schrecklich erscheinen und mit der nüchternen, fast wissenschaftlichen Beschreibung der Untaten kontrastieren:
Das Zimmer war in einem chaotischen Zustand - das Mobiliar zertrümmert und in alle Richtungen wüst umhergeworfen. Nur eine einzige Bettstatt war zu sehen; und aus dieser war das Bettzeug herausgerissen und mitten auf den Fußboden geworfen worden. Auf einem Stuhl lag ein Rasiermesser, mit Blut beschmiert. Auf dem Feuerrost fanden sich zwei oder drei lange dicke Strähnen grauen Menschenhaars, blutbesudelt auch sie und allem Anschein nach mit den Wurzeln ausgerissen. Auf dem Fußboden fand man vier Napoleondors, einen Topasohrring, drei große Silberlöffel, drei kleinere aus Neusilber und zwei Beutel, die an die viertausend Franc in Gold enthielten. Die Schubladen einer Kommode, die in einer Ecke stand, waren aufgezogen und offensichtlich ausgeraubt worden, wiewohl noch viele Gegenstände darin verblieben waren. Einen kleinen eisernen Safe entdeckte man unter dem Bettzeug (nicht unter der Bettstatt). Er war offen, und der Schlüssel steckte noch im Schloß. Es war nichts weiter darin als ein paar alte Briefe und andere Papiere von geringer Bedeutung. Von Madame L'Espanaye fehlte jede Spur; da man aber eine ungewöhnliche Menge Ruß auf der Feuerstelle entdeckte, untersuchte "man den Rauchfang und zerrte (entsetzlich zu sagen!) die Leiche der Tochter, mit dem Kopf nach unten, daraus hervor, die in dieser Haltung ein beträchtliches Stück den engen Schacht hinaufgezwängt worden war. Der Körper war noch warm. Bei näherem Hinsehen entdeckte man zahlreiche Hautabschürfungen, die zweifellos von dem gewaltsamen Hinaufstoßen und Herausziehen herrührten. Auf dem Gesicht fanden sich viele schlimme Kratzwunden und auf dem Hals dunkle Quetschungen und tiefe Einschnitte von Fingernägeln, als sei die Verstorbene erdrosselt worden. Nach einer gründlichen Durchsuchung aller Teile des Hauses, die aber keinen weiteren Aufschluß brachte, begab sich die Gesellschaft in einen kleinen gepflasterten Hof hinter dem Gebäude, wo die Leiche der alten Dame lag, deren Hals fast völlig durchtrennt war, so daß bei dem Versuch, sie aufzuheben, der Kopf abfiel."
(Edgar Allan Poe)
Wunderbar grauslig. Man sieht förmlich, wie dem schriftstellerisch begabten schottischen Arzt Conan Doyle 50 Jahre später an dieser Stelle ein "Heureka!" über die Lippen kam und er seinen Detektiv Sherlock Holmes, voll entwickelt, wie Athene aus dem Kopf des Zeus, auf die Menschheit losließ.
Doyle, der Echtleben-Mediziner, lässt seinen Detektiv wirklich wie einen Arzt auftreten. Das wird umso deutlicher in den wenigen Geschichten, wo Sherlock Holmes selber einmal als Erzähler erscheint. Man meint binnen Sekunden, einen Text von Sigmund Freud zu lesen. Der eigentliche Geniestreich gebührt jedoch Poe, denn er besaß eine wirkliche wissenschaftliche Ader, und seine ganze faktoide Detailfreude entspringt einem naturwissenschaftlichen Wunsch nach Aufschlüsselung der Weltgeheimnisse. (Was nicht ausschließt, dass er die Beschreibung der Mordumstände vielleicht wirklich nur aus einem Zeitungsbericht von vorgestern entnahm.) Jedenfalls zitiert er dann aus der "Zeitung des nächsten Tages" die nachfolgenden Zeugenaussagen. Es sind genau diese Seiten — zu lang, um sie an dieser Stelle in voller Länge zu zitieren — die den klassischen Moment der Geburt des modernen Krimis einläuten. Aber es geht mir hier nicht um Poe, der auf alle Fälle der große Ingenieur der modernen Literatur war, Erfinder des Detektiv- und Sci-Fi-Genres, Techniker der Lyrik (er schrieb eine "technische" Analyse seines bekanntesten Gedichts, "Der Rabe") und natürlich war er auch so etwas wie ein Vorläufer der Psychoanalyse und des Surrealismus, der nicht zuletzt deswegen in André Bretons "Anthologie des Schwarzen Humors" zu finden ist. Relevant ist, wie geschickt Poe die stimmlichen Lautäußerungen seines Orang Utans in die Zeugenaussagen mit hinein verwoben hat. Alle Zeugen konnten den Täter nur hören, aber durch die geschlossene Tür natürlich nicht sehen; und, wie gesagt, die Geschichte spielt in Paris:
Isidore Musèt, Gendarm (…) hörte (…) zwei Stimmen in lautem und zornigem Wortwechsel - rauh die eine, die andere viel schriller - eine sehr merkwürdige Stimme. Konnte einige Wörter der ersteren unterscheiden, welche zu einem Franzosen gehörte. War überzeugt, daß es keine Frauenstimme war. Konnte die Wörter ›sacré‹ und ›diable‹ unterscheiden. Die schrille Stimme war die eines Ausländers. War sich nicht im klaren, ob es eine Männer- oder eine Frauenstimme war. Konnte nicht ausmachen, was gesagt wurde, glaubte aber, daß es Spanisch war.
"Henri Duval, ein Nachbar (…) Die schrille Stimme war nach Meinung dieses Zeugen die eines Italieners. War sicher, daß es kein Französisch war. War sich nicht klar darüber, ob es eine Männerstimme war. Es könnte auch eine Frauenstimme gewesen sein. Ist nicht vertraut mit der italienischen Sprache. Konnte die Wörter nicht ausmachen, war aber wegen des Tonfalls überzeugt, daß der Sprecher ein Italiener war. (… ) War sicher, daß die schrille Stimme keiner der beiden Verstorbenen gehörte.
Odenheimer, Restaurateur. Dieser Zeuge (…) Wurde, da er nicht Französisch spricht, durch einen Dolmetsch befragt. Stammt aus Amsterdam. Ging um die Zeit der Schreie am Haus vorüber. Sie dauerten etliche Minuten an - schätzungsweise zehn. Sie waren langgedehnt und laut - überaus schrecklich und beklemmend. (…) War sicher, daß die schrille Stimme die eines Mannes war - eines Franzosen. Konnte die ausgestoßenen Wörter nicht unterscheiden. Sie waren laut und hastig - abgerissen - offenbar in Furcht wie auch in Wut gesprochen. Die Stimme war krächzend - nicht so sehr schrill wie krächzend. Konnte sie nicht eigentlich eine schrille Stimme nennen. Die rauhe Stimme sagte wiederholt ›sacré‹, ›diable‹ und einmal ›mon Dieu‹.
William Bird, Schneider (…) Ist Engländer. Lebt seit zwei Jahren in Paris. (…) Die rauhe Stimme war die eines Franzosen. Konnte verschiedene Wörter ausmachen, kann sich aber nicht mehr an alle erinnern. Vernahm deutlich ›sacré‹ und —
(Edgar Allen Poe)
Na, und so weiter: Alle Zeugen vermeinen, eine menschliche Stimme zu hören, können sie aber keiner menschlichen Sprache zuordnen. Ob Poe selber in einem Zoo in Baltimore einem Orang Utan zugehört und dort seine Notizen gemacht hat? Ob er Zoobesucher nach ihren Eindrücken befragte, in welcher Sprache der indonesische "Waldmensch" sich wohl äußert?
Teil 2: Was der Affe spricht.
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